p-4p-4 MeumannC. u. W. SternG. LindnerJ. ChurchWygotski     
 
MORIZ LAZARUS
Geist und Sprache

"Der Aufmerksamkeit des Lesers empfehlenswert scheint mir dies: daß nicht bloß das geistige Geschehen und seine idealen Beziehungen, sondern auch die äußere objektive Welt zum Teil durch innere Tätigkeit erfaßt wird, welche ganz und gar von der Natur des denkenden Wesens abhängig ist. Von gewissen äußeren Beziehungen der Dinge, von objektiven und realen Verhältnissen derselben, wie etwa Wachsen und Leben - welche der gesunde Menschenverstand immer als vollkommen reale Vorgänge ansehen wird - könnten wir doch nie eine Anschauung haben, wenn unsere Seele wie bei der Empfindung nur im Moment leben würde, wenn die früheren Empfindungen und Anschauungen nicht dauernd erhalten blieben, so daß die späteren sich mit ihnen durch Vergleich und Verbindung vereinigen können. Ist aber dieses Verhältnis des Erkenntnisvorgangs zu seinem Gegenstand vollkommen klar erfaßt, dann begreift man leicht, wie nicht bloß zeitlich entfernte aber sachlich zusammengehörige Empfindungen, sondern auch gleichzeitige Beziehungen derselben von der inneren Tätigkeit abhängen; also die des Ganzen zu Teilen, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel usw."


III.
Die Erlernung und
Fortbildung der Sprache

Wie lernen die Kinder sprechen? wie namentlich lernen sie die Sprache verstehen? Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, irrige Meinungen zu widerlegen; sie sind zahllos, selbst unter den Gebildeten. Man kann auch nur durch die zusammenhängende Betrachtung des ganzen Wesens der Sprache auf das Rechte kommen. So ergibt sich auch die Beantwortung dieser Frage aus der ganzen Erörterung, und wir können uns deshalb kurz fassen.

Beim Ursprung der Sprache mußte jeder Einzelne sich im Wesentlichen die Sprache schaffen; die Sprache konnte dem Menschen nicht überliefert werden, denn die Sprache empfangen, verstehen und anwenden lernen, setzt Verständnis, also Sprache voraus. Auch jedes Kind muß die Sprache für sich schaffen! Aber unsere Kinder  lernen  ja die Sprache, und zwar durch Nachahmung? So  scheint  es in der Tat, aber es ist nicht so. Man kann keinem Kind zeigen, wie es einen Laut hervorbringen, wie es ihn nachahmen soll. Man sieht nicht selten, wie Mütter und Ammen sich vergebliche Mühe geben, einem Kind die Laute vorzumachen, daß es sie nachahme; das Kind sieht sie an, und weiß nicht, was sie wollen. Es kann eben nicht  sehen,  wie ein Laut hervorgebracht wird; selbst die Wörter mit Lippenlauten, welche durch eine dem Auge sichtbare Bewegung erzeugt werden, erfordern doch zugleich für den Vokal eine Spannung der Stimmbänder, welche unsichtbar ist (1). Man könnte einem Kind, wenn es nur schon seiner Gelenke Herr wäre, zeigen, wie es einen Schuh machen soll, denn jede Bewegung ist dem Auge sichtbar und es kann sie nachahmen; aber es fehlt alles daran, daß man ihm zeigen könnte, wie es Laute hervorbringen sollte, da die Erwachsenen selbst, bis auf die wenigen Physiologen, es nicht wissen. Aber auch die wirkliche Nachahmung einer sichtbaren Bewegung mit den eigenen Gliedern ist ja nicht so einfach wie sie dem unmittelbaren, natürliche Bewußtsein erscheint. Beruth sie doch auch auf einer unserer Kenntnis sich entziehenden Übertragung des aufgenommenen Bewegungsbildes auf diejenigen motorischen Nerven, welche die gleiche Bewegung erzeugen. Was tatsächlich und allein zwecks Nachahmung von außen gegeben wird ist ja nur die Anschauung der Bewegung; damit auf diese Anschauung die gleiche Tat der Bewegung folgt, muß vorher eine entsprechende Verbindung zwischen beiden hergestellt sein. Gerade so wie beim Urmenschen sind beim Kind die ersten Sprachlaute eine unwillkürliche Schöpfung, ein Erfolg der Reflexbewegung, allerdings vorwiegend von den Gehörseindrücken. Bevor sich daher die Kinder auf die willkürliche Nachahmung von gehörten Wörtern verstehen, pflegen sie selbst ihre eigenen Wörter für die Dinge zu machen; Mütter sehen darin oft eine besonders komische Eigenheit der Kinder, daß sie ihre selbstgeschaffenen Wörter sogar noch gebrauchen, wenn sie auch schon fremde nachsprechen können. Und doch ist nichts natürlicher als das; das Kind spricht  seine  Sprache, bis es durch die Erwachsenen unsere lernt. Beachtenswert ist übrigens auch die Tatsache, daß die Kinder während der Aneignung der Sprache der Erwachsenen sich in der Sprachschöpfung nicht bloß in der Weise der onomatopoetischen [lautmalerischen - wp], sondern sogar der charakterisierenden Stufe versuchen. So antwortete meine kleine Nichte, welche mit ihrem neuen Kindermädchen zu uns kam, auf die Frage, wie denn das Mädchen heißt:  Marie Abend!  Sie hatte aber nur MARIE gehört; den Beinamen "Abend" gab sie ihr, weil sie Abends gekommen war. Dieselbe redete öfter den Kaufmannsburschen, welcher einmal starkriechenden Essig ins Haus gebracht hatte, mit de Wort "Essig" so an, als ob es sein Name wäre;  "Essig,  du sollst warten", sagte sie, weil die Mutter gesagt hatte, der  Bursche  soll warten.

Daraus folgt nun:  wir lehren den Kindern nicht die Sprache,  d. h. nicht das Sprechen, sondern nur  unsere  Sprache. Sprechen, allgemeine Sprache haben, muß das Kind selbst; es muß als Mensch durch sich allein sprechen können, sonst könnten wir ihm nicht unsere bestimmte Sprache lehren. Aus dem ursprünglichen, unwillkürlichen, der Natur des Menschen entspringenden Sprechen haben sich bestimmte, gleichsam künstlerisch geordnete Sprachen entwickelt; dieses zur Natur allmählich Hinzugekommene können wir auch dem Kind und zwar sogleich hinzugeben, aber nicht die erste Fähigkeit. (2)

Hätte man diese nunmehr so einfache und offenbare Tatsache früher zu beobachten verstanden, so würde man auch früher den Weg gefunden haben, Wesen und Ursprung der Sprache zu erkennen.

Wie aber lernen die Kinder die Sprache verstehen? Auch hier läßt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit der ursprünglichen Sprachschöpfung bemerken, nämlich darin, daß viele Laute erzeugt, ausgesprochen werden, bevor sie bedeutsame Wörter sind.

Zwar hört man oft, daß "die Kinder schon Alles verstehen", bevor sie noch mehr als einzelne selbstgeschaffene oder nachgeahmte Wörter sprechen können. Aber das ist eben, was man so "Alles" nennt, nämlich fast gar Nichts, oder richtiger: die Kinder verstehen wohl "Alles", aber nicht  etwas  von dem Allen, nämlich ganze Reden, die man an sie hält, tadelnde, lobende, spielende, verheißende, drohende Reden (denn mit bloßen Sätzen begnügt sich eine Amme, Kinderfrau oder Kindermuhme [Mutterschwester - wp] selten -), die verstehen die Kinder ihrem  ganzen  Inhalt nach. Aber natürlich nicht oder nur zum geringsten Teil durch die Worte, welche sie hören, sondern durch den Ton und durch die Mienen und das Auge, welche sie sehen.

Es ist eine interessante, obwohl ganz natürliche Tatsache, daß Kinder in der Zeit des Sprechenlernens (zur Verzweiflung der Kindermädchen, die ihnen zeigen wollen, wie sie etwas nachsprechen sollen), dem Sprechenden nicht auf den Mund, sondern in die Augen sehen; dort suchen und lesen sie die Übersetzung und Erklärung von dem, was sie hören und noch nicht verstehen.

Aber eben diese ungeheuer gespannte Aufmerksamkeit des kindlichen Auges, das schnelle Wechseln des Sehfeldes, dabei aber immer ganz hingegebene Hängen am Anblick (wodurch das Auge des Kindes bis zu 2½ - 3 Jahren etwas Stieres, dem Taubstummenauge Vergleichbares hat, an dessen Stelle später der geistigere, nämlich beruhigtere und selbständigere Blick folgt), wird zum hauptsächlichen Mittel, die gehörten Worte der Erwachsenen zu verstehen. Dennoch muß das Kind die Wort unzähligemale gehört haben, bevor es deren Bedeutung - einzeln genommen - kennt; braucht doch auch jedes Kind vom Nachsprechen der ersten Wörter bis zu einer mäßigen Kenntnis und freien Verwendung seiner Muttersprache reichliche zwei Jahre. Das Kind hört meist ganze Sätze:  wir wollen gehen, du sollst schlafen, willst du essen  und dgl., von diesen begreift es nur den Hauptbegriff; begünstigt wird dieses Begreifen noch dadurch, daß diese Hauptwörter meist am Schluß des Satzes stehen, wie in den gedachten Beispielen:  gehen, essen, schlafen;  nun aber sind die Kinder, auch ohne besondere Aufforderung, eine wahres Echo; sie sprechen auch ohne alles und jedes Verständnis gern nach; da sie aber, artiger als viele Erwachsene, damit warten, bis der Andere ausgeredet hat, so wiederholen sie stets nur das letzte Wort. Sie pflegen damit die Mütter, die ihre Klugheit rühmen, in Verlegenheit zu bringen; denn wenn man einem Kind von zwei bis drei Jahren eine Frage vorlegt, so sagt es - nicht eine Antwort, sondern wiederholt das letzte Wort der Frage; es versteht also unter der vorgelegten Frage offenbar nichts anderes als die Aufforderung zum Sprechen. Hält man nun die unleugbare Tatsache fest, daß Kinder die Wörter nicht bloß unendlich oft gehört, sondern meist auch schon gesprochen haben, bevor sie noch eine Vorstellung damit verbinden, so ist es leicht begreiflich, daß die Wörter sich dann mit den Vorstellungen und Anschauungen verbinden, wenn sie ihnen in einer unzweifelhaften Beziehung dargeboten werden. Wie oft mag ein Kind schon die Worte  Glas  und  Tisch  gehört, vielleich auch schon nachgesprochen haben; nun hört es, daß Einer zum Andern sagt:  setz das Glas auf den Tisch  und zugleich sieht es, daß dies geschieht. Sogleich werden sich die Wahrnehmungen des gehörten Lautes und der gesehenen Dinge miteinander verbinden. Es ist auch in der Seele gleichsam ein gewisser Kitt zur allfälligen Verknüpfung dieser Art vorrätig; denn gewiß ist eine bedeutende Anzahl von solchen früher stattgefundenen gleichzeitigen Wahrnehmungen der Dinge und Wörter vorhanden, die nur noch nicht vom energischen Erfolg der Verknüpfung begleitet waren; diese werden aber jetzt reproduziert und tragen zur Befestigung derselben bei. Erinnern wir uns der obigen Erörterungen über die Bildung der Anschauung. Neben der ursprünglich chaotischen Masse von Anschauungen vernimmt das Kind eine Menge von Wörtern; so wie sich einzelne bestimmte Anschauungen heraussondern, ziehen sie auch die bestimmten einzelnen Wörter dafür an, nach einer Wahlverwandtschaft, deren allgemeines Gesetz allerdings auf der bloßen Tradition beruth, deren Anwendung und stufenweise Wirksamkeit aber von der Masse der gleichzeitigen Wort- und Sachwahrnehmungen abhängig ist, welche das Kind gewonnen hat.

Zu den Erscheinungen, welche die schnelle Förderung der Spracherlernung bei den Kindern erklären helfen, gehört vor allem: die allgemeine Regsamkeit, Beweglichkeit derselben, das unaufhörliche Spiel der motorischen Nerven, unter denen bald diejenigen überwiegen, welche die Sprachorgane in Bewegung setzen. Kinder sprechen eben gern und viel, ebenso wie sie zappeln, rennen, spielen; sie "plauschen", reden oft - auch ohne Grund, wie ohne Sinn und Bedeutung. Aber sie hören auch gern sprechen, besonders gern, daß man zu ihnen spricht, und besonders und am liebsten geordnete, pathetisch ausgesprochene Sätze. Ein befreundeter Pädagoge behauptet: man könne jedes weinende Kind mit jedem beliebigen, aber scharf und deutlich gesprochenen Satz zum Schweigen bringen. Auch dies ist wesentlich der Erfolg allgemeiner Rührigkeit und Lebendigkeit, welche in der bestimmten und energischen Rezeptivität ein Genüge findet, gerade so wie wenn man ihnen Dinge zeigt und deutet, anstatt, daß ihre Augen nur schweifende und schwebende Blick in die Umgebung senden.

Zu beidem aber tritt gewiß das ästhetische Element: Kinder betrachten das Sprechen überhaupt, zumal aber scharf artikuliertes Sprechen, wie eine  Kunst,  welche sie gern üben und geübt hören; ein Gedicht vorgelesen ist für sie ein Artikulationskonzert. Die kleine Klara, fast sechs Jahre alt, klug und aufgeweckt, erzählt der Mutter noch, der Vater habe heute beim Spaziergang "schön gesungen", da er ein Gedicht deklamiert hatte; aber der kleine DAVID sagte schon mit etwa zwei Jahren, als die Tante deklamiert hatte: "Tantchen kann hübsch singen". Die rhythmisch geordneten Laute wirken erregend und befriedigend; aber auch die bloß scharf artikulierten mögen, im Vergleich zu schlaffen und verwaschenen, vollends zu bloßen Schällen und Geräuschen, wie wirkliche Rhythmen die Seele erregen.

Das Kind muß also die Sprachlaute selbst erzeugen, es muß auch - und kann allein - aus den Erfahrungen, die es an seinen eigenen Sprachorganen macht, sie erzeugen lernen; es muß ferner die Anschauungen von den Dingen ebenfalls selbst gewinnen, das Sehen und Hören, Tasten und Schmecken braucht, aber auch  kann  dem Kind nicht gelehrt werden; dasselbe gilt von der Verbindung und der ganzen Mechanik der Vorstellungen; schließlich muß es auch die Verknüpfung beider (der Anschauung des Dings und der Aussprache des Lautes) von selbst lernen, denn wie wollte man einem Kind erklärlich machen, daß ein Wort dieses oder jenes  bedeutet?  - Man kann also nur dem natürlichen psychischen Prozeß in der Kinderseele zuhilfe kommen, man kann ihm die Nachahmung der Wörter durch ein isoliertes und deutliches Sprechen, die Auffassung der Dinge durch Vorzeigen und Hindeuten, die Verknüpfung beider durch Anordnung der gleichzeitigen Wahrnehmung  veranlassen, aber auch nur veranlassen;  denn von der eigenen Tat des Kindes und vom Grad seiner Energie hängt es immer ab, wieviel diese Veranlassungen helfen; wie dann auch die Kinder den unendlich geringsten Teil der Sprache durch so ein absichtliches Sprachlernen empfangen, und den größten durch selbständiges, teils zufälliges, teils aufmerkendes Auffassen. Nur in dem Umstand, daß das Kind keinen Gegenstand sehen, keine Tätigkeit wahrnehmen kann, ohne daß ein fertiges Wort dafür vorhanden ist, liegt es, daß das Kind, anstatt sich eine Sprache zu schaffen, sich die unsrige aneignet; (3) denn sehr früh schwindet im Kind das  Bedürfnis,  in selbstgeschaffenen Wörtern zu reden, weil es die gehörten nachahmen  kann,  und bald darauf die Möglichkeit und Zulässigkeit, weil es, um verstanden zu werden, sie nachahmen  muß.  Der psychisch-organische Prozeß aber, wodurch das Kind zur Sprache und deren Verständnis gelangt, bleibt, wenn auch die Wörter alle nachgeahmt sind, dennoch (in der Grenze des bisher Erwähnten) der gleiche, wie in der ursprünglichen Sprachschöpfung. Seit WILHELM von HUMBOLDT hat man erkannt und mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß Sprache besitzen nicht einen Schatz von Wörtern bedeutet, den man verwendet, sondern: besitzen heißt sprechen, und sprechen ist eine sich fortwährend wiederholende Erzeugung der Sprachform für jeden Gedanken, welcher ausgedrückt wird. Daß Sprache nicht den überkommenen, gleichsam passiv aufgenommenen und wie ein Fertiges und Bereitliegendes nur verwendeten Schatz von Wörter bedeutet, dies wird durch jeden Sprachfehler bewiesen, welchen das Kind beim Sprechen seiner Muttersprache macht. Kinder sind starke  Analogisten;  wer hat nicht gehört, wie sie aufgrund der gehörten Sprachformen gleichartige gegen die Regel und gegen die Überlieferung bilden? Wir "binnen" dagewesen; wir "lauften" davon, "vaternste Tante", sagte meine Nichte, die ihre Vater zärtlich liebte, um die Tante zu liebkosen. Was in diesen zugunsten der Regel oder gegen dieselbe gemachten Sprachfehlern deutlich zutage tritt, das wird sich auch im richtigen und regelrechten Sprechen ereignen; es werden keineswegs bloß alle wirklich gehörten Wortformen verwendet, sondern sehr viele werden frei und aus eigener Tätigkeit, wenn auch dem grammatischen Gesetz entsprechend, hervorgebracht. Sprechen ist also ein fortgesetzter Schöpfungsakt, welcher sich zwar in den Bahnen der Überlieferung bewegt, aber dennoch Schöpfung, Erzeugung von Sprachformen und durchaus nicht bloß eine Wiederholung derselben ist. Wie dieser Gedanke einerseits durch jeden Sprachfehler des Kindes - welcher sonst psychologisch unmöglich wäre - bezeugt wird, so läßt er andererseits allein die Möglichkeit einsehen, daß eine Fortbildung der Sprache, eine neue aber angemessene (oder auch nur neue Verwendung) von Wörtern stattfindet. Der schöpferische Trieb der Sprache, den man in der Kinderstube beobachten kann, macht sich während der Erlernung geltend, um dann durch die Forderung der Erwachsenen und die Macht der Überlieferung (4) verdrängt zu werden, aber glücklicherweise überdauert er in energischen Geistern die Zeit der Erlernung, um später nach vollendeter Kenntnis der erlernten Sprache dieselbe zu bereichern und zu veredeln (5).

Nunmehr aber müssen wir eine wesentliche und tief eindringende Differenz erörtern, welche sehr bald eintritt.

Nur ein geringer Teil der Wörter, welche das Kind lernt, haben anschauliche Dinge und Tätigkeiten zu ihrem Inhalt; wie Tisch und Glas, essen und gehen; aber schon in den obigen einfachen Sätzen kommen die Wörter vor:  Du sollst, wir wollen, er muß;  gleich diesen aber hat eine ganz unermeßliche Anzahl von Wörtern, die das Kind sprechen und bzw. allmählich verstehen lernt, keine sinnliche Anschauung zum Inhalt;  alle Formwörter,  und von den Stoffwörter wieder  alle,  die eine im weitesten Sinne  moralische  Bedeutung haben; aber auch solche, die anschaulich gedacht werden  können,  sind es noch lange nicht für das Kind, z. B.  wachsen, leben, sterben, ein Monat, ein Jahr  usw. usw. bieten dem Kind keinen anschaubaren Inhalt. Wie lernt nun ein Kind diesen Inhalt kennen? wie lernt es die Wörter verstehen?

Der Denkinhalt all dieser Wörter besteht nicht in einer dinglichen Anschauung, entsteht nicht aus Sinnesempfindungen; wir bezeichnen ihn nach seiner psychologischen Qualität als: Vorstellung. Ihrem Inhalt nach sind es  innere  Anschauungen; d. h. einerseits Anschauungen, welche Beziehungen enthalten, die in uns zwischen den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung stattfinden, und welche selbst niemals Gegenstand der sinnlichen Empfindung sein können; also Beziehungen der Zeit überhaupt, dann des Ganzen zu den Teilen, der Ursache, des Zwecks usw.  Wachsen  können wir nicht sehen; aber die verschiedenen Wahrnehmungen der Pflanze, des Tieres aufeinander bezogen, ergeben die  innere Anschauung  des Wachsens. Andererseits sind es Anschauungen, welche einen rein inneren, sinnlich nicht wahrnehmbaren Vorgang und seine Qualitäten betreffen, wie alles seelische Geschehen, "Wollen", "Fühlen" und schließlich alle ethischen und ästhetischen Bezüge des Wahrgenommenen. Im Unterschied also von der  äußeren,  d. h. sinnlichen, unmittelbar aus Sinnesempfindungen gebildeten, nennen wir jene  innere  Anschauungen. (6) Nach der psychologischen Form oder Weise des Prozesses aber, wie dieser Inhalt in den Kindern auftaucht, besteht er aus  Vorstellung Worin sich diese von der Anschauung unterscheidet, können wir vollständig, um es am rechten Ort und nicht zweimal zu tun, erst später bei der Wirkung der Sprache auf den Geist darstellen. Hier aber wird es vorläufig genügen, den Unterschied darin zu sehen, daß die Vorstellung eine durch die Sprache oder durch das Wort erfaßte Anschauung ist.

Alle diese Vorstellungen nun lernt das Kind  durch  die Sprache,  durch die Wörter  kennen, deren Bedeutung sie sind. Wie aber kann durch das Wort ein Gedanke, ein psychischer Akt mitgeteilt werden, wenn man das Wort noch nicht versteht?  Dies geschieht durch die Beziehungen, welche diese Vorstellungen zu den anschaulichen Dingen, also auch die Vorstellungswörter zu den Anschauungen haben.  Denken wir uns, das Kind ist im Besitz einer Anzahl von Anschauungen mit den entsprechenden Wörtern: essen, trinken, gehen, laufen, sitzen, liegen usw.; seine Beziehungen zu diesen Anschauungen kennt es sehr wohl, aber es weiß sie noch nicht auszudrücken; es  will  essen,  will  gehen, aber spricht nur:  "essen", "gehen".  Die Erwachsenen sprechen sie unter sich und zu ihm aus: wir  wollen  essen, du  sollst  gehen. Das Kind faßt zunächst auch diese Wörter, z. B.  wollen  auf; es merkt aber bald:  wollen  geht dem  Geschehen  voran; noch mehr, es begehrt zu trinken, es langt nach dem Becher, und man fragt:  willst  du trinken? das Kind merkt also, sein Begehren ist verstanden, und mit dem "Wollen" benannt; das Kind lernt also seinen  eigenen inneren  Vorgang auffassen, d. h. mittels des Wortes, welches auf denselben hindeutet,  apperzipieren Man bedenke, wie oft sich das wiederholt, und man begreift, daß das Kind das Verhältnis zwischen dem Wort und der Tatsache ebenfalls begreift. Also weil auch die Wörter und Gedanken des  inneren  Geschehens sowohl physiognomisch als praktisch - durch Langen, Heben, Wenden, Blicke etc. - begleitet und dadurch  anschaulich  werden, finden sie ein Mittel der Überlieferung.

Von diesen zu den eigentlichen Formwörtern ist dann auch immer noch ein neuer Schritt; aber endlich können auch bloße Beziehungen des Angeschauten und dadurch allmählich auch reine Beziiehungen des Anschauens und des Vorstellens selbst in Worte gefaßt werden. Auf diese Art sondert sich dann das  du, wir, er  usw., das  mein  und  dein  heraus. Wer etwas hat, festhält, sagt  mein  und bracht es dann nicht herzugeben; wer etwas gibt, sagt: es ist  dein;  anstatt der Personennamen  Vater, Mutter, Carl, Fritz,  welche das Kind wie Anschauungswörter verstehen gelernt hat, wird  du, er, wir  gesagt; so erkennt es allmählich ihre Gleichbedeutung, obwohl ihm die eigentliche Möglichkeit derselben noch lange ein Rätsel sein müßte, wenn es für das Kind überhaupt ein Rätsel gäbe, und wenn ihm die Ursache erkennbar wäre, weshalb für  uns "Carl  soll gehen", weniger rätselhaft ist, als  "er  soll gehen". Es ist leicht einzusehen, weshalb das Kind das Wort "ich" so spät gebraucht und stattdessen seinen Namen sagt:  Max will essen  für:  ich will essen;  denn dieses Pronomen wird stets nur von  einer  Person, der redenden gebraucht;  du  aber und  er  usw. sagt derselbe Redende zu vielen andern; je häufiger aber die Verschiebung und Sonderung, desto leicht ist das Verständnis. Auf dieses Faktum hat man jedoch oft zu großes Gewicht gelegt; es ist sicher, daß das Kind auch "er" und "wir" nicht viel früher anwendet, als "ich", und auch für jene lieber die Eigennamen gebraucht. - Wie wahr die Tatsache ist, daß Kinder erst die Wörter und dann die Vorstellungen erlernen, und daß auch der ganze Prozeß oben richtig aufgefaßt ist, bestätigt mir die Erfahrung, welche SIGISMUND an seinem Kind gemacht hat, die ich vor mehreren Jahren ebenfalls an meiner kleinen Nichte gemacht habe. Diese Kinder nämlich gebrauchten beide das Wort "du" früher als Drohungszeichen "du du", bevor sie es als Pronomen aufgefaßt hatten. Hier war also die an die zweite Person gerichtete Drohungsanrede die vermittelnde Anschauung für die Vorstellung der zweiten Person überhaupt.

Ich kann nicht unterlassen, hier ein interessantes und instruktives Beispiel aus meiner Erfahrung anzuführen: "warten" ist ein ziemlich abstraktes Wort; gleichwohl hat meine kleine Nichte dasselbe unter den  ersten  Wörtern, welche sie sprechen konnte, hervorgebracht und richtig angewendet, und zwar in der Redensart:  na warte dach = na warte doch.  Es kam nämlich so: das Kind hatte eben etwas schneller gehen, ein wenig laufen gelernt; spielend lief die Kinderfrau mit dem Kind um die Wette, ließ es oft voranlaufen und rief dann immer:  na warte doch;  und als nun einmal die Frau voran war, so rief das Kind sein:  na warte dach!  Gewiß hat für das Kind die ganze Phrase nur  eine  Bedeutung, sie gilt als  ein  Wort:  Warten;  aber es ist natürlich, daß das Kind zunächst auch das Wort  warten,  ohne  na  und ohne  doch,  ebenfalls bald versteht, die Partikeln  na  und  doch  möchte es wohl aber erst später verstehen und anwenden lernen. (Allerdings zeichnete sich das Kind überhaupt durch eine ungemein frühzeitige und sehr bald richtige Verwendung der Partikeln aus.) Es ist demnach die zweifache Tatsache festzuhalten, einerseits, daß eine unendlich große Anzahl von Vorstellungen dem Kind nur durch die Sprache zugeführt werden, andererseits, daß jede Vorstellung, zu welcher gehörte Worte eine Veranlassung geben, dennoch  im Kind selbst entstehen muß.  (7) Wo sich nun, wie in den obigen Beispielen, die Vorstellung unmittelbar auf Anschauungen beziehen, ist der Prozeß der Empfängnis der Vorstellung und das Verständnis des Wortes aus dem bloßen Zusammenhang sichtbar. Aber bei weitem nicht immer ist er so einfach. Wir werden im letzten Kapitel bei der Darlegung der Differenz von Vorstellung und Wort noch deutlicher erkennen, weshalb die wirkliche Erlernung der Sprache, das vollkommene Verständnis der Wörter, auch für einzelne Wörter selbst ein allmählicher und zuweilen sehr mannigfaltiger Prozeß ist.

Viele Gedanken, sagten wir, wachsen im Menschen nur mit der Sprache, also durch Tradition von außen auf; in dieser überwiegt zuerst das Sprachliche, das heißt: es sind nur aufgefaßte Worte mit noch ganz unklarer, unbestimmter, überhaupt mit einem Minimum von Vorstellung; allmählich aber wächst sich der Gedanke bis zur Selbständigkeit heraus, bis er endlich umgekehrt das Sprachliche überwiegt. Das gehörte Wort ist gleichsam das Samenkorn, in die Seele gelegt; die innere Triebkraft der Seele aber durchdringt und befruchtet es mit geistiger Nahrung (mit den vorhandenen bezüglichen Vorstellungen), so daß es selbst zu geistigem Leben erwacht und empor wächst. Ein klassisches Beispiel zu dieser Stelle hat mir nach dem erscheinen der ersten Auflage FRIEDRICH RÜCKERT mitgeteilt. Ein Enkelchen desselben hatte sich die Phrase angeeignet: "Das ist doch ein Unterschied"; es war aber offenbar, daß es noch gar keinen bestimmten Sinn mit den Worten verband. Eines Tages kommt das Kind, das bis dahin ein Schaukelpferd besessen hat, aufs Land, wir in den Stall geführt und auf ein lebendes Pferd gesetzt; "das ist doch ein Unterschied" ruft es mit so lebhaftem Glanz der Augen und so bewegter Miene, daß man deutlich erkennen konnte, es habe in diesem Moment die Bedeutung des "Unterschiedes" erfaßt.

Aber ähnlich geschieht es sogar bei vielen Vorstellungen, welche sich auf sichtbare Wesen beziehen, also scheinbar durch bloße Vermittlung der sinnlichen Organe in der Seele gebildet werden. Zum Beispiel die Vorstellung  Himmel, Stern.  Im Kind ist sie durchaus nicht etwa der Erfolg der sinnlichen Anschauung des blauen Gewölbes; im Gegenteil, dies möchte der geringste Bestandteil des weiten, unbestimmten Begriffs sein; sondern durch die Sprache, durch allerlei Reden über den Himmel bildet sich davon eine Vorstellung im Kind. Anfangs ist dieser Vorstellungsinhalt gewiß so unbestimmt, daß er  nur in der Form der Sprache  festgehalten wird; erst allmälich bildet die Seele aus dem Wort heraus oder in das Wort hinein eine Vorstellung, welche auch von ihm ablösbar, d. h. definierbar wird. (8) Ebenso verbindet sich mit dem Wort  Stern  dem Kind gewiß ein ebenso winziger wie unklarer Inhalt; erst später  bedeutet  das Wort etwas Großes. Ein interessantes Beispiel von einer Modifikation dieses Bildungsprozesses gibt uns GOTTFRIED KELLER im "Grünen Heinrich"; er berichtet aus seiner Kindheit, wie er die Alpen in der Ferne sieht, und "für jetzt konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große  Berge  und mächtige Zeugen von der Allmacht Gottes, ich konnte und mochte sie darum nicht von den Wolken unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich am Abend fast ausschließlich beschäftigte,  deren Name aber ebenso ein leerer Schall für mich war, wie das Wort Berg.  Da die fernen Schneekuppen bald verhüllt, bald heller, bald dunkler, weiß oder rot sichtbar waren, so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wunderbares und Mächtiges, wie die Wolken". Hier kommt dem Kind von der einen Seite das Wort von außen, andererseits entwickelt sich durch allerlei Kombinationen ein höchst mannigfaltiger Denkinhalt von innen; das Band der Verknüpfung mag anfangs lose sein, aber es ist eine irrige Reflexion des Erwachsenen, daß ihm das Wort ein  leerer Schall  war; vielmehr ist nichts gewisser, als daß das Kind bei der Nennung des Namens  Berg  stets an jenen reichen, wechselvollen Inhalt gedacht haben wird. Festzuhalten also ist die Tatsache (9), von welcher man sich bei genauer Beobachtung aller Kinder überzeugen kann, daß sie eine sehr große Zahl von Wörtern hören, aufnehmen, und rein lautlich wiederholen, lange bevor sie irgendwie den Sinn derselben erfassen. Die Neigung der Kinder, mit solchen mehr oder minder leeren Worthülsen zu spielen, ist sehr lebendig. Der Übergang zum Denkinhalt des Wortes ist oft ein sehr langsamer; selbst bei Erwachsenen kann man für viele Wörter jenes Minimum von wirklicher Bedeutung in der Seele antreffen, welches genügt, um sie und die Kinder sich der Worte bedienen zu lassen. Meist besteht nun die Bedeutung des gebrauchten Wortes für das sprechende Kind in einer bloßen  Beziehung  auf das ganze Erscheinungsgebiet, dem es angehört. Anstatt des bestimmten Denkinhalts ist ihm eben nur die Beziehung der Worte, allenfalls auch der Sache oder des Gedankens zu einem gewissen Umkreis von Erscheinungen gegenwärtig. (10)

Gewiß aber und höchst wichtig ist, daß alle moralischen, religiösen und ästhetischen Vorstellungen, welche die Kinder durch die Sprache zuerst empfangen, dennoch nicht durch dieselbe mitgeteilt, verständlich gemacht werden können, es sei denn, daß der eigentliche Inhalt derselben, die moralischen, ästhetischen Gefühle im Gemüt des Kindes selbst entspringen. Wir werden in der Abhandlung über den Ursprung der Sitten darauf zurückkommen und wollen hier nur andeuten, daß die moralischen und ästhetischen Gefühle aus demselben Urquell, wie ursprünglich in der Geschichte der Menschen, in jedem Individuum immer wieder entspringen müssen, wenn die Vorstellungen, die Wörter, in welche sie gekleidet sind, nach ihrem wirklichen Inhalt wahrhaft verstanden werden sollen. So wenig man einem Blindgeborenen durch Worte klar machen könnte, was eine Wahrnehmung der Dinge durch Licht und Farben wirklich bedeutet, ebensowenig kann man dem, welcher schlechterdings ohne die innere Regung des moralischen Gefühls wäre zeigen oder sagen oder erklären, was ein solches ist. - Nunmehr glauben wir hinlänglich orientiert zu sein, um den Prozeß der Sprachaneignung kurz auf seinen wissenschaftlichen Ausdruck zu bringen. Wir dürfen dabei von der Erkenntnis, Aneignung und Anwendung derjenigen Wörter absehen, welche sich unmittelbar an sinnliche Anschauungen knüpfen (mit denen zugleich die Gewalt über die Sprachorgane, die Gewandtheit ihres Gebrauchs erzeugt wird), denn dies ist oben genügend entwickelt. Wir sehen ferner ab von der jener ersen ganz entgegengesetzten letzten Aneignung von Wörtern durch die Hinzufügung einer  eigentlichen Erklärung  oder Definition, denn diese ist weniger eine sprachliche als eine wissenschaftliche Tätigkeit. Es bleibt demnach der Prozeß zu charakterisieren, durch welchen die Masse der eigentlichen und bzw. abstrakten Denkinhalte, also der augenscheinlich größte Teil des gesamten Sprachschatzes aufgenommen wird. Die Wörter werden zuweilen einzeln, meist aber als Satzglieder vom Kind vernommen, aufgefaßt, sehr häufig auch ganz zweck- und bedeutungslos nachgesprochen; die Aufmerksamkeit der Seele richtet sich, auch ohne eine direkte und bewußte Absicht, dahin, die gehörten und gesprochenen Worte zu verstehen, also Vorstellungen damit zu verbinden; diese Vorstellungen müssen aber in der Seele selbst entstehen, sie können ihr nicht von außen gegeben werden, sie entstehen aus der eigenen Tat der Seele dadurch, daß das neue Wort mit den bereits vorhandenen Anschauungen und Vorstellungen  apperzipiert  wird, und die Frucht dieser Apperzeption ist es, daß diejenige Vorstellung  gefunden  oder  geschaffen  wird, welche auch der Sprechende nach dem objektiven, tatsächlichen Zusammenhang damit verbindet. - Ohne das gehörte Wort würde das Kind in den meisten Fällen die Vorstellung nicht bilden, es würde sich mit dem Besitz der früheren begnügen; es würde z. B. keine Pronomina brauchen, da es die Eigennamen selbst gebrauchen kann, aber das Wort gibt ihm wiederum nicht die Vorstellung, sondern zeigt nur an, daß der Sprechende eine hat, und daß sie also auch vom Kind gebildet werden kann und soll; aber eben deshalb schafft das Kind sich die tatsächlich anwendbare Vorstellung oder die Bedeutung des Wortes. Die Auffassung des Wortes ist demnach der astronomischen Entdeckung vergleichbar, daß irgendwo ein Stern am Himmel fehlt und noch zu entdecken ist; aber die davon verschiedene, obwohl dadurch veranlaßte Entdeckung des Sterns selbst ist das Schaffen der wortbedeutenden Vorstellung. Aus derselben Quelle des Denkens, aus welcher ursprünglich - in der Geschichte des Geistes - diese bestimmte Vorstellung hervorgegangen ist, aus derselben geht sie auch aus jedem Kind hervor; nur daß hier das Wort den Anstoß gibt, jene Quelle fließen zu lassen, was sonst nur selten geschehen würde.

Die gesunde Vorstellung ist aber eben deshalb nicht immer gleich vollständig und richtig, sie ist in allmählicher Bildung begriffen, wie eben gezeigt ist. Ein einfaches Beispiel davon ist eben folgendes: Ein Kind hört das Wort "backen". Viele Großstädter haben nie in ihrem ganzen Leben, also noch weniger als Kinder, backen sehen; also aus der unmittelbaren Anschauung haben sie die Vorstellung und Wortbedeutung nicht, aber das Brot, die Semmeln und Kuchen, hören sie, werden gebacken; dies sind die apperzipierenden Vorstellungen, welche dem Wort "backen" einen Sinn geben, und zwar zunächst die ganz dunkle Vorstellung:  Brot und Semmeln usw. "bereiten". 

Unter den apperzipierenden Vorstellungen finden sich häufig auch solche, welche selbst sprachlicher Art sind; die Verwandtschaft des Lautes führt zur Erkenntnis der Bedeutung des neuen Wortes; so im letzten Beispiel, wenn Brot, Semmel und Kuchen früher schon mit dem gemeinsamen Namen  Gebäck  bezeichnet waren, so führt offenbar die Lautähnlichkeit mit  Backen  zu dieser Vorstellung. Ebenso bei Wörtern, wie etwa  Fleischer, Tischler, Schuster;  der Zusammenhang der Rede in Verbindung mit der bereits vorhandenen Kenntnis des Wortes und der Vorstellung  Fleisch  wird auch die Vorstellung  Fleischer  erzeugen; zunächst aber gewiß auch nur dunkel, etwa: ein Mann, von dem das Fleisch geholt wird. Ergänzungsweise wollen wir noch anmerken, daß auch eine etwaige Kenntnis analoger Sprachbildung mit zur Apperzeption beitragen kann, so wenn das Kind das Wort  Tischler  als Tischmacher schon kennt, also auch die Beziehung zum Wort  Tisch,  dann wir die Reproduktion dieser Analogie auch in  Fleischer, Bäcker  usw. die gleich e Bedeutung, nämlich die Beziehung auf Fleisch, Gebäck usw. bekommen, also aus dem Wort oder für es die Vorstellung schaffen; aber gewiß erst allmählich wird das Kind das Bestimmte dieser Vorstellung erkennen, daß nämlich die Endung "er" in  Fleischer  das  Verkaufen,  in  Fischer  das Fangen, in  Tischler  das Machen bedeutet.

Während also die früheste Stufe der Spracherlernung der onomatopoetischen Stufe der Sprachschöpfung darin völlig gleich ist, daß der Laut und die Vorstellung zugleich perzipiert wird, nur daß dort der Laut ein überlieferter, hier ein selbständig geschaffener ist, findet sich die höhere Stufe der Sprachaneignung mit der höheren, charakterisierenden Stufe der Sprachschöpfung im völligen Gegensatz; hier nämlich wird eine neue Anschauung von einer früheren bereits mit Namen benannten apperzipiert und erhält dadurch selbst den Namen, das Wort, dort aber wird ein neues Wort gegeben und durch die Apperzeption desselben wird ihm die Bedeutung, die Vorstellung hinzugefügt. Das Wort selbst leistet gleichsam Hebammendienste bei der Geburt des Gedankens. Dies sehen wir auch bei Erwachsenen in jenen Momenten aufleuchtender Sympathie der Seelen, welche zu den glücklichsten des geistigen Verkehrs gehören, wenn nämlich Einer die Worte findet für die Gedanken des Anderen, welche dieser selbst nicht finden konnte. Was diesem aber selbst gefehlt hatte, war offenbar nicht bloß die Mitteilungsfähigkeit, sondern die Festigkeit und Bestimmtheit des Gedankens; indem er ihn Anderen nicht mitteilen konnte, vermochte er ebensowenig ihn sich selbst gegenständlich zu machen. Und mit der Schöpfung der Sympathie, mit der erlösenden Wirkung des Wortes ist gewiß auch eine weitere Einwirkung desselben auf den Gedanken des Anderen verknüpft, denn indem dieser an Klarheit und Bestimmtheit gewinnt, wird nicht nur seine psychologische Beschaffenheit, sondern auch sein (objektiver) eigener Inhalt verändert.

Diese Wirkung des  gehörten  Wortes aber ist wiederum eine der charakterisierenden Schöpfung des Wortes vollkommen gleiche; denn auch hier wird die gegenwärtige Anschauung von der wortumkleideten früheren offenbar nicht bloß benannt, sondern auch innerlich befestigt und dem Inhalt nach bestimmt.



LITERATUR - Moriz Lazarus, Das Leben der Seele, Bd. 2, Berlin 1878
    Anmerkungen
    1) Daher kommt es auch, daß Lippenlaute wie  papa, mama, papen  am leichtesten vom Kind nachgeahmt werden; aber gewiß nicht durch das bloße Sehen der Lippenbewegung, sondern durch das gleichzeitige Hören und die dadurch vermittelte, reflexive Anregung der Stimmorgane. Deshalb ist es auch erklärlich, daß Kinder noch früher als  papa  und namentlich als  mama, atta  usw sagen, aus eigener nicht nachgeahmter Zungenbewegung. - Das erste Wort eines kleinen Mädchens, das von seinem Onkel immer mit "Hase" angeredet wurde, war "Hase".
    2) Nur dem Taubstummen, welchem die natürlichen Veranlassungen zur Erregung der gesunden Stimmorgane teils fehlen teils wegen Mangels an Gehör vermindert und auf Gebärden abgelenkt werden, wird das Sprechen künstlich gelehrt; aber man weiß, daß der Taubstumme bei weitem älter und verständiger sein, daß man eine unsägliche Mühe auf diesen Unterricht verwenden muß, und endlich wie verhältnismäßig gering der Erfolg gerade in lautlicher Beziehung ist.
    3) Kinder lernen deshalb, in ein anderes Land geführt, die Sprache desselben ungemein viel schneller als die Erwachsenen; dies hat seinen Grund wesentlich auch darin, daß sie noch so leicht vergessen, nämlich die eigene Sprache. Die Verbindung zwischen dem Wort der Muttersprache und der Anschauung seines Inhalts ist noch nicht so fest geworden, daß sie der neuen Verbindung mit dem fremden Wortklang hemmend in den Weg tritt. Die Erwachsenen lernen eine fremde Sprache  durch  die eigene, die Kinder  trotz  derselben; denn bei Erwachsenen sind die Anschauungen der Dinge und Ereignisse so von den Worten durchdrungen oder so stark und fast völlig apperzipiert, daß die neuen Worte der fremden Sprache nicht sowohl als Namen der  Dinge,  wie als Gleichungen der heimischen  Worte  aufgefaßt werden; Kinder aber, zumal im zarteren Alter wiederholen gleichsam den Prozeß der Sprachaneignung, welcher in der Muttersprache stattgefunden hatte. - - - Also, um dies hier noch einmal zu betonen: selbst für die Erlernung einer fremden  Sprache  bildet die eigene das vermittelnde Apperzeptionsorgan; jener gegenüber ist diese, ebenso wie der zu erkennenden objektiven Welt gegenüber  Hebel  und  Hemmung  der Erkenntnis und Aneignung. Man drngt durch die eigene Sprache  leichter  und  schneller  in die fremde, aber man dringt  tiefer  in dieselbe, wenn man jene allmählich vergißt.
    4) Die Überlieferung oder die Sprache der Erwachsenen hat durchschnittlich bessere, d. h. geschicktere und mehr entsprechende Wortformen, als die, die das Kind erzeugt; aber auch nur durchschnittlich, denn manche Bildung und Wendung entringt sich der strebsamen Kinderseele, welche die der Erwachsenen bereichern und belehren könnte.
    5) STEINTHAL: Nicht sprechen, sondern verstehen hat der Urmensch zu lernen in der Urgesellschaft, wie das Kind in der folgenden Zeit. Es lernt die entwickelte Sprache späterer Geschlechter, jener die eben hervorbrechende, eben in die Luft tretende Sprache verstehen; und wie das Kind die Sprache, die es lernt, nicht geschaffen hat, so lernt auch der Urmensch die Ursprache, die er ebenfalls nicht geschaffen hat, die vielmehr nur von der Seele der Urgesellschaft geboren wird. - - - Sie, die Sprache, entspringt aber der Seele des Menschen zu allen Zeiten in gleicher Weise, wird immer in gleicher Weise im Bewußtsein konzipiert und geboren; denn die Seele ist in allen Geschlechtern der Menschen dieselbe, und das Bewußtsein wird zu allen Zeiten von denselben Gesetzen regiert. Wie jedes Embryo in einer bestimmten Epoche seiner Entwicklung dieses und jenes Organ bildet, so bildet die Seele auf einem gewissen Punkt notwendig Sprache, heute wie in der Urzeit. (Abriß der Sprachwissenschaft, Seite 84f)
    6) Soll ich erst noch daran erinnern, daß ansich, als seelischer Vorgang betrachtet, alle  Anschauung,  auch die wir, weil sie einen außer uns befindlichen, sinnlich wahrgenommenen Gegenstand betrifft, eine äußere nennen, eine innere ist? Der Aufmerksamkeit des Lesers empfehlenswert scheint mir dies: daß nicht bloß das geistige Geschehen und seine idealen Beziehungen, sondern auch die äußere objektive Welt zum Teil durch innere Tätigkeit erfaßt wird, welche ganz und gar von der Natur des denkenden Wesens abhängig ist. Von gewissen äußeren Beziehungen der Dinge, von objektiven und realen Verhältnissen derselben, wie etwa Wachsen und Leben - welche der gesunde Menschenverstand immer als vollkommen reale Vorgänge ansehen wird - könnten wir doch nie eine Anschauung haben, wenn unsere Seele wie bei der Empfindung nur im Moment leben würde, wenn die früheren Empfindungen und Anschauungen nicht dauernd erhalten blieben, so daß die späteren sich mit ihnen durch Vergleich und Verbindung vereinigen können. Ist aber dieses Verhältnis des Erkenntnisvorgangs zu seinem Gegenstand vollkommen klar erfaßt, dann begreift man leicht, wie nicht bloß zeitlich entfernte aber sachlich zusammengehörige Empfindungen, sondern auch gleichzeitige Beziehungen derselben von der inneren Tätigkeit abhängen; also die des Ganzen zu Teilen, Ursache und Wirkung, Zweck und Mittel usw.
    7) Schon HERBART bemerkt (Werke II, Seite 208): "Alle Bedeutung der Rede muß der Hörer aus sich selbst hergeben." - - - Diese einfache Tatsache ist gleichwohl von der eingreifendsten Bedeutung für alle Erziehung und jeden Unterricht und ein unentbehrlicher Führer und Warner für jeden Lehrer. Darauf hat HERBART selbst schon hingewiesen. (Pädagogische Schriften II, hg. von WILLMANNs, Seite 541) "Eben dieses Apperzipieren nun muß während allen Unterrichts in beständiger Tätigkeit sein. Denn der Unterricht hat nur Worte mitzuteilen; die Vorstellungen zu den Worten, worauf der Sinn der Rede beruth, müssen aus dem Innern des Hörenden kommen." Wenn nun HERBART an dieser Stelle fortfährt: "Aber die Worte wollen nicht bloß verstanden sein, sie wollen interessieren. Dazu gehört ein  höherer Grad  und eine größere Leichtigkeit der Apperzeption": so verweise ich den Leser zur Erläuterung auf die im folgenden Kapitel gegebene Fortsetzung der Lehre von der Apperzeption überhaupt. - - - Trotz ihres etwas mystischen Anfluges bleibt es immerhin eine treffenden Bemerkung des Herrn H. SEMMIG: "Das Kind", Leipzig 1876, zweite Auflage: "Bei der Bildung der Sprache ist noch eine andere geheimnisvolle Macht tätig, die von  uns  ausgeht. Man spricht zum Kind, es versteht noch nichts und doch spricht man, als ob es verstände; gerade durch diesen unseren Festen Glauben prägt sich unser Wort mit seinem Sinn in seinen Geist." - - - Wenn aber die Familie die Schleusen der Sprache ohne Hemmung öffnen darf, dann hat die Schule desto ernster darüber zu wachen, daß nur verstandene Worte vom Schüler gehört und gebraucht werden.
    8) Die Definition zeigt immer, daß man denselben Vorstellungsinhalt durch andere Worte ebenfalls fassen und vergegenwärtigen kann; daher darf eine gute Definition nicht dasselbe Wort wiederholen.
    9) Auch zu Nutz und Frommen der Pädagogen.
    10) Noch ein sehr instruktives Beispiel, das ich neuerdings erlebte, möge hier eine Stelle finden, um den überaus wichtigen Gedanken, wie das Wort zuerst aufgefaßt und wiederholt und erst allmählich mit seinem Bedeutungsinhalt erfüllt wird, zu befestigen. Ein Kind von vier Jahren tritt an den Tisch, wo Karten gespielt wird, und sagt aus freien Stücken: "Spadilla"; natürlich lacht alles und man fragt: "was heißt denn das?" es antwortet: "wenn man Karten spielt." Hier kann man, sozusagen, deutlich in die Seele des Kindes hineinsehen; zu einer ganzen Masse von bestimmten aber verwickelten und in ihren Beziehungen völlig unverstandenen Anschauungen, die das Kartenspiel der Seele des Kindes dargeboten hat, ist ein oft gehörtes Wort getreten; dies wird vernommen und festgehalten und mit einer gewisse Absichtlichkeit vorgebracht; aber es drückt eine bloße (fast möchte man sagen ganz abstrakte) Beziehung zur Anschauungsmasse aus. Nur das Wort als Lautmasse ist  klar  und seine Beziehung zum Kartenspiel ist  entschieden  und  fest;  aber eine  dunkle  Beziehung auf einen chaotischen Anschauungskomplex. Eben so charakteristisch wie begreiflich ist es demnach, daß  Kinder  und gemeine Leute ihre Antwort auf die Frage: was ist oder bedeutet dies? also ihre Definitionen fast immer mit den Worten anfangen: "wenn man ... " - - - Ebenso deutlich und lehrreich ist der folgende am gleichen Kind kurz darauf beobachtete Fall: man hat ihm scherzweise auf seine Fragen mitgeteilt: der Vater, der verreist ist, habe einen Vortrag gehalten. Bald nachher erfährt man, das Kind habe dem Dienstmädchen erzählt: "Papa hat in W. einen Vortrag gehalten." Jetzt wird es gefragt, was ist denn "ein Vortrag?" und - mit allen Zeichen jener offenbaren Beschämtheit, welche die Kinder zeigen, wenn sie etwas wissen oder sagen, was über ihr Verstehen geht, antwortet es mit den Worten:  "auf der Universität."  - Hier sind kaum irgendwelche auch nur unbestimmte Anschauungen vorhanden; aber ein Komplex von flüchtigen, halbleeren Vorstellungen und  "Vortrag" gehört in diesen Komplex,  das ist es, was das Kind davon weiß, was ihm genügt, um von "Vortrag" zu reden, ja um eine Mitteilung zu machen, die in der Seele des Hörenden den vollkommen deutlichen und zutreffenden Sinn hat, welchen es selbst nur in flüchtigen und schwankenden Beziehungen ahnt. - (Vgl. außerdem noch: Zur Philosophie der Kindersprache von AGATHON KEBER, Morgenblatt 1862, Nr. 35 und 36)