p-4ra-2KlinglerH. CohnRo. EislerWindelbandMüller-Freienfels     
 
WILLIAM STERN
Wertphilosophie
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"Mit Weltbewertung hat es die Wertphilosophie zu tun, mit Welterkenntnis die Wissenschaft. Ist es dieselbe  Welt,  die hier und dort dem Menschen zur Aufgabe wird? Und wenn ja, wie haben sich Werten und Erkennen in diese eine Welt zu teilen und über sie zu vereinbaren? Und wenn nicht, wie ist das Verhältnis der beiden  Welten  zueinander festzusetzen? Wie ist die Zerreißung des Seienden in eine Wertewelt und eine Erkenntniswelt, und die Zerreißung des Ich in ein wertendes und ein erkennendes zu verstehen - und zu ertragen? Das sind Fragen nicht nur von fundamentaler, sondern geradezu von tragischer Bedeutsamkeit. Seit Jahrtausenden bewegen sie die Menschheit in immer neuen Formen, bald zugespitzt zu gewissen Wertgebieten hin, z. B. als Konflikt zwischen Religion und Erkenntnis, zwischen sittlicher Freiheitsforderung und exakter Kausalitätsforderung, bald ganz allgemein empfunden als Widerstreit von Wissenschaft und Leben - es sind die Fragen, deren Beantwortung über die Möglichkeit einer geschlossenen Weltanschauung und eines einheitlichen Lebenssinns entscheidet."

"Der Dualismus ist nun nicht mehr der Dualismus zweier Welten, sondern wieder der zweier Prinzipien geworden, wie es früher der Geist-Stoff-Dualismus gewesen war. Nur daß diese Prinzipien selbst in einer anderen Ebene liegen als der Geist-Stoff-Gegensatz: ich habe sie als  Person  und  Sache  bezeichnet. Diese zwei Prinzipien lassen sich in ihrem Verhältnis zueinander positiv bestimmen und damit als zugehörig  zu ein und derselben einheitlichen Welt  verstehen. Wenn es möglich ist zu zeigen, daß ein bestimmtes Verhältnis des personalen zum sächlichen Prinzip sowohl innerhalb der Wissenschaft, wie innerhalb der Wertsphäre wie endlich in der Beziehung beider Sphären zueinander obwaltet, dann haben wir die Zweiweltentheorie hinter uns gelassen, dann ist der Weg zu einer wirklichen Weltanschauung frei."

"Schon die bloße Gegenüberstellung der Kategorien  Geist  und  Stoff  bedingt eine ganz bestimmte Orientierung innerhalb der Welttatsachen, die Schaffung von zwei Fächern, denen sich nun alles Bestehende einordnen soll. Warum gerade diese Grundscheidung und keine andere? Weil für die Welt selbst gerade der Gegensatz Geistig-Stofflich irgendwie als wesenhaft  geglaubt  wurde."

Erstes Kapitel
Die Wertphilosophie

Es gehört zu den bedeutendsten philosophischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte, daß im Wertbegriff eine zusammenfassende und beherrschende Kategorie gefunden worden ist für alle jene Gebiete, deren Wesen nicht durch bloßes Dasein, durch gleichgültige Tatsächlichkeit erschöpfbar ist. Was früher gesondert in Ethik, Ästhetik, Religions-, Staats-, Rechts-, Wirtschafts-, Kultur- und Geschichtsphilosophie behandelt wurde, ist jetzt dem großen Gesichtspunkt der Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit eingeordnet; es werden Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge sichtbar, die man früher nicht ahnte. Der gesamte Umkreis menschlicher Kultur fand hier seine Leitideen; und auch die Erkenntnisfunktion und ihr Erzeugnis, die Wissenschaft, wurde einbezogen in das Gebiet wertenden Verhaltens und geltender Werte.

Diese Philosophie der Werte oder "Axiologie" erhält ihre Stellung im System des Geisteslebens durch eine dreifache Beziehung: zur menschlichen Lebensgestaltung, zur wissenschaftlichen Erfassung der Welt, zur Metapyhisik.


I. Lebensanschauung

Der Mensch in seiner ursprünglichen Lebendigkeit ist kein bloßer Betrachter und Theoretiker. Ihm ist seine eigene Person und alles, was ihn umgibt, nicht nur Gegenstand des Schauens und Denkens, sondern auch - ja vor allem - Zielpunkt des Wirkens und Schaffens. Die Welt ist ihm nicht nur Schauplatz, Wandelpanorama, Begriffssystem, sondern Heimat oder Kampfstätte. Er will sich in ihr zurechtfinden, mit ihr auseinandersetzen. Er fragt sich, was sie von ihm verlange, was er von ihr zu erwarten habe, was er in ihr bedeute und wohin sein Weg gehe. Als Antwort auf diese Fragen entsteht ein Inbegriff von Meinungen und Überzeugungen über Daseinssinn, Pflichten und Aufgaben, über Recht und Sitte, über Verzweiflung und Erlösung - kurz eine  Lebensanschauung.  (1)

Das Verlangen nach Lebensanschauung ist in jedem Menschen wirksam - auch abseits alles eigentlichen Philosophierens. Es ist elementarer als die andere - betrachtende, theoretische - Weise, sich zu Welt zu stellen. Lebensanschauung unterscheidet sich von dieser anderen Welterfasshung durch zwei Momente: sie ist bewußt  zentriert  um das Ich; und sie setzt sich unmittelbar um in die  Tat  der Lebensgestaltung.

Die Egozentrik gehört zum Wesen jeder Lebensanschauung, auch der selbstlosesten; sie ist auch jenen Lebensanschauungen eigen, die das Ich sozial einzuordnen, oder kosmisch zu verflüchtigen, oder religiös zu vergotten streben. Denn stets ist es doch ein Ich - das seine Stellung zu einem anderen Ich, zum All, zu Gott zu formulieren sucht, das für sich selbst aus eben dieser Lebensanschauung die Forderung der Selbstbehauptung oder Hingebung ableitet, das alle Probleme und Rätsel des Daseins eben in der Wucht erlebt, wie sie sich durch die Nähe oder den Abstand von ihm, dem Ich, aufdrängen.

Ein Bild: Der mathematische Raum erstreckt sich von jedem beliebigen Koordinaten-Nullpunkt aus gleichmäßig nach allen Dimensionen, und was ich von ihm aussage, muß von der beliebigen Wahl des Nullpunkts unabhängig sein; der Anschauungsraum aber, den ich erlebe, zentriert sich um "Mich" als den Mittelpunkt; Nah und Fern, Oben und Unten, ja auch Groß und Klein der Dinge ist durch das Verhältnis zu  mir  bedingt; und wohin ich gehe, überall trage ich den Mittelpunkt dieser meiner anschaulichen Raumwelt mit mir herum. Diese beiden Räume aber stehen nicht unabhängig voneinander da, bilden nicht zwei gegeneinander abgeschlossene Welten; sondern es gilt, den objektiven mathematischen Raum zu  projizieren  in den subjektiv zentrierten Anschauungsraum; und umgekehrt meinen Anschauungsraum einzuordnen in die allen gemeinsame Raumordnung der Welt.

Ganz so steht es mit dem Verhältnis der betrachtenden Welterfassung zur Lebensanschauung. Die Welterkenntnis ist - zumindest der  Absicht  nach - ich-fremd. Sie will sich nur auf diejenigen Funktionen objektivierenden Erkennens gründen, die die subjektive Ich-Bezogenheit ausschließen, so daß, wie beim mathematischen Raum, nur das gilt, was nicht durch die Wahl des Nullpunktes (Ich-Zentrums) bedingt ist. Die Lebensanschauung aber  projiziert  nun dieses unzensierte kosmische Weltbild in das Koordinatensystem des eigenen Ich und strebt andererseits, die subjektiven Ich-Erlebnisse und -Strebungen in Einklang zu bringen mit den objektiven Forderungen jenes allgemeinen Weltbildes.

Das zweite Merkmal jeder Lebensanschauung ist ihr  praktischer  Charakter. Sie ist Anschauung des  Lebens;  und sie würdei die Lebendigkeit des Lebens selbst vernichten, wollte sie beim bloßen "Anschauen", Auffassen, Hinnehmen stehenbleiben. Leben ist stets zugleich Schau und Tat, Empfangen und Wirken, Eindruck und Ausdruck - und so ist auch Lebensanschauung zugleich Anreiz zu lebendiger Tat oder besser zur  Lebensgestaltung.  Denn nicht auf die einzelne Tat im einzelnen Augenblick kommt es an; nicht das ist das Wesentliche der Lebensanschauung, daß sie mich jetzt zu dieser Handlung und morgen zu jener bewegt. Sondern wie sich die Anschauung auf das Ganze meines Daseins bezieht, so auch in ihrer praktischen Auswirkung auf das Ganze meines tätigen Verhaltens zu mir selbst und zur Welt. Nicht nur lauter Augenblicksimperative, sondern dauernde Richtungen des Strebens, Motive zur Arbeit an einer fortschreitenden Gesamtformung meines Ich und der mir zugänglichen Welt der Werte gehen von der Lebensanschauung aus. Sie ist dadurch umfassender als eine praktische Moral, welche theoretische Vorschriften und theoretische Bewertungen für bestimmte  Einzelhandlungen  aus allgemeinen abstrakten Prinzipien abzuleiten sucht. Zur gestaltenden Totalität der Lebensanschauung gehört das ästhetische und das religiöse, das wirtschaftliche und das politische Verhalten ebenso wie das im engeren Sinne ethische.

Die Lebensanschauung ist in ihren elementaren Formen noch philosophiefremd; aber sie enthält den Antrieb zum Philosophieren in sich. Sobald erst einmal das Bewußtsein beginnt, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, ruht es nicht eher, als bis es zu seiner höchsten und letzten Form, einer Philosophie der Werte und des Wertes, vorgedrungen ist. Wird erst an irgendeiner Stelle das Verhältnis des lebendigen tätigen Ich zur Welt problematisch, so entwickelt sich daraus mit Zwangsläufigkeit eine Problematik von umfassender Bedeutung; die einmal erweckte Reflexion schreitet auf den beiden Wegen der Selbstbesinnung und der Weltbesinnung vorwärts und nimmt jeden Widerspruch, auf den sie stößt, nur zum Anlaß, ihn durch neue Denkarbeit zu überwinden.

So ist die theoretischen Prinzipienlehre von den Werten, also die Axiologie, eine Erzeugnis dieses Verlangens nach Lebensanschauung. Aber zugleich ist damit ausgesprochen, daß jede Axiologie wesentlich mit Lebensanschauungsfragen verknüpft ist und bleibt. Sie kann vorübergehend die  Theorie  der Werte zu einem eigenen Betrachtungsgebiet verselbständigen. Aber wenn sie dann hierdurch eine höhere Warte des Augenblicks gewonnen hat, macht sich wieder unausweichlich das Verlangen geltend, die Theorie in Egozentrik und eine praktische Forderung umzusetzen: der theoretischen Wertlehre überbaut sich eine philosophische Wertweisheit:  Axiosophie. 

Die philosophische Axiologie unserer Tage zeigt im allgemeinen einen Scheu vor diesem Weiter gehen zur Axiosophie. In dem Bestreben, das neuentdeckte Gesamtgebiet der Werte und Wertbeziehungen einer philosophischen Erfassung zugänglich zu machen, glaubt man nur in einer a-praktischen Geisteshaltung die nötige Objektivität und Allseitigkeit wahren zu können. So behandelt man die Werte, die Normen, das Sollen als Gegenstände phänomenologischer Wesensschau, aber vermeidet die fordernde Stellungnahme zu ihnen; oder man betont ausdrücklich, daß Wertphilosophie nichts mit Wertprophetentum zu tun haben soll.

Aber kann diese Selbstbescheidung mehr als eine vorläufige sein? Von SOKRATES und PLATO bis KANT und NIETZSCHE haben die Wertphilosophen es sich nicht nehmen lassen, auch selbst zu  werten:  grundsätzlich zu werden, was sonst nur der Gelegenheits- und Zufallswertung unterlag, umzuwerten, was bisher in bestimmter Weise gewertet worden war, neue Wertrangordnungen fordernd aufzustellen. Die Welt der Werte ist eben, unbeschadet ihres objektiven Charakters, so unauflöslich mit dem Subjekt und seinem Lebenssinn verknüpft, daß jene Beziehung zwischen Wertphilosophie und Lebensweisheit nicht gelöst werden kann; ist doch das handelnde Ich selbst ein Wert, dessen Selbstverwirklichung unmittelbar in der Wertlehre verankert sein muß.

Und so wird auch dieses Buch die philosophische Begründung der  Lebens anschauung durch eine Verbindung von Axiologie und Axiosophie zu geben suchen.

Weit verwickelter aber ist die Beziehung der Wertphilosophie (2) nach der anderen, der Wissenschaftsseite hin; hier wird eine größere Ausführlichkeit nötig werden.


II. Wertphilosophie und Wissenschaft

Mit Weltbewertung hat es die Wertphilosophie zu tun, mit Welterkenntnis die Wissenschaft. Ist es dieselbe "Welt", die hier und dort dem Menschen zur Aufgabe wird? Und wenn ja, wie haben sich Werten und Erkennen (3) in diese eine Welt zu teilen und über sie zu vereinbaren? Und wenn nicht, wie ist das Verhältnis der beiden "Welten" zueinander festzusetzen? Wie ist die Zerreißung des Seienden in eine Wertewelt und eine Erkenntniswelt, und die Zerreißung des Ich in ein wertendes und ein erkennendes zu verstehen - und zu ertragen? Das sind Fragen nicht nur von fundamentaler, sondern geradezu von tragischer Bedeutsamkeit. Seit Jahrtausenden bewegen sie die Menschheit in immer neuen Formen, bald zugespitzt zu gewissen Wertgebieten hin, z. B. als Konflikt zwischen Religion und Erkenntnis, zwischen sittlicher Freiheitsforderung und exakter Kausalitätsforderung, bald ganz allgemein empfunden als Widerstreit von Wissenschaft und Leben - es sind die Fragen, deren Beantwortung über die Möglichkeit einer geschlossenen Weltanschauung und eines einheitlichen Lebenssinns entscheidet.

Wir überschauen die Haupttypen der Lösungsversuche: gegenseitige Unbekümmertheit, Unterwerfung des einen Gebietes unter das andere, Zweiweltentheorie, Zurückführung beider auf den gemeinsamen Boden einer metaphysischen Grundüberzeugung. Die beiden ersten Typen spalten sich nochmals, je nachdem sie vom Wertgebiet oder von der Wissenschaft ausgehen. Der letzte Typus stellt die Lösung dar, die den systematischen Betrachtungen dieses Buches zugrunde liegt.


1. Unbekümmertheit von seiten der Wertsphäre

Das Bedürfnis nach einem Bild des Lebens, das der tätigen Lebensgestaltung Leitlinien zieht, ist - so sahen wir - dem Menschen viel elementarer eingeboren als das Verlangen nach einer Erkenntnis der Welt in ihrer objektiven Gegebenheit. So kommt es, daß die Lebensanschauung oft selbständig auftritt, ohne Beziehung zu einer bestimmten Weltauffassung. Es gibt Religionen, in denen die sittlichen oder kultischen Forderungen an den Menschen so vorwiegen, daß die dogmatischen Lehren über Gott, Weltschöpfung und Weltregierung durchaus in den Hintergrund treten. Es gibt Philosophien, die bewußt den Begriff "Welt" auf Menschenwelt, Kulturwelt, moralische Welt einschränken, die das Fragen nach der kosmischen Welt und nach den objektiven Zusammenhängen von Natur und Geist, Kausalität und Zweck verbieten oder doch verachten und Philosophie lediglich als Umwertung von Werten und Wegweisung für das Leben ansehen. Man denke an SOKRATES, ROUSSEAU, NIETZSCHE, TOLSTOI und viele andere.

In der Gegenwart hat diese Unbekümmertheit zuweilen die Form der "Erlebnis"- oder "Lebens"-Philosophie angenommen. Ihre Vertreter wenden sich gegen den Intellektualismus, der sich in Wissenschaft und Zivilisation entwickelte und das Menschendasein immer seelenloser und mechanischer machte - oder vielmehr, sie wenden sich einfach von ihm ab und suchen auf anderen Wegen ihr Heil. Gerade die Anmaßung der intellektualistischen Bewegung, mit ihren unzulänglichen Mitteln - der Analyse, der Begriffsabgrenzung, der Technik, der Organisation, der Quantifikation - in die Tiefen des Lebens eindringen zu wollen, veranlaßt sie, sich in diese Tiefen zu retten und den Blick in die Höhe und in die Weite zu meiden. Nun mag die Wissenschaft ruhig die Dinge zerlegen und verkünsteln, nun mag eine theoretische Philosophie versuchen, das Ganze der Welt in den Schematismus verstandesmäßiger Kategorien einzufangen - sie bauen sich abseits davon ihre eigene Welt der Unmittelbarkeit und ungeteilten Lebendigkeit. In dieser soll nicht die Reflexion, sondern das Schauen, nicht die Organisation, sondern der Eros herrschen. Auch sie glauben Philosophen zu sein, vielleicht die echteren Philosophen; denn aus der eigenen Lebensfülle heraus meinen sie auch der kosmischen Lebensfülle und der Verwandtschaft alles Lebendigen schauend und ahnend näher zu sein als irgendein Wissenschaftler oder theoretisierender Philosoph.

Man muß anerkennen, daß eine solche Unbekümmertheit als geistige Haltung gerade in einer zeit der Über-Intellektualismus verständlich, ja sogar als Reaktion gegen ihn notwendig ist - nur für Philosophie soll sie sich nicht ausgeben! Denn die Verhaltensweise des Vogel Strauß ist doch zu primitiv, um zu einer philosophischen Weltanschauung zu führen. Welch hohe Bedeutung der Intuition gerade für die letzten Wert- und Lebensfragen zukommt, wird später ausführlich zu besprechen sein; aber es ist eine seltsame Selbsttäuschung, als ob ma mit bloßer Hingabe an die Unmittelbarkeit, unter Ausschaltung jeglicher intellektueller Arbeit überhaupt auch nur einen Schritt machen könnte. Auch in de "Lebensphilosophien" steckt viel Reflexion, muß eine solche stecken; denn sonst wäre sie eben "Leben", aber nicht Besinnung auf das Leben. Erkennt man aber überhaupt der denkenden Stellungnahme zur Welt irgendein Recht zu, dann geht es nicht an, diese gedankliche Tat in ein Exil zu verbannen und sein eigenes Gelände der Lebensanschauung rings mit Stacheldrahtverhauen zu umzäunen. Denn Gedanken überspringen alle künstlichen Grenzscheiden; sie greifen von der Lebensanschauung hinüber in die Welterkenntnis und von der erkenntnismäßig gefaßten Welt in die Lebensanschauung; und daß dieses engmaschige Netz von Beziehungen nicht durch einen willkürlichen Schnitt auf die Dauer zerstört werden kann, dafür sorgt schon der menschliche Drang nach einer einheitlichen Weltanschauung, der über die bloße Lebensgestaltungsproblematik hinaus will. So führt sich die Unbekümmertheit selbst ad absurdum.

Man kann den gleichen Gedanken auch in Bezug auf Spezialfragen ausführen. Der Mensch als Wertender und Handelnder ist in jedem Augenblick mit der objektiven Welt - auch der außermenschlichen und außermoralischen - so verknüpft und verschlungen, daß unsere Anschauungen über den Menschen und seine Leben ohne bestimmte Überzeugungen über die Welt, ihre Gesetze und Ziele, gar nicht bestimmbar sind. Wie kann man das menschliche Handeln mit seiner persönlichen Kausalität beurteilen und bewerten, ohne zur Frage der mechanischen (unpersönlichen) Naturkausalität Stellung zu nehmen? Wie die Zukunft der Menschheit optimistisch oder pessimistisch deuten, ohne die Entwicklungstheorie - zustimmend oder ablehnend - heranzuziehen? Wie die sozialen, nationalen, humanen Aufgaben des Individuums aufstellen, ohne über das Wesen von Gesellschaft und Staat, Volk und Menschheit wissenschaftlich begründete Einsicht zu haben? Wie die Stellung des Menschen zu Gott fassen, ohne sich zu fragen, ob im wissenschaftlichen Weltbild für eine teleologische Weltregierung Platz bleibt?


2. Unbekümmerthei von seiten der Wissenschaft

Unbekümmertheit um fremde Wertforderungen gehört in gewissem Sinne zum Wesen der Wissenschaft, sofern und solange sie Spezialwissenschaft ist. Hat sie erst einmal den Ausschnitt der Welt, den sie untersuchen will, abgesteckt und die Gesichtspunkte der Untersuchung, die Arbeitshypothesen, die Verfahrensweisen bereitgestellt, so fühlt sie sich in ihrem Umkreis durchaus autonom und erlaubt ebensowenig den Eingriff fremder Instanzen, wie sie selbst auf solche Rücksicht nimmt. Auch das Recht neuer Hypothesen, Methoden und Begriffe wird nur gemessen am Wert, den sie eben für die Probleme jenes Weltausschnitts gewinnen können. So hat z. B. der Physiker HEINRICH HERTZ den Versuch gemacht, mit dem Begriff von Raum, Zeit und Masse die Gesamtheit der unbelebtenn Naturvorgänge zu erklären - wobei die Probleme des Lebens, des Bewußtseins und der Kultur mit voller Absicht beiseite gelassen wurden.

Aber eine solche Unbekümmertheit ist eben nur solange möglich, als sich eine Spezialwissenschaft eng und strikt auf ihren Weltausschnitt beschränkt. Dieser Weltausschnitt ist jedoch ein Kunsterzeugnis; und ebenso sind Gesichtspunkte und Methoden der Forschung künstliche Isolierungen, die der endliche Geist des Menschen nötig hat, die er aber nicht verabsolutieren darf. Jede Spezialwissenschaft ist nur eine  Standpunktbetrachtung;  und der gewählte Standpunkt ist abhängig von der Problemlage, dem herausgeschnittenen Weltbruchstück und der vorgenommenen Auslese der Begriffe. Er wird in seiner Absolutheit bereits erschüttert, wenn eine Wissenschaft über ihre Sondergrenzen hinaus mit einer anderen Wissenschaft in Beziehung tritt; er wird vollends relativiert, wenn die Wissenschaften ihre Teilergebnisse und Gesichtspunkte einer philosophischen Welttheorie einzuordnen haben. Bei dieser aber entsteht das Unbekümmertheitsproblem von neuem: kann die allgemeine Welttheorie, wie sie sich aus der Synthese der Seinswissenschaften ergibt, unbekümmert bleiben um die Fragen der Wertsphäre? Sie kann es nicht: denn auch sie ist eine Standpunktsbetrachtung. Objektivierende Erkenntnis ist  ein  Standpunkt, der der Welt gegenüber eingenommen wird, Wertung ein anderer. Zumindest muß man sich über das  Verhältnis beider Standpunkte  klar werden, um die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer - beide in sich schließenden - Weltanschauung zu beantworten. Und so macht sich auch hier eine positive Feststellung über die Beziehung von Erkenntnis- und Wertsphäre notwendig. Als einfachste Lösung dieses Problems drängt sich zunächst die eindeutige Abhängigkeitsbeziehung des einen Gebiets vom anderen auf, die in beiden Richtungen behauptet werden kann.


3. Hegemonie der Wertsphäre

Historisch betrachtet ist die wissenschaftliche Welterkenntnis ein erst spät selbständig gewordenes Kind einer wertenden Stellungnahme zur Welt. In allen Mythologien, Religionen und Lebensanschauungssystemen waren Überzeugungen vom Sein der Welt enthalten, die ursprünglich in ihrem Inhalt durchaus von Wertgesichtspunkten durchzogen waren. Als nun diese Überzeugungen in der Form der Wissenschaft eigene Wege zu gehen und vom Mutterboden der Wertsphäre sich loszulösen begannen, hat diese immer wieder ihr Anrecht auf das Kind und ihre Herrschaftsgewalt über es geltend zu machen versucht. Der Intellekt als Quell wissenschaftlicher Erkenntnis wurde gering geachtet: aber man begnügte sich nicht mit jener Unbekümmertheit, wie wir sie bei der modernen Lebensphilosophie fanden, sondern viel häufiger suchte man den wissenschaftlichen Geist zu gängeln und zu tyrannisieren, wollte ihn zwingen, seinerseits die Überzeugung zu entwickeln, welche die Wertgebiete auf anderen Wegen - sei es auf den subjektiven der überrationalen Intuition, sei es auf dem objektiven der übernatürlichen Offenbarung - gewonnen zu haben glaubten.  Philosophie ancilla theologiae  [Philosophie als Magd der Theologie - wp] - diese mittelalterliche Formel spricht die beanspruchte Vorherrschaft der Wertsphäre gegenüber dem Erkennen am schärfsten aus; sie ist aber nur  ein  Ausdruck für jene mannigfaltigen Abhängigkeitsformen, die von allen möglichen Wertungsgesichtspunkten her und in den verschiedensten Formen der wissenschaftlichen Erkenntnis auferlegt werden sollten.

Sobald nämlich einmal die Wissenschaft nur als dienstwertiges Organ zur Unterstützung bestimmter Wertforderungen angesehen wird, gibt es keine Grenze und keine Auslese mehr in ihrer Knechtung. Nicht nur höchste und letzte Werte, wie die religiösen oder wie gewisse ethische Fundamentalgeltungen, forderten, daß die Wissenschaft ihnen ihre Erkenntnisse anpassen müsse, sondern jeder - noch so enge, noch so äußerliche, noch so vorübergehende - Wert konnte von fanatischen Vertretern zur gleichen Anmaßung benutzt werden. Prinzipiell bestand kein Unterschied dazwischen, ob Grundfragen der Religion und Lebensgestaltung, oder ob der gemeine Nutzen, ja vielleicht die Sonderinteressen irgendeiner Partei, einer Sekte, einer Standesgruppe (- denn auch diese Interessen sind Werte) von der Wissenschaft eine ihnen gemäße Theorie begehrten. Ist doch gerade gegenwärtig die letztgenannte Art der Abhängigkeit in einer Entwicklung begriffen, deren Gefahren für die Wissenschaft noch nicht voll eingesehen werden. Diese zwar nicht mehr Magd der Theologie wie im Mittelalter; aber sie ist auf dem Weg als "angewandte Wissenschaft" zur Magd der allgemeinen Wohlfahrtswerte, der wirtschaftlichen Werte, der technischen Werte gemacht zu werden. Und wenn jene Wertgebiete der wissenschaftlichen Erkenntnis auch einen weitgehenden äußeren Aufschwung ermöglichen, so verlangen sie dafür unter Umständen schwere Opfer; sie begnügen sich nicht nur mit der Stellung der Probleme, sondern greifen in die Substanz der Erkenntnis selbst ein, erwarten, daß gewisse Ergebnisse von der Wissenschaft erzielt, Überzeugungen vertreten, andere der Wertsphäre zuwiderlaufende Erkenntnisse verschwiegen oder gefärbt werden. Wie früher die Kirche Astronomen verfolgte, die mit der Vertretung des kopernikanischen Systems kirchliche Werte zu bedrohen schienen, so verfehmen heute wirtschaftliche oder politische Gruppen solche Nationalökonomen, Historiker oder Staatswissenschaftler, deren Denk- und Forschungsergebnisse ihnen unbequem sind.

Eine Wissenschaft, die sich solchen Ansprüchen unterwirft, treibt Selbstprostitution. Kein Wertstandpunkt hat - bloß deshalb weil er existiert - das Recht, der Erkenntnis Richtlinien vorzuschreiben, wie ihr konkreter Inhalt sein müsse. Wohl besteht ein positiver Einfluß der Wertsphäre auf die Wissenschaft, aber er bewegt sich nicht auf dem Gebiet der einzelnen Wertinhalte und einzelnen Wissenschaftsergebnisse, sondern in anderen - nämlich erkenntnistheoretischen und metaphysischen - Dimensionen, in die wir erst später vordringen werden.


4. Hegemonie der wissenschaftlichen Erkenntnis

Es gibt nichts in der Welt, das die Wissenschaft sich nicht zum Problem setzen und mit ihren Methoden bearbeiten könnte. Deshalb ist es zweifellos, daß die Wertfragen in ihrem ganzen Umfang zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gemacht werden können; und in der Tat sind die Einsichten, die wir durch diese wissenschaftliche Arbeit auf allen Wertgebieten gewonnen haben, von unabsehbarer Bedeutung.

Es ist aber eine ganz andere Frage, ob die Wissenschaft mit dieser ihrer Bearbeitung die Wertsphäre  konstituieren  und von sich aus herleiten kann, ja ob sie überhaupt imstande ist, dem eigentlichen Sinn aller Lebensanschauung: nämlich der Aufstellung  fordernder  Werte, gerecht zu werden. Diese Frage aber ist zu verneinen. Wissenschaft kann rational ableiten, was gedacht werden muß, phänomenologisch die evidenten Wesenszüge des Gegebenen aufzeigen, empirisch die Fülle des Tatsächlichen beschreiben, erklärend die obwaltenden ursächlichen und Zweckzusammenhänge aufdecken - aber nirgends führt von allen diesen wissenschaftlichen Leistungen irgendeine Brücke zum anderen Ufer: zur Anerkennung geltender Werte und zur Setzung normgebender Ideale. Immer wieder hat die Wissenschaft versucht, in der einen oder anderen Weise der Aufgabe zu genügen. Entweder sie verharrte auf ihrem Ufer der rein wissenschaftlichen Erkenntnis: dann blieb sie im  Feststellen  von Wert-Prinzipien und -Tatsachen stecken und verzichtete auf eine eigene Stellungnahme zu den Werten, d. h. auf eine Lebensanschauung, glaubte aber fälschlich, damit die Wertsphäre erschöpfend erfaßt zu haben. Oder aber sie versuchte doch die Brücke nach dem anderen Ufer zu schlagen, wurde selbst wertend und normativ - und merkte nicht, daß sie hierbei Wertungen bereits verschwiegenermaßen in ihre Voraussetzungen aufgenommen hatte, die sie doch erst mit ihren Methoden aus ihren Ergebnissen herauszuholen glaubte. Diese wissenschaftlichen Bearbeitungen des Wertproblems und die aus ihnen hervorgehenden Selbsttäuschungen müssen wir in ihren typischen Hauptformen besprechen; denn zu den so entstehenden Formen einer rein wissenschaftlich gemeinten Wertlehre hat die Wertphilosophie Stellung zu nehmen.

Wissenschaftliche Erkenntnis geht mit zwei Grundmethoden an alle ihre Objekte heran und so auch an die Werte, sofern sie zu Erkenntnisobjekten gemacht werden: mit einem apriorischen und einem empirischen Verfahren.

a)  Apriorische Methoden der Werterkenntnis.  - Die Voraussetzungen aller Erfahrung können nicht selbst aus der Erfahrung stammen. Sie wurzeln vielmehr in Fähigkeiten des erkennenden Subjekts, die gewiss notwendige und wesenhafte Einsichten vermitteln - sei es auf dem Weg denkenden Erarbeitens (Rationalismus), sei es auf dem Weg schauenden Erfassens (Phänomenologie).

Rationale Wertlehren sind versucht worden, solange es ein menschliches Philosophieren gibt. SOKRATES ging voran, eine unabsehbare Reihe folgte ihm. Immer wieder wurde dem Logos die Kraft zugeschrieben, das Ethos zu erzeugen; er sollte die Tugend lehrbar, die Gottheit beweisbar, das Schöne nach Verstandesregeln begreifbar und herstellbar machen. SPINOZAs  Ethica more geometrico demonstrata  ist schon im Titel, vielmehr aber noch im Inhalt einer der durchgeführtesten Versuche zu einer solchen rein aus dem Denken abzuleitenden Axiosophie.

Das Denkgebäude seines theoretischen Systems, das sich scheinbar auf gewissen rein der Erkenntnissphäre angehörigen Begriffen und Axiomen in streng logischer Geschlossenheit erhebt, ist gekrönt durch ein Lebensanschauungsideal, den  amor dei intellectualis,  der nicht nur logisch reduziert, sondern gepriesen und als Verhaltensweise des wahren Weisen gefordert wird. KANT scheidet zwar streng zwischen der theoretischen und der praktischen Vernunft; aber es ist doch eben "Vernunft", die im Praktischen allein bestimmend ist. Deshalb kennt er auch nur die rationale Methode, um die Gültigkeit des höchsten Forderungswertes abzuleiten. Ganz richtig stellt er zwar fest, daß eine solche Ableitung sich lediglich auf die allgemeine Form des Sittlichen beziehen könne; aber das Formprinzip wird ihm sofort zum  Norm  prinzip; in rein logischem Gewand tritt der kategorische Imperativ mit dem Anspruch auf, den Grundsatz einer sittlichen  Lebensanschauung  zu geben. -

Die moderne Phänomenologie hat eine andere Art des Apriorismus entwickelt, der vor allem bei SCHELER seine wertphilosophische Ausprägung erhalten hat. Er wendet sich dagegen, daß das Apriorische sich lediglich in Denkakten und daher im Erzeugen des rein Formalen erschöpft. Vielmehr gibt es eine materiale Apriorität, das unmittelbare Erfassen von Wesens gehalt  im Akt des reinen Anschauens. Deshalb reicht das wesenhaft Erfaßbare auch im Reich der Werte weit über das hinaus, was nur in begriffliche Regeln und logische Schemata zu bringen ist; abseits von rationalelr Geistesarbeit, unableitbar und unvermittelt - aber ebenso auch unabhängig von zufälliger Erfahrung - sind Wertverhalten, Wertbeziehung, Werteigenschaften und Wertrangordnungen im Schauen gegeben.

Es ist zweifellos, daß die phänomenologische Erfassungsweise den Umkreis dessen, was im Wertgebiet der apriorischen Erkenntnis zugänglich ist, gegenüber dem Rationalismus um ein Vielfaches erweitert hat. Aber damit ist doch für unsere grundsätzliche Frage nichts gewonnen. Denn ob rational oder phänomenologisch - beides sind  Erkenntnis arten und müssen deshal ihrem Wesen nach im  Feststellen  stehen bleiben. Denken und Schauen, so verschieden sie sein mögen, haben doch das Gemeinsame, daß sie kontemplativ,  a-praktisch  sind, daß sie das, was ihnen Objekt ist, nicht wiederum werten - oder anders ausgedrückt: daß der Wert in der Berührung mit ihnen seine Forderungsbedeutung für die Lebensanschauung verliert. Ein noch so bündiger rationaler Beweis, daß eine gewisse Verhaltensweise dem Begriff der Pflicht widerspricht, kann auf rein erkenntnismäßigem Weg niemals dazu führen, jenes Verhalten sittlich zu verwerfen oder zu verbieten. Hierzu wäre die Voraussetzung, daß die Pflicht nur als Begriff gedacht, sondern als schlechthinniger Selbstwert anerkannt wird; diese Anerkennung aber ist Sache eines grundlosen Glaubens- und Wertungsaktes, der vor aller Logik liegt und keiner Rationalisierung zugänglich ist. - Und die phänomenologische Feststellung, daß sich die Wertmodalitäten wesensnotwendig in eine Rangordnung gruppieren, hat keine Kraft, die Innehaltung dieser Rangordnung vom handelnden Ich zu fordern. Das Schauen des Sollens, und mag diese Schau bis in die Kernregionen des Tatbestandes "Sollen" dringen, ist nicht selber ein Sollen. - Kurz: die auf apriorische Erkenntnis allein sich gründende Axiologie führt nie und nirgends zur Axiosophie, kann also niemals konstitutiv sein für Lebensgestaltung und Weltanschauung in einem umfassenden Einheitssinn.

b)  Empirische Methoden der Werterkenntnis.  - Hier treten wir nun in das weite Gebiet der Sonderwissenschaften, die es mit der Tatsachenerforschung zu tun haben.

Daß diese Wissenschaften sich vom Wertgebiet in ihren Forschungsmethoden und Ergebnissen nicht tyrannisieren lassen dürfen, wurde oben besprochen. Wie steht es mit der umgekehrten Richtung des Einflusses? Ein solcher ist zweifellos in weitem Umfang vorhanden und gerechtfertigt. Aber er hat seine Grenzen und wird niemals bis zu einer "Verwissenschaftlichung" der Lebensanschauung führen können.

Da alle Werte an Wertträgern haften, Wertträger aber reale Tatbestände des Daseins sind, so ist hier für die empirische Forschung ein weites Angriffsfeld gegeben. Organismen, menschliche Individuen und Gemeinschaften, Natur und Kultur, körperliche und seelische Lebensvorgänge, materielle Erzeugnisse und geistige Strömungen - sie alle sind Substrate von Werten verschiedenster Art; sie sind zugleich Untersuchungsgegenstände mannigfaltiger Erfahrungswissenschaften. Was die Wissenschaft empirisch feststellt, muß demnach maßgebend sein für die Wertsphäre,  sofern  eben Werte an jene faktischen oder für faktisch gehaltenen Substrate geknüpft sind.

Hier hat die Wissenschaft die Aufgabe einer ständigen  Werteichung.  Sie prüft, ob die tatsächlichen Voraussetzungen, auf die sich spezielle inhaltliche Wertungen gründen, zutreffen oder vollständig sind; und sie kann, wenn diese Prüfung negativ ausfällt, eine "Umwertung" verlangen - nicht weil sie die Werte, sondern weil sie die vermeintlichen Tatsachengrundlagen der Werte mit ihren Methoden erschüttert und andere Tatsachengrundlagen liefert. Beides muß man scharf scheiden, um die richtige Abgrenzung solcher wissenschaftlichen Wertgleichungen zu treffen. Es ist kein empirisch wissenschaftlicher Befund denkbar, der religiöse Werte überhaupt aufheben könnte; wohl aber kann die religiöse Wertung der Geozentrik, also eine Überzeugung, welche die Mittelpunktstellung der Erde im All als  Tatsache  annimmt und an diese geglaubte Tatsache den weiteren Glauben einer auf Erde und Erdbewohner allein zugeschnittenen Naturordnung knüpft, wissenschaftlich überwunden werden. Oder wenn wir einmal annehmen, daß die biologische Entwicklungslehre nicht nur eine Hypothese, sondern eine durch Tatsachen gesicherte Überzeugung ist - dann wäre die Auffassung der biblischen Schöpfungsgeschichte als einer religiös wertvollen Tatsächlichkeit damit unmöglich geworden.

Es gibt kein Wertgebiet, das nicht solchen Einwirkungen wissenschaftlicher Empirie unterläge. Die ethische Einschätzung des Verbrechertums hat durch Vererbungsforschung, Psychologie und Psychopathologie, Erforschung der sozialen Lebensbedingungen starke Abwandlungen erfahren. Die Wertung geschichtlicher Epochen oder Persönlichkeiten hängt weitgehend ab vom fortschreitenden Erkennen der Geschichtswissenschaft; man bedenke nur, wie ganz anders wir auch wertend zur Antike stehen müssen als die Zeiten, die in ihr eine überhistorische Idealform sahen - seitdem sie nicht nur historisch eingegliedert ist in die Menschheitsgeschichte, sondern selbst die stärkste innere Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Epochen offenbart hat. Oder man erinnere sich an die gewaltige Erweiterung unserer ästhetischen Wertungen, seitdem die früher ungeahnten Schätze asiatischer und ägyptischer Kunst uns zugänglich gemacht worden sind. Die empirische Staatswissenschaft oder Sozialwissenschaft kann nachweisen, daß gewisse Gebilde und Institutionen (Stände, Verfassungen, Wirtschaftsformen usw.) in einer bestimmten Zeit nicht mehr die gleichen Funktionen erfüllen wie zu einer anderen und daß deshalb die auf diese  Funktionen  gegründeten Wertungen nicht mehr auf jene Gebilde bezogen werden können.

Wenn wir diese bedeutsame Leistung der empirischen Wissenschaften als "Werteichung" bezeichnen, so ist damit aber zugleich die absolute Grenze ihrer Gerechtsame [Befugnis - wp] angedeutet. Jede Eichung verlangt einen  Maßstab,  nach dem die gegebenen Tatsachen beurteilt werden; und dieser Maßstab selbst liegt außerhalb der empirischen, ja überhaupt der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Spezialwissenschaft kann wohl nachweisen, daß gewisse wirtschaftliche Einrichtungen nicht mehr die Bedeutung für das Allgemeinwohl haben wie früher, und daß man daher  wenn  man das Allgemeinwohl als Wertmaßstab anerkennt, die Wertung jener Wirtschaftsinstitutionen ändern muß. Aber  daß  man das Allgemeinwohl als Wertmaßstab anerkennen soll - also die Voraussetzung für jene Wertungen und Wertungsänderungen - kann weder eine Wirtschaftswissenschaft noch eine Tatsachenwissenschaft mit ihren Hilfsmitteln begründen. Die Postulierung von Werten selbst, von Wertgesichtspunkten und Wertforderungen gehört in eine andere Dimension geistigen Tuns. Wissenschaftliche Tatsachenforschung kann solche Postulate oder Glaubenssätze lediglich hinnehmen (was bald stillschweigend, bald ausdrücklich geschieht) und ausschließlich feststellen, wie weit die aus jenen Voraussetzungen abgeleiteten und an bestimmte Tatbestände geknüpften Wertungen durch diese Tatbestände gerechtfertigt werden. Aber von sich aus Wertmaßstäbe erst aus den Tatsachen zu extrahieren, ist ihr absolut versagt.

Damit rücken die empirischen Sonderwissenschaften in die Stellung von  Hilfs wissenschaften der Wertlehre; die in unserer Zeit besonders häufigen Versuche, sie zu Grundwissenschaften zu machen, sind in sich widersinnig. Es gibt keine soziologische Ethik im Sinne einer  Ableitung  des sittlich zu Fordernden aus den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens; und es gibt ebensowenig eine ethnologische Ästhetik, die aus den Kunsterzeugnissen der Völker den Wertgehalt der Kunst ablesen möchte; ebensowenig eine biologische Pädagogik, die da glaubt, die Feststellung von Gesundheits- und Krankheitserscheinungen, von Vererbung und Anpassung habe in sich die Kraft, die Leitideale der Erziehungstätigkeit zu schaffen.

Man kann hier beliebig permutieren: die verschiedensten Wertgebiete können mit den verschiedensten Tatsachenwissenschaften in Beziehung treten, sei es, daß sie sich ihrer rechtmäßig als Hilfsdisziplinen bedienen, sei es, daß sie sie unrechtmäßig zu Grundwissenschaften machen wollen. Die Ethik z. B. soll und muß die tatsächlichen Befunde der Gesellschaftswissenschaft, Völkerkunde, Psychologie, Biologie, Geschichte, Staats- und Rechtswissenschaft als wertvollstes Hilfsmaterial in ihre Betrachtungen einbeziehen; aber sie wird darum niemals zur bloßen angewandten Soziologie oder Psychologie usw.

Es muß vielleicht besonders hervorgehoben werden, daß diese Betrachtungen genauso für die Wissenschaft von den psychischen Tatsachen wie für die von den objektiven Tatsachen gilt. Der Umstand, daß das Werten, Glauben, Vorziehen und Nachsetzen, Wollen und Sollen Akte sind, die unter Beteiligung von Bewußtsein vor sich gehen, und der weitere Umstand, daß dem objektiven Wertgehalt der Schönheit, Wahrheit, Pflicht usw. gewisse seelische Inhalte im erlebenden Menschen entsprechen - macht die Psychologie noch keineswegs zur Herrscherin im Wertgebiet. Denn wieder müssen wir - wie schon oben bei der Phänomenologie - unterscheiden zwischen der wissenschaftlichen Betrachtung des Wertens, Sollens usw. und dem Werten und Sollen als normgebendem Prinzip der Lebensanschauung. Für die Psychologie des Wollens kann unter Umständen ein verbrecherischer Wille positivere Wichtigkeit haben als ein moralisch einwandfreier oder ein heroischer Wille; denn jene theoretische Wichtigkeit ist lediglich vom Ertrag für wissenschaftliche Erkenntnis von Willens-Gesetzen, -Strukturen und -Dispositionen bestimmt. Das Recht, die Willensarten verschieden zu bewerten, jene zu verwerfen, diese zu fordern, ist aus keinem denkbaren Befund der Psychologie abzuleiten - aber erst bei jenen Wertungsproblemen setzt die eigentliche Ethik ein, die demnach ihre Grundlagen jenseits der Psychologie haben muß. Daß genau ebensowenig Logik mit Psychologie des Denkens, Ästhetik mit Psychologie des Genießens und Schaffens identisch sein kann, bedarf dann wohl keiner weiteren Begründung mehr. - Einige Sätze seien nur noch schließlich über die Religionspsychologie hinzugefügt. Daß dieser neue Forschungszweig unsere Erkenntnis und auch unser einfühlendes Verstehen der religiösen Verhaltensweisen, Veranlagungen und Äußerungen unendlich erweitert hat, ist zweifellos;; ist doch erst durch sie der Tatbestand der subjektiven Religion oder Religiosität zu einem, dem Tatbestand der objektiven Religion gleichgeordneten, Problemgebiet geworden. Aber wenn man geglaubt hat, aus diesem Erfassen religiöser Seelenphänomene den  Rechtsgrund  für die Setzung und Bestimmung der religiösen Werte herleiten zu wollen, so war man im Irrtum befangen. Denn das religiöse Wertproblem ist konzentriert um die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der religiösen Glaubensgegenstände; und keine Analyse des psychischen Glaubensaktes gibt Auskunft darüber, ob diesem Glauben die Realität göttlicher Werte entspricht.  Der moderne psychologische Gottesbeweis ist  - wissenschaftlich betrachtet - um  nichts triftiger als der alte physiko-theologische.  Es ist vielmehr umgekehrt zu behaupten, daß auch die Religionspsychologie, trotz ihres Bestrebens, die Gesamtheit der religiösen Seelenphänomene in rein theoretischer Haltung zu beleuchten, sich auf Wertungen gründet, die vor aller wissenschaftlichen Arbeit liegen. Schon die bloße Abgrenzung des Begriffs "Religiosität" ist nicht allein aus der Psychologie zu entnehmen, sondern wird durch die Bezugnahme auf religiöse Werte gewonnen; und so ist bereits die Auslese derjenigen Phänomene, die man als "religiöse" ansieht und der religionspsychologischen Betrachtung unterwirft, ferner die Unterscheidung von echter und unechter, tieferer und flacherer Religiosität, von höheren und niedrigeren Stufen der Religiosität, getränkt von atheoretischen Wertungen.

Fassen wir zusammen, was wir über die vermeintliche Möglichkeit, von der Wissenschaft her das Wertproblem zu bewältigen, gefunden haben, so können wir sagen: wissenschaftliche Erkenntnis vermag auf apriorischem Weg Grundlagen der  Werttheorie,  auf empirischem Weg Hilfsmaterial für die Bestmmung, Ordnung und Eichung von  Werttatsachen  zu liefern; aber Wertungen und Werte selbst, und damit Normsetzung, Lebensanschauung,  Axiosophie  liegt jenseits ihres Bereiches.


5. Zweiwelten-Theorie

Der unmittelbare Eingriff der Wertsphäre in die wissenschaftliche Erkenntnisarbeit prostituiert diese; die versuchte Unterwerfung der Werte unter die wissenschaftliche Erkenntnis macht die Werte wertfremd, hebt ihren eigentlichen Charakter auf, ist dem Streben nach Lebensanschauung feindlich. Bleibt da etwas anderes übrig, als beiden Gebieten ihre gesonderten Geltungsbereiche völlig unabhängig voneinander anzuweisen? Von der früher behandelten "Unbekümmertheit" wird sich ein solcher Standpunkt insofern unterscheiden, als er jede der beiden Sphären in ihrer vollen Bedeutung würdigt und seine ganze Denkkraft darauf wendet, ihr Verhältnis zueinander festzusetzen. Aber indem dieses Verhältnis als das einer völligen Heterogenität bestimmt wird, erscheint im Ergebnis doch die Unbekümmertheit als das für jede Sphäre gebotene Verhalten. Wissenschaftliche Erkenntnis und werterfüllte Lebensanschauungen haben nichts miteinander zu tun,  sollen  nichts miteinander zu tun haben. Jede hat ihre Prinzipien der Stellung zur Welt, die innerhalb ihrer Sphäre schlechthin, außerhalb ihrer überhaupt nicht gelten, ja ihren Sinn verlieren. Religiöser Glaube hat keinerlei Beziehung, weder positive, noch negative, weder empfangende, noch gebende, zu wissenschaftlicher Erkenntnis; sittliche Forderung gehört einem anderen Reich an als die der Forschung zugängliche Naturnotwendigkeit; das Gelten von Werten und das Dasein von Tatsachen sind Kategorien von völlig verschiedener Dimension.

Wir stehen hier vor einem Dualismus von einer nicht weiter zu überbietenden Schroffheit. Was frühere Denkepochen an dualistischen Philosophien hervorbrachten, hatte einen ganz anderen, viel milderen Charakter. Es wurden zwar in der Welt zwei letzte Prinzipien aufgestellt; aber sie bestanden doch in derselben einen Weilt und hatten daher ein ausgesprochenes Verhältnis zueinander, positiv als Wechselbeziehung und Aneinander-Teilhaben, negativ als Gegensätzlichkeit und Abstoßung. Zwischen PLATONs Ideen und Dingen besteht  methexis  ("Teilhabe") und das Verhältnis vom Urbild zum Abbild. Zwischen der translunaren und sublunaren Welt des Mittelalters sind die Zusammenhänge göttlicher Fügungen und astrologischer Beziehungen wirksam. DESCARTES' Geist-Stoff-Dualismus kennt den  influxus physicus  [Einfluß des Leibes auf die Seele - wp] zwischen beiden Substanzen und die, beiden übergeordnete, göttliche Substanz erster Ordnung.

Ganz anders bei KANT. Sein Dualismus ist nicht der zweier Prinzipien, sondern der zweier Welten. Denn als eine Welt für sich muß das angesehen werden, was durch keine denkbare Beziehung, sei es des Gegensatzes oder der Übereinstimmung, sei es des kausalen oder teleologischen Zusammenhangs mit einer anderen Sphäre verknüpft werden kann. "Bürger zweier Welten" nennt KANT mit vollem Bewußtsein den Menschen. Denn er - und nur er - kann als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis Bestandteil der Naturordnung und als autonome Persönlichkeit Glied einer dem Glauben und Fordern zugänglichen Wertordnung sein. Aber dieses "Beides-sein-können" ist durch keinerlei Band zur Einheit zu bringen, ist schlechthinnige Gespaltenheit. Die Geschlossenheit und Reinheit des Wertgebietes für sich und des Erkenntnisgebietes für sich ist nun absolut gewahrt - aber sie wird unsagbar schwer bezahlt durch die endgültige Zerreißung des Makrokosmos in zwei Welten und des Mikrokosmos in zwei Weltangehörigkeiten.

Freilich, restlos vermag auch KANT nicht die theoretisch verkündete Disparatheit der zwei Welten durchzuführen. Fast wider Willen - und jedenfalls wider die Folgerichtigkeit - wendet er doch an einer Stelle ein synthetisches Prinzip auf sie an: das der Rangordnung. Die intelligible Welt der praktischen Vernunft ist ihm wesenhafter, hat einen höheren Grad an Realitätswert als die Erscheinungswelt der wissenschaftlichen Erkenntnis; im sittlichen Fordern sind wir dem "Ding ansich" nahe, das sich dem theoretischen Forschen verschließt. Damit greift nun doch die Wertbetrachtung auf die Wissenschaft über, aus der sie ausgeschlossen werden sollte. Aber es ist dies, vom kantischen Standpunkt aus betrachtet, wirklich ein "Übergriff"; der nach letzter Einheit verlangende Metaphysischer KANT hat hier über den Kritizisten KANT, der da trennt und Grenzen zieht, den Sieg davon getragen. Daß jedoch eine solche Verleugnung des Dualismus, die sich nur an einer unbewachten Stelle in das Denksystem einschleichen kann, kraftlos bleiben muß, ist verständlich. Sie hat keinerlei inhaltliche Rückwirkung auf die beiden Sphären schafft keinen Austausch von Geben und Empfangen zwischen ihnen. Jede hat ihre besondere Substantialität der lebendigen (persönlichen) Ganzheit. Jede hat ihre besondere Kausalität: die Wissenschaft die Kausalität durch Zwang, die Wertsphäre die Kausalität durch Freiheit. Die Disparatheit erstreckt sich also bis in die einzelnen Kategorien. Wie sich etwa diese und jene Substantialität, diese und jene Kausalität in einer und derselben Welt oder gar an ein und demselben Weltausschnitt (z. B. einem Menschen) vereinbaren lassen - das wird gar nicht erst gefragt, weil es schlechthin als unerkennbar gilt.

Der kantische Dualismus hat nun in der Gegenwart eine weitere Zuspitzung, aber auch zugleich eine eigentümliche Umbiegung erhalten.

Zunächst die  Zuspitzung,  wie sie namentlich bei den südwestdeutschen Philosophen hervortritt. Bei KANT bestand der Dualismus im Grunde zwischen Ethik und Naturerkenntnis - denn auch die Religion wurde ja der Ethik unterworfen. Jetzt wird jene zweite erkenntnisüberlegene Welt noch allgemeiner umfaßt unter dem Leitbegriff des Wertes und der Geltung. Nicht nur das sittliche Sollen, sondern auch das ästhetische Schauen, das religiöse Glauben, das soziale Wirken, das wirtschaftliche Arbeiten, das politische Handeln - all diese Verhaltensweisen setzen eine Welt ganz anderer Struktur voraus, als das wissenschaftliche Erkennen sie liefert. MÜNSTERBERG beschreibt die eine Welt als die der einheitlichen Willenssubjekte, der freien Taten, der Zweckzusammenhänge, die andere als die der zerlegbaren Naturobjekte, der kausalen Zwangsläufigkeiten, der rein mechanischen Beziehungen. RICKERT entschließt sich geradezu zu der Formulierung, daß es sich hier (bei den Gegenständen wissenschaftlicher Erkenntnis) um die Realität von Tatsachen, dort (bei den Werten) um etwas  Irreales,  nicht Existentes, nicht Gegebenes handelt. Diese "Irrealität" ist nun aber nichts weniger als negativ, wie das Wort zunächst auszudrücken scheint, sie hat vielmehr ihre eigene, aber vom tatsächlichen Dasein ganz verschiedene Positivität, die als Geltung oder Sinn bezeichnet wird. Die Wahrheitsbedeutung eines mathematischen Satzes, der Sinn der Pflichterfüllung, sind mit den tatsächlichen Dreiecken, auf die jener Satz angewendet wird, und mit den wirklichen Betätigungen, in denen sich die Pflichterfüllung niederschlägt, in keiner Weise vergleichbar und vereinbar; wir bewegen uns hier und dort in zwei verschiedenen Dimensionen. Damit scheint der Riß durch die Welt und durch den sie erfassenden Menschen verewigt zu sein.

Aber wir brauchen nicht hoffnungslos zu sein; denn der Dualismus hat gleichzeitig eine  Umbiegung  erfahren, die ihm seine Absolutheit wieder nimmt. Es zeigt sich nämlich, daß der Dualismus bei der eindeutigen Alternative: "Hier Wissenschaft, dort Wertsphäre" nicht verharren kann, sondern  innerhalb  jedes der beiden Gebiete selbst aufgestellt wird. Wie ist das möglich?

Die Charakteristik der Wissenschaft, die KANT und seine Nachfolger geben, ist im Grunde die der  Natur wissenschaft, und zwar noch genauer die von der mechanischen Physik her bestimmte Naturwissenschaft. Eine Solche Wissenschaft kennt in der Tat nur wertindifferente, teilbare Gegenstände und funktionalgesetzlich aufeinander bezogene Gehschehnisse. Die Suggestion  dieser  wissenschaftlichen Erkenntnisweise war nicht nur für KANT selbst (der ihre Prinzipien für eine apriori notwendige Bedingungen  aller  Erkenntnis ansah), sondern bis in die letzten Jahrzehnte hinein geradezu despotisch; andere Erkenntnisdisziplinen mußten sich entweder zu "vernaturwissenschaftlichen" streben, oder sie schlossen sich von einer Rechtfertigung ihrer Arbeit als einer wissenschaftlichen aus. Da war es nun das - erst heute in seiner ganzen Bedeutsamkeit zu würdigende - Verdienst DILTHEYs, für die Kultur- und Geschichtswissenschaften (er gebrauchte dafür den wenig glücklichen Namen  Geisteswissenschaften)  eine selbständige Orientierung zu fordern. Seine Nachfolger - heute insbesondere SPRANGER, LITT, JASPERS - bauten den Gedanken nach der methodischen Richtung aus, während er erkenntnistheoretisch vor allem durch WINDELBAND und RICKERT fundiert wurde. Wir wissen nunmehr, daß auch die  Wissenschaften  der Kultur und der Geschichte es nicht mit beliebigen existierenden Objekten, ablaufenden Geschehnissen, gesetzmäßigen Beziehungen zu tun haben, sondern mit Subjekten zielstrebigen Tuns, mit Sinnzusammenhängen, kurz mit ständigen (positiven oder negativen) Bezugnahmen auf Werte. Wir wissen ferner, daß es neben der Methode der naturwissenschaftlichen "Erklärung" eine ganz andere, aber nicht minder wissenschaftliche Methode gibt, die man als "Verstehen" bezeichnet, und die das eigentliche Organ zur Erfassung jener kulturwissenschaftlichen Willenssubjekte und Sinnzusammenhänge ist. Damit ist festgestellt, daß nicht  die  "Wissenschaft" als ganze auf der einen Seite des Dualismus steht, sondern  daß  der Schnitt mitten durch das Gesamtgebiet der Wissenschaft selbst hindurchgeht' und wertindifferente von wertbezogener Wissenschaft trennt.

Etwas ganz Paralleles war aber auch innerhalb des Wertgebietes erfolgt. Denn das Wertgebiet hat es nicht nur mit Geltung und Sinn zu tun, sondern bringt mit Notwendigkeit in sich auch Wertfremdes, Sinnwidriges hervor. die bloße Entleerung von Wertgehalt tritt in der Erscheinung der Mechanisierung, der Entpersönlichung hervor; die direkte Verneinung von Wert und Sinn in den Erscheinungen des Übels, des Bösen, der Dysteleologie [Unzweckmäßigkeit - wp]. Hatten frühere Epochen vornehmlich diese Wertnegation behandelt (man denke an LEIBNIZ' Theodizee [Rechtfertigung Gottes - wp], an den Pessimismus SCHOPENHAUERs, an ROUSSEAUs und NIETZSCHEs Umwertung aller Werte), so ist unserer Zeit die Problematik der  Wertentleerung  aufgegangen; man stellt der werte-schaffenden Kultur die werte-nivellierende Zivilisation gegenüber; man wurde hellsichtig dafür, wie sinnvolle Strebungen sich in leerlaufende Mechanismen verwandeln, wie persönliche Willenssubjekte zu bloßen Objekten werden, die dem Druck und Stoß sachlicher Gewalten folgen.

Eine Wertphilosophie kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie diesen "Nichtwert"-Kategorien ebenso wie den geltenden Werten und Sinnzusammenhängen gerecht wird; sie muß somit den Dualismus zwischen Wert und Nichtwert  in die Wertsphäre selbst  aufnehmen.

Die zuletzt geschilderte Umbiegung des Dualismus ist also im Grunde eine Spaltung in zwei Dualismen, von denen der eine innerhalb der Wissenschaft, der andere innerhalb der Wertsphäre klafft. Damit aber hat der Dualismus selbst aufgehört, den Anspruch auf Letztheit und Endgültigkeit erheben zu können. Er ruft nach Überwindung, und er ermöglicht jetzt auch eine solche. Denn er ist nun nicht mehr der Dualismus zweier Welten, sondern wieder der zweier Prinzipien geworden, wie es früher der Geist-Stoff-Dualismus gewesen war. Nur daß diese Prinzipien selbst in einer anderen Ebene liegen als der Geist-Stoff-Gegensatz: ich habe sie als "Person" und "Sache" bezeichnet. Zwei Prinzipien aber lassen sich in ihrem Verhältnis zueinander positiv bestimmen und damit als zugehörig  zu ein und derselben einheitlichen Welt  verstehen. Wenn es möglich ist zu zeigen, daß ein bestimmtes Verhältnis des personalen zum sächlichen Prinzip sowohl innerhalb der Wissenschaft, wie innerhalb der Wertsphäre wie endlich in der Beziehung beider Sphären zueinander obwaltet, dann haben wir die Zweiweltentheorie hinter uns gelassen, dann ist der Weg zu einer wirklichen Weltanschauung frei. Aber freilich: diese Überzeugung kann weder innerhalb der Wissenschaft allein noch innerhalb der wissenschaftsfremden Wertsphäre allein gewonnen werden; sie entstammt einer, beiden übergeordneten Instanz: der Metaphysik.


III. Wertphilosophie und Metaphysik

"Ist Metaphysik  als  Wissenschaft möglich?" Diese Frage wirft KANT auf, um sie zu verneinen. Mit Recht; denn Metaphysik steht nicht mit Wissenschaft auf einer Ebene, und Erkennen im wissenschaftlichen Sinne ist nicht ihre charakteristische Funktion.

"Ist Metaphysik möglich?" Diese allgemeinere Frage ist zu bejahen: sie ist möglich, muß möglich sein, weil sie notwendig ist. Denn auch Wissenschaft ist nur möglich, wenn Metaphysik ist; und Wertphilosophie ist nur möglich, wenn Metaphysik ist. Sollen also Wissenschaft und Wertphilosophie sein, so muß Metaphysik sein. Es gibt für sie keine andere Rechtfertigung als diese Notwendigkeit. Ihr Daseinsreicht und ihre Gültigkeit ist nicht beweisbar, nicht ableitbar, nicht begründbar; denn damit würden wir sie ja dem Maßstab wissenschaftlichen Erkennens unterwerfen, dem sie doch vorgeordnet ist. Die Notwendigkeit der Metaphysik ist deshalb die eines grundlosen  Glaubens  und eines urwüchsigen  Strebens,  sich dem Gegenstand dieses Glaubens zu nähern. Der Glaube geht auf die letzte Einheit des Seins und des Wertes: "Ich glaube an eine Welt, die zugleich seiend und werthaltig ist." Das Streben geht auf eine solche Bestimmung des Seins, daß es werthaltig, sinnvoll werde, und auf eine solche Bestimmung der Werte, daß sie Sinn von  etwas,  von wahrhaft Seiendem werden. "Ich  suche  die Welt, die zugleich seiend und werthaltig ist."

Der urtümliche Glaube an das Sein des Wertes ist die gemeinsame Wurzel von Metaphysik und  Religion.  Indem aber der Glaube jene geltende Seinswelt nicht einfach in einer fertigen Struktur hinnimmt, sie zum erst zu erarbeitenden, Zielpunkt des Suchens macht, wird die Metaphysik zur Philosophie. Religion ist ruhender,  Metaphysik  ist suchender Seins- und Wertglaube.' Und dieses Suchen ist ein nie zu vollendendes. Es gilt hier jener Gedanke, den die kritische Erkenntnistheorie seit KANT so scharf herausgearbeitet, aber fälschlich auf die wissenschaftliche Erkenntnis beschränkt hat: der Mensch  als Metaphysiker  steht der Welt nicht als einer fertigen Gegebenheit, sondern als einer  ewigen Aufgabe  gegenüber. Um der Einheit von Sein und Wert näher zu kommen, muß dieses Streben eine immer tiefere, reinere, objektivere Versenkung in das Sein versuchen und darum die Methodik wissenschaftlicher Erkenntnis entwickeln; es muß andererseits die Geltungen und Normierungen der Wertsphäre in steigender Umfassung den Menschen zur Besinnung bringen, und darum eine Axiologie und Axiosophie hervorbringen; es muß endlich durch immer neue Gestaltungen des Welt-Wert-Glaubens jene beiden Teilentwicklungen vereinigen und mit neuen Richtlinien wieder aus sich entlassen.

Machen wir uns dieses Verhältnis für jedes der drei Gebiete klar.

a)  Die Wissenschaft.  - Wir haben oben die Autonomie der wissenschaftlichen Erkenntnis in aller Schärfe betont gegenüber den unmittelbaren Einbruchsversuchen wissenschaftsfremder Wertungen in ihre Sphäre. Aber diese Autonomie ist nur eine immanente; sie gilt für die Geschlossenheit des wissenschaftlichen Systems in sich und für die Durchführung ihrer Methoden und Gesichtspunkte. Aber in Bezug auf die  Voraussetzungen  des Systems, der Methoden und der Gesichtspunkte ist die Wissenschaft nicht autonom. Hier ist sie vielmehr auf den grundlosen Weltglauben angewiesen, also auf Metaphysik - denn das, was die Mittel wissenschaftlicher Arbeit, was Denken und Anschauung uns an Ergebnissen liefern, nennen wir nur dann "Erkenntnis", wenn die Überzeugung besteht, daß wir damit irgendwie "die Welt" meinen, unmittelbar oder mittelbar, abbildend oder konstruierend, hinnehmend oder gestaltend. Ohne diesen Glauben an ein solches Sich-Herantasten-Können an den eigentlichen Sinn des Seienden hört Erkenntnis auf, Erkenntnis zu sein; an ihre Stelle tritt eine gleichgültige Gedankeakrobatik oder zwecklose Datensammlung, bestenfalls engbrüstig zweckhafte Standpunktspolitik (bei der aber dann der bestimmende "Standpunkt" selbst wieder Sache eines außerwissenschaftlichen Glaubens ist).

Der metaphysische Weltglaube ist nun aber nicht nur die  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] der Wissenschaft, sondern auch ihre  conditio per quam  [hinreichende Bedingung - wp]; d. h. er bestimmt nicht nur, daß, sondern auch  wie  Wissenschaft möglich wird. Er wirkt nämlich gegenüber den Mitteln, mit denen der Mensch an die Welt herantritt, auslesend, indem eben nur jene mittel als wissenschaftliche gelten, die ihm die Annäherung an die geglaubte Welt des Seins zu gewährleisten scheinen.  Warum  gerade diese Mittel und keine anderen ausgelesen werden - diese Frage ist wiederum nicht beantwortbar, weil der metaphysische Glaube grundlos ist. Daß die These des Rationalisten "Im Denken wird die Welt erfaßt", und die des Empiristen "In der Erfahrung wird die Welt erfaßt"  dogmatisch  seien, also auf einem außerwissenschaftlichen Glauben beruth, hat KANT gezeigt. Aber auch seine eigene Voraussetzung: daß sich aus dem  Faktum  wissenschaftlicher Erkenntnis die notwendigen Formen des Erkennens entwickeln lassen, ist dogmatisch; denn nur, wenn man jenem "Faktum" der Wissenschaft eine "Bedeutung" zuschreibt, wenn man  glaubt,  daß Wissenschaft über ihr bloßes Gegebensein hinweg mit objektivem Sein etwas zu tun hat, kann das Faktum zum Ausgangspunkt der transzendentalen Methode gemacht werden. Der Kritizismus geht also um einen Schritt hinter den Dogmatismus seiner Vorgänger zurück, um sich aber hier notwendig wieder auf einen (anders formulierten) Dogmatismus zu gründen. Und für den, der das bestreitet, ist die Negation selbst eine Glaubensüberzeugung, die außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion steht.

Aber das metaphysische Dogma beschränkt sich nicht nur auf die Voraussetzung der wissenschaftlichen Methodik, sondern bestimmt auch ihre inhaltlichen Voraussetzungen, nämlich die Auslese der  Grund-Kategorien  und  Grund-Sätze.  Die Gesichtspunkte, nach denen die Unbegrenztheit des Stoffes gegliedert wird, um überhaupt erst wissenschaftsmöglich gemacht zu werden, die Urfächer, in welche die einzelnen Tatbestände eingeordnet werden, die Rangordnung zwischen mehreren aufeinander bezogenen Kategorien (d. h. die Setzun, daß die Kategorie  A  als Erklärungs prinzip,  B als Erklärungs'bedürftig hingestellt wird), dies sind die vortheoretischen Momente, von denen doch erst die gesamte Struktur der Wissenschaft abhängt.

So ist z. B. das Recht der modernen Naturwissenschaft, die Kategorie des  Gesetzes  als das letzte Bezugszentrum aller ihrer einzelnen Schritte anzusehen, in der Natur wissenschaft  selbst nicht zu fundieren. Daß die Naturgesetze die Tatsachen beherrschen, ist vielmehr ein Rangglaube. Nur weil man glaubensmäßig überzeugt ist, mit dem Gravitationsgesetz dem Weltgrund irgendwie näher zu sein als mit einem einzelnen Fallvorgang, ist es möglich, diesen auf jenen "zurückzuführen", ihn dem Gesetz "unterzuordnen". - Oder ein anderes Beispiel: schon die bloße Gegenüberstellung der Kategorien "Geist" und "Stoff" bedingt eine ganz bestimmte Orientierung innerhalb der Welttatsachen, die Schaffung von zwei Fächern, denen sich nun alles Bestehende einordnen soll. Warum gerade diese Grundscheidung und keine andere? Weil für die Welt selbst gerade der Gegensatz Geistig-Stofflich irgendwie als wesenhaft  geglaubt  wurde. Und dies noch ganz unabhängig von der speziellen Auffassung des Verhältnisses. Um eine solche zu ermöglichen, muß sich dann dem Kategorienglauben wieder ein Rangglauben superponieren: daß das eine Prinzip das eigentliche "Sein", das andere nur abgeleitetes Sein bedeutet. So ist für den Spiritualisten das Geistige dogmatisch und das Stoffliche problematisch, für den Materialisten umgekehrt. Und erst hinter diesen Voraussetzungen beginnt nun die eigentlich wissenschaftliche Arbeit.

Das notwendige Zurückgreifen der Wissenschaft auf Metaphysik wird besonders dort deutlich, wo  innerhalb  der Wissenschaft eine Diskrepanz besteht. Gehen zwei Wissenschaften nach Methoden und kategorialen Gesichtspunkten ganz verschiedene Wege, so ist auf rein wissenschaftlichem Boden ihre Vereinheitlichung nicht möglich. Auch eine erkenntnistheoretische Besinnung kann höchstens die Abgrenzung scharf formulieren, nicht aber den Dualismus überwinden. Das ist wiederum nur möglich durch eine Überzeugung, die den dogmatischen Voraussetzungen der einzelnen Wissenschaften übergeordnet ist und daher erst recht metaphysischen Charakter hat. Nun stießen wir ja oben auf einen solchen Dualismus zwischen der "erklärenden" wertfremden Naturwissenschaft und der "verstehenden" Wertbeziehungen suchenden Kulturwissenschaft - es wird sich zeigen, daß er in einer bestimmten metaphysischen Überzeugung zur Auflösung kommen kann -, wodurch dann erst "Wissenschaft als Einheit" möglich wird.

Der hier vertretene Standpunkt über das Verhältnis von Wissenschaft und Metaphysik darf wohl als "Dogmatismus" bezeichnet werden. Aber wir müssen nun zwischen gutem und schlechtem Dogmatismus trennen.

Dogmatismus als  Scheltwort  - wie der Ausdruck seit KANT gebraucht wird - kann nunmehr nur bedeuten: Einschmuggelung von Glaubenssätzen in die Erkenntnis, als ob sie selbst Erkenntnissätze wären, also  Verwechslung  von Erkennen und Glauben. In diesem Sinne aber sind gerade diejenigen schlechte Dogmatiker, welche den "Dogmatismus" am meisten bekämpfen, denn sie sehen auch die Voraussetzungen ihres Erkenntnissystems für Erkenntnisse an und leugnen eine vor aller Wissenschaft stehende Metaphysik. Dogmatismus im guten Sinne ist dagegen die bewußte Basierung der Wissenschaft auf Glaubenssätze, die ihrem (der Wissenschaft) autonomen Richterspruch entzogen sind, weil sie erst das Zustandekommen der Wissenschaft ermöglichen. Es gibt also nicht eine undogmatische und eine dogmatische Wissenschaft, sondern nur eine ihrer dogmatischen Grundlagen bewußte und eine dieser Grundlagen nicht bewußte Wissenschaft.

Und so kommen wir dann zu dem paradox erscheinenden und dennoch unzweifelhaften Ergebnis, daß diejenige Wissenschaft, welche a-metaphysisch sein will, einen geringeren Grad von Selbstbesinnung besitzt, also weniger kritizistisch ist als diejenige, welche die metaphysischen Voraussetzungen anerkennt (4).

b)  Das Wertgebiet.  - Für das Wertgebiet gilt  mutatis mutandis  [unter gleichen Voraussetzungen - wp] das entsprechende. Wir sahen, daß es der Wissenschaft gegenüber autonom sein muß, insofern als die Wissenschaft nicht ableiten kann, daß es so etwas wie Werte gibt und warum es bestimmte Werte geben soll. Aber die Autonomie ist keine absolute: denn die Werte, von denen die Wertphilosophie handelt, rufen nach einem "Sein" - und um dieses Sein weiß nur die Metaphysik. Oder vielmehr: sie glaubt daran (ohne es beweisen zu können und zu müssen), daß Werte nur deshalb Werte sein können, weil in ihnen eine letzte Realität lebt, weil in ihnen ein Etwas Bedeutsamkeit gewinnt, weil in ihnen ein Werdendes Verwirklichung sucht.

Ein bloßes seinsfernes und seinsfremdes "Gelten" - also eine Isolierung des Wertes gegenüber jeglicher Realität - ist ein vollendeter Ungedanke. Er ist auch in Wirklichkeit niemals gedacht worden; denn selbst dort, wo die Irrealität der Werte behauptet wird, ist es doch nicht ein Nichts-Sein, sondern nur ein Sein anderer Art, anderer Ordnung als das der bloßen Existenz. Damit aber verlangt nun dieses "Sein" anderer Ordnung seine philosophische Bestimmung; und es muß zugleich zu jenem Sein, mit dessen Bestimmung es die Tatsachenwissenschaften zu tun haben, in ein Verhältnis gesetzt werden. Diese Aufgabe kann offenbar weder die Axiologie selbst, noch die Wissenschaft lösen: wieder bedürfen wir einer Überzeugung vom Sein in seinen verschiedenen möglichen Beziehungen zum Wert, und zwar einer einheitlichen Überzeugung, in der aus dem werterfüllten und geltungschaffenden Sein heraus auch das wertfremde und wertwidrige Sein verstanden werden kann. Nur die metaphysische Dogmatik vermag den Dualismus, der innerhalb der Wertsphäre selbst unlösbar bleiben muß, und den Dualismus zwischen Wertsphäre und Wissenschaft zu überwinden.

Mehr braucht an dieser Stelle über die metaphysische Voraussetzung der Wertsphäre nicht gesagt zu werden, weil diesem Thema ja der Hauptinhalt des Buches gilt.

c)  Die Metaphysik.  - Wohl aber müssen wir noch ein Wort über unseren Gebrauch des Ausdrucks "Metaphysik" sagen.

Metaphysik in dem hier gemeinten Sinn bedeutet nicht den Rückfall in die seit KANT erledigte Metaphysik alten Stils. Denn sie will nicht Wissenschaft sein, wie es jene vermeinte, und sie will nicht die, aller Unvollkommenheit, aller Veränderungsmöglichkeit enthobene, endgültige Überzeugung vom Wesen der Welt sein, wie sie jene ebenfalls zu besitzen wähnte. Ihr "Nicht-Wissenschaft-Sein" aber beruth nicht darauf (wie KANT meinte), daß sie mit der Wissenschaft nichts zu tun hätte, sondern darauf, daß sie deren Vorbedingung ist.  Das Apriori der Wissenschaft und jeglicher Wissenschaften ist ein metaphysischer Glaube. 

Und das "Nicht-Wissenschaft-Sein" der Metaphysik hat die zweite positive Bedeutung, daß sie nicht die Zurückhaltung dem Wertgebiet gegenüber üben muß, die man von der Wissenschaft zu fordern hat.  Denn nun bedeutet eine metaphysische Grundlegung des Wertgebietes nicht mehr dessen Rationalisierung.  Metaphysik ist nicht dazu da, um das, was Religion, Sittlichkeit, Kunst, Recht usw. an Geltung besitzen, aus einem logischen Denkzusammenhang heraus zu deduzieren, sondern um es aus einem überlogischen Sinnzusammenhang heraus zu begreifen. Sinnzusammenhang heißt aber ein solcher, der in der irrationalen Konkretheit seines Bestandes geglaubt wird. Erst  hinter  diesem Glauben kann die rationale Arbeit beginnen, und nun werden  sekundär  sowohl die Gesamtbestände der Wissenschaft, wie die Einzelgebiete und Tatsachen der Wertsphäre durch das Denken als in jene Zusammenhänge Einzuordnendes behandelt.

Die Metaphysik im hier gemeinten Sinn ist ferner nicht endgültig und stabil, sondern in einem ewigen Fluß begriffen. Ist sie doch nicht das Sein selber, auch nicht ein ruhender Abklatzsch des Seins, sondern das gläubige Suchen nach ihm. Und so widerspricht denn dieser Metaphysik nicht - was für die Metaphysik alten Stils widersinnig gewesen wäre -, daß es  Metaphysiken  gibt, daß jede Metaphysik durch eine andere überwunden werden muß. Einmal - bei HEGEL - ist dieser Gedanke bereits aufgeleuchtet; es ist besonders groß an HEGEL, daß er die Lehre von der dialektischen Selbstüberwindung auch auf den "absoluten Geist", also auf die Manifestation des Seienden in Religion und Philosophie anwendet. Nur daß HEGEL diese Selbstüberwindung rein aus der abstrakten Begriffsbewegung heraus verstehen will, während sie in Wahrheit die konkrete irrationale Lebensbetätigung des suchenden Menschengeistes ist. Und daß HEGEL ferner am Abschluß dieser Bewegung doch wieder in die erstarrte Absolutheit der Metaphysik zurückfällt: denn seine eigene Metaphysik soll im Gegensatz zu allen anderen die unüberbietbare Vollendung, der Schlußstein des Kreises sein.

Die heutige Metaphysik dagegen ist sich der Unvollendbarkeit ihrer Aufgabe bewußt. Nur zwei Sätze stehen für sie jenseits der Zeiten, der Kulturen und der Verschiedenheiten philosophischer Grundüberzeugungen - wir haben sie schon früher genannt: "Ich glaube an eine Welt, die zugleich seiend und werthaltig ist." Aber diese Sätze bezeichnen ja lediglich den Sinn von Metaphysik überhaupt, sie bilden ihr formales Apriori, aber sie liefern nicht den Glaubensgehalt einer  bestimmten  Metaphysik. Dieser Glaubensgehalt aber ist der Entwicklung fähig und bedürftig; denn er stellt die jeweilig zu erreichende höchstmögliche Annäherung des Glaubens an das Geglaubte, nämlich an die seiende und geltende Welt dar. Niemals kann der Glaube, schon da er seinen Gehalt isolieren, begrenzen, aussprechen muß, sich mit der Unendlichkeit des Welt-Seins und -Geltens zur Deckung bringen. Jedes Bewältigen der Welt durch ein Dogma ist zugleich notwendig ein Vergewaltigen (5); und jeder Fortschritt besteht darin, daß eine Vergewaltigung unerträglich geworden ist, nach einer neuen Bewältigung ruft. Eine neue Metaphysik hat zur Voraussetzung, daß die bestehenden dogmatischen Überzeugungen über Methoden, Kategorien, Rangordnungen und Zusammenhänge der Kategorien nicht mehr ausreichen, um Wissenschaft und Wertsphäre - jede für sich und beide in ihrem Verhältnis zueinander - sinnvoll zu erhalten und einheitlich zu gestalten. Auf dieser Voraussetzung erhebt sich dann ein schöpferischer Akt. Neue Glaubenssätze müssen gesucht, geschaut und gedanklich so bestimmt werden, daß Erkennen und Werten wieder einen neuen Sinn und einen neuen Zusammenhang erhält und daß die Welt wieder als werterfülltes Sein geglaubt werden kann. So enthüllen sich dem metaphysischen Blick immer wieder neue Seiten der Welt; in keiner aber ist sie ganz; und die Bewegung des Suchens muß deshalb nach einem kurzen Ausruhen in der letztgewonnenen Schau und Systematik von neuem weitergehen.

Sollen wir dann aber diesen "Relativismus" noch Metaphysik nennen? Wäre es nicht vielmehr richtiger, nachdem die Absolutheit metaphysische Glaubensinhalts unwiederbringlich vernichtet ist, ganz auf den Ausdruck "Metaphysik" zu verzichten? Nein! Denn wir haben keinen treffenderen Namen für jenes Gebiet suchenden und zugleich schöpferischen Glaubens, das die Vorbedingung von Erkenntnis und Wertung ist, und darum in keines von beiden hineingehört. Und dann ist die Absolutheit gewiß nicht preisgegeben: nur ist sie ewiges Ziel statt fertiger Gegebenheit geworden. Das  "Meta-"  in "Metaphysik" bleibt in seiner ganzen Wucht bestehen; denn das Suchen gilt dem, was  "hinter"  allem Fertigen, allem schon Gewonnenen liegt, was mehr ist als Schein, Zufälligkeit, Oberfläche oder Chaos. Dieser ewig bestehend und sich ewig überwindende Glaube ist in einem wahreren Sinne Metaphysik (nämlich  philosophische  Überzeugung), als es der Glaube an den fertigen Besitz des Seins war, der die alte Metaphysik beherrschte. Diese hatte dadurch der religiösen Dogmatik näher gestanden als der Philosophie.

Freilich: die Bewegung, die von Metaphysik zu Metaphysik führt, ist keine stetig gleitende; sie besteht nicht in unendlich kleinen und unablässigen Fortschritten, wie es etwa für die Bewegung der Wissenschaft gilt. Sondern jede Metaphysik ist in sich ein Ruhepunkt in jenem suchenden Glauben; schöpferische Selbstbestimmung führt zu einem abgeschlossenen Sinnzusammenhang, der von denen, die ihm vorangehen und folgen, durch Zustände der Zwiespältigkeit, ja des Chaos getrennt ist. Metaphysik muß ihrem Wesen nach  System  sein. Sie ist verpflichtet, Geltung und Bedeutung ihres Glaubensgehaltes nach allen Seiten der Wissenschaft und Wertsphäre auszuschöpfen und durchzuführen; dadurch kann sie für den Wissens- und Wertstand ihrer Zeit einen Kristallisationspunkt bedeuten und zwischen den geistigen Spannungen in dynamisches Gleichgewicht herstellen. In dieser inneren Selbstgenügsamkeit und Eingerahmtheit, die sie aus dem bloßen Fluß des Geschehens als selbständiges Gebilde herausschneidet, ähnelt die Metaphysik dem Kunstwerk.

So dürfen auch wir getrost die Metaphysik vertreten, die uns für Wissenschaft und Wertbestimmung der kommenden Zeit die angemessenste Glaubens- und Suchformel zu enthalten scheint; es ist die des Personalismus. An der Gültigkeit dieser metaphysischen Überzeugung wird dadurch nichts gemindert, daß wir ihre spätere Überwindung durch eine andere Metaphysik für nötig halten. Sie hat ihr Recht, wenn der Glaube sie begleitet, daß ihre Dogmatik und Problematik wieder einen neuen  Annäherungs schritt an das nie erreichbare werthafte Sein der Welt bedeutet.



LITERATUR - William Stern, Person und Sache - System des kritisschen Personalismus, Bd. III, Leipzig 1924
    Anmerkungen
    1) Vgl. "Vorgedanken der Weltanschauung", Seite 6
    2) Darunter ist nunmehr Axiologie  und  Axiosophie zu verstehen.
    3) Es wird hier noch der Vereinfachung halber fingiert, als ob Werten und Erkennen zwei nebengeordnete Verhaltensweisen wären; erst später wird sich herausstellen, daß auch das Erkennen eine bestimmte Art des Wertens (nämlich ent-ichendes geistiges Werten) ist.
    4) Deshalb steht der Dogmatismus, zu dem sich die personalistische Philosophie bekennt, keineswegs im Widerspruch zur Bezeichnung "kritischer" Personalismus, welche diese Philosophie für sich in Anspruch nimmt.
    5) Vgl. "Person und Sache", Bd. 1, Seite 5f