ra-2p-4ra-1W. JamesD. SanbornE. DreherE. StettheimerG. Störring    
 
WILLIAM JAMES
Das Rationalitätsgefühl
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"Nackt wird der Mensch in die Welt geschleudert, und zwischen ihm und der Natur gibt es keine Regeln zivilisierter Kriegsführung. Die wissenschaftlichen Spielregeln - Beweispflicht, Hypothesenbildung, vollständige Induktionen und dgl. - sind nur für jene bindend, die sich auf dieses Spiel einlassen."

"Die Interessen selbst sind weder gut noch schlecht, es denn etwa im Hinblick auf eine höhere Klasse von Interessen, die aber selbst wieder bloß subjektive Tatsachen sind und keinen Charakter haben, weder einen guten, noch einen schlechten."

"Man kann die Welt geradezu mit einem Türschloß vergleichen, dessen innere (entweder moralische oder nichtmoralische) Natur sich nie unserer bloß erwartenden Betrachtung offenbaren wird. Die Natur hat uns zwei Schlüssel in die Hand gegeben, mit denen wir das Schloß prüfen können. Wenn wir den moralischen Schlüssel probieren,  und er paßt,  so ist es ein moralisches Schloß. Wenn wir den nichtmoralischen Schlüssel probieren, und  er  paßt, so ist es ein nichtmoralisches Schloß."

Überblicken wir das Gebiet der Geschichte und fragen uns, welche Züge allen großen Epochen der Belebung und Ausbreitung des menschlichen Geistes gemeinsam sind, so finden wir meiner Meinung nach einfach dies, daß sie durchweg dem Menschen vorgehalten haben: "Das innerste Wesen der Dinge entspricht den  Kräften,  welche Du besitzt!" Worin sonst bestand die befreiende Botschaft des ursprünglichen Christentums, als in der Verkündigung, daß Gott jene schwachen und zarten Triebe anerkennt, welche das Heidentum so gröblich übersehen hatte? Man denke an die Reue: wer alles verkehrt macht, der kann doch seine Fehler zumindest bereuen. Für das Heidentum aber war diese Fähigkeit zur Reue nur ein fünftes Rad am Wagen, ein Nachzügler, der nach Torschluß eintrifft. Das Christentum nahm sie in die Hand und machte sie zur einzigen Kraft in uns, die sich geradewegs ans Herz Gottes wendet. Und nachdem die Macht des Mittelalters auch die edlen Triebe des Fleisches solange durch Schmähreden gebrandmarkt und erklärt hatte, die Wirklichkeit sei solcher Art, daß nur Sklavenseelen mit ihr Gemeinschaft pflegen könnten, - worin sonst bestand das "Sursum corda?" der platonischen Renaissance, als in der Botschaft, daß der Urtypus der Wahrheit in den Dingen die ausgedehnteste Tätigkeit unserer ganzen fühlenden Natur beansprucht? Was war LUTHERs Mission oder die WESLEYs anderes, als eine Berufung auf Kräfte, die auch der gewöhnlichste Mensch in sich tragen kann: den Glauben an die Gnade und die Verzweiflung an sich selbst, auf Kräfte also, die persönlich sind und keiner priesterlichen Vermittlung bedürfen, Kräfte, die den Menschen, die sie beseelen, Gott persönlich gegenüberstellen? Was sonst rief den rauschenden Beifall hervor, den ROUSSEAU fand, als seine Versicherung, die menschliche Natur sei im Einklang mit der Natur der Dinge, wenn nur der verderbliche, lähmende Einfluß der Gewohnheit nicht dazwischen treten wollte? Wodurch sonst begeisterten KANT und FICHTE, GOETHE und SCHILLER ihre Zeit, als durch die Aufforderung: "Gebraucht alle Eure Kräfte - das ist der einzige Gehorsam, den das Universum fordert"? Und CARLYLE mit seinem Evangelium der Arbeit, der Tatsachen, der Wahrhaftigkeit, - wodurch macht er einen solchen Eindruck auf uns, wenn nicht durch seine Lehre, daß das Universum nichts von uns verlangt, als was auch der Niedrigste vollbringen kann? EMERSONs Glaubensbekenntnis ferner, daß alles, was je gewesen ist oder sein wird, in der Hülle des Jetzt gegenwärtig ist, daß der Mensch nur sich selbst zu gehorchen hat, sein Wort "Wer sich auf das stützt, was er  ist,  der ist ein Werkzeug des Schicksals", es ist gleichfalls nichts anderes, als die Verwerfung jedes Skeptizismus, wo es sich um die Berechtigung unserer natürlichen Fähigkeiten handelt.

Mit einem Wort: "Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden!" - das ist die einzige Wahrheit, welche die Perioden geistiger Offenbarung dem Jünger der Weisheit enthüllt haben. Aber sie ist imstande gewesen, den größeren Teil der Bedürfnisse seiner Vernunft zu befriedigen. An und für sich hat das Wesen des Universums schwerlich in irgendeiner dieser Formeln eine bessere Erklärung gefunden, als im unerkennbaren  X  der Agnostiker; aber die bloße Versicherung, daß meine Kräfte, so wie sie sind, für das Universum nicht belanglos sind, sondern zu ihm gehören, daß es zu ihnen redet und ihre Erwiderung in gewisser Weise anerkennen wird, daß ich eine Lücke in ihm ausfüllen kann, wenn ich nur will, und kein heimatloser Krüppel zu sein brauche, - diese Versicherung genügt, um das Universum im dargelegten Sinn für mein Gefühl rational zu machen. Nichts wäre törichter, als den endgültigen Sieg irgendeiner Philosophie zu erhoffen, die sich weigert, die Berechtigung unserer gewaltigsten Gefühls- und Willenstriebe nachdrücklich zu betonen. Dem Fatalismus, der in allen Krisen des Verhaltens dem Grundsatz folgt "Alles Streben ist umsonst", wird nie die Oberherrschaft zufallen, denn der Trieb, das Leben als Streben und Kampf aufzufassen, ist in unserem Geschlecht unzerstörbar. Eine Lebensanschauung, die an diesen Trieb appelliert, wird fast überall Anklang finden, trotz aller Inkonsequenz, aller Unklarheit, aller Dunkelheit der Zukunft. Der Mensch braucht ein Gesetz für seinen Willen, und wenn ihm keines gegeben wird, so erfindet er es.

Doch nun ist eine höchst wichtige Folgerung zu beachten. Es gibt so viele verschiedene Mischungen der praktischen Triebe der Menschen, daß eine Philosophie, die in dieser Hinsicht für BISMARCK paßt, für einen sentimentalen Poeten wohl sicherlich untauglich ist. Mit anderen Worten: wenn wir auch  a priori  die Regel aufstellen können, daß sich niemals eine Philosophie durchsetzen kann, die allem ernsten und hoffnungsvollen Streben den Boden unter den Füßen entzieht und die Natur der Dinge als der menschlichen völlig fremd hinstellt, so kann man doch nicht a priori sagen, welche bestimmte Dosis von Hoffnung oder von Gnostizismus hinsichtlich der Natur der Dinge die endgültig siegreiche Philosophie zu enthalten hat. Kurz: es wird sich hier wohl sicher das persönliche Temperament fühlbar machen, und wenn auch alle Menschen darauf bestehen, daß das Universum in gewisser Weise zu ihnen redet, so werden doch nur wenige darauf bestehen, daß dies auf ganz  dieselbe  Weise geschieht. Wir haben eben hier die Sphäre dessen, was MATTHEW ARNOLD gern "Aberglauben" nennt; er ist berechtigt, unüberwindlich, aber zu endlosen Wandlungen und Kämpfen verurteilt.

Wir wollen den Idealismus und den Materialismus als Beispiele betrachten für das, was ich meine, und einmal annehmen, daß sie uns beide eine theoretisch ebenso klar und konsequente Anschauung liefern, sowie daß sie unserem Erwarten beide einen ebenso bestimmten Inhalt geben. Dem Idealismus wird ein Mensch von bestimmter Gemütslage den Vorzug geben, dem Materialismus ein anderer. Gerade jetzt streben alle schwärmerischen Naturen, die Versöhnung und Gemeinschaft lieben, einem idealistischen Glauben zu. Warum? Weil der Idealismus der Natur der Dinge eine solche Verwandtschaft mit unserem persönlichen Selbst zuschreibt. Unser eigenes geistiges Leben ist das, was uns am vertrautesten ist, wovor uns am wenigsten bangt. So ist die Behauptung, daß das Universum seinem Wesen nach in einem geistigen Leben besteht, der anderen gleichwertig, daß ich selbst - zumindest potentiell - Alles bin. Es gibt keinen Winkel, der von Grund auf eine fremde Natur wäre, sondern nur eine  innige Vertrautheit,  welche alles durchdringt. Nun nimmt in Naturen, die zu einem empfindsamen Egoismus neigen, diese Weltanschauung eine Gestalt an, die an die dumpfe, drückende Luft der Krankenstube erinnert. Alle Sentimentalität und Selbstgefälligkeit wird durch sie geheiligt. Jenes Element in der Wirklichkeit, welches jeder kräftige Mann mit gesundem Menschenverstand gern in ihr empfindet, weil es Kräfte in Tätigkeit versetzt, die ihn beseelen - das rauhe und strenge Element der Meereswogen und des Nordwindes, welches die Persönlichkeit verneint und alles gleich machen möchte, wird verbannt, weil es dem Verlangen nach Gemeinschaft zu sehr widerstreitet. Wiederum ist es gerade die Freude an diesem Element, welche vielen Menschen auf die materialistische oder agnostische Hypothese führt, als polemische Reaktion auf das entgegengesetzte Extrem. Ein Leben, welches ganz und gar aus einer engen Vertrautheit besteht, ist ihnen fade. Es herrscht in manchen Augenblicken ein überwältigendes Verlangen, der Persönlichkeit zu entrinnen, im Walten solcher Mächte zu schwelgen, die vor unserem Ich keine Achtung haben, und der Flut ihren Lauf lassen, wenn sie uns auch überströmt. Der Streit zwischen diesen beiden geistigen Temperamenten wird meiner Meinung nach in der Philosophie stets sichtbar sein. Manche werden fort und fort auf die Vernunft, auf die Versöhnung pochen, die das Herz der Welt erfüllt, und  mit  welcher wir gemeinsam handeln können; andere auf die Dunkelheit der rohen Tatsachen,  gegen  welche wir reagieren müssen.

Nun haben wir als handelnde Wesen in uns ein Element, welches von der christlichen Religion nachdrücklich anerkannt worden ist, das aber die Philosophen in ihrem Verlangen, Systeme von absoluter Sicherheit zu begründen, gewöhnlich mit großer Unaufrichtigkeit auf die Seite gebracht haben. Ich meine das Element des Glaubens. Glauben heißt etwas für richtig halten, hinsichtlich dessen in theoretischer Hinsicht noch ein Zweifeln möglich ist; und da der Prüfstein des Glaubens in der Willigkeit zum Handeln besteht, so kann man sagen, der Glaube bestehe in der Bereitwilligkeit, für eine Sache zu handeln, deren glücklicher Ausgang uns nicht im Voraus garantiert wird. Es ist tatsächlich dieselbe sittliche Eigenschaft, welche wir in praktischen Dingen Mut nennen, und kräftige Naturen werden sehr oft die Neigung zeigen, an einem gewissen Maß an Unsicherheit des philosophischen Glaubens Geschmack zu finden, ebenso wie die Gefahr dem tätigen Leben eine Würze verleiht. Absolut sicher gestellte Philosophien, welche nach dem  inconcussum [Unerschütterbaren - wp] suchen, sind Früchte einer geistigen Veranlagung, in welcher die Vorliebe für Identität (die, wie wir sahen, nur  einen  Faktor des Vernunftbedürfnisses bildet) in abnormer Weise die ausschließliche Rolle spielt. Im Durchschnittsmenschen dagegen ist die Kraft des Vertrauens, die Kraft, etwas über die eigentliche Evidenz hinaus zu riskieren, eine wesentliche Funktion. Reicher Beifall ist jeder Weltanschauung sicher, welche an diese edle Kraft appelliert und dem Menschen den Anschein gibt, als trage er persönlich zur tatsächlichen Verwirklichung der Wahrheit bei, deren metaphysische Realität er anzunehmen geneigt ist.

Die Notwendigkeit des Glaubens als eines Bestandteils unseres geistigen Verhaltens wird von den wissenschaftlichen Philosophen unserer Tage mit Nachdruck betont; aber mit höchst launenhafter Willkür behaupten sie, er sei nur berechtigt, wenn er im Interesse einer einzigen bestimmten Lehre angewandt wird, nämlich der Lehre von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs. Daß die Natur morgen denselben Gesetzen folgen wird, wie heute, das ist, wie sie alle einräumen, eine Wahrheit, welche niemand  wissen  kann, die wir aber sowohl im Interesse des Erkennens, wie auch des Handelns postulieren und annehmen müssen. Wie HELMHOLTZ sagt: "Hier gilt nur der eine Rat: vertraue und handle!" Und BAIN betont:
    "Unser einziger Irrtum liegt darin, daß wir es uns zur Aufgabe machen, das Postulat zu begründen oder zu rechtfertigen, indem wir vergessen, daß es von vornherein eben nur angenommen wurde."
Hinsichtlich aller möglichen anderen Wahrheiten dagegen sind manche unserer einflußreichsten Zeitgenossen der Meinung, daß der Standpunkt des Glaubens nicht nur unlogisch, sondern schmählich ist. Der Glaube an ein religiöses Dogma, für welches kein äußerer Beweis vorhanden ist, das wir aber im Interesse unseres Gefühlslebens zu postulieren uns versucht fühlen, ebenso wie wir im Interesse unseres Intellekts die Gleichförmigkeit des Naturlaufs postulieren, wird von THOMAS H. HUXLEY als die "tiefste Stufe der Unsittlichkeit" gebrandmarkt. Derartige Zitate aus Führern der modernen "Aufklärung" ließen sich ins Unendliche vermehren.

Man denke an CLIFFORDs Abhandlung zur "Ethik des Glaubens". Er nennt es "schuldvoll" und "sündhaft", selbst die Wahrheit ohne "wissenschaftliche Evidenz zu glauben. Aber was nützt es, ein Genie zu sein, wenn man nicht aufgrund  derselben  wissenschaftlichen Evidenz, wie sie anderen Menschen zugänglich ist, mehr Wahrheit erreichen kann, als jene? Warum bekennt sich CLIFFORD, furchtlos zum Glauben an die Theorie vom Bewußtseins-Automatismus, obgleich die ihm vorliegenden "Beweise" dieselben sind, welche LEWES veranlaßten, jene Theorie zu verwerfen? Warum glaubt er an ursprüngliche Einheiten von "Seelenstoff" aufgrund einer Evidenz, welche BAIN für ganz wertlos halten würde? Einfach deshalb, weil er, wie jedes menschliche Wesen, dem die geringste geistige Originalität eigen ist, für eine Evidenz, die nach einer bestimmten Richtung hinzielt, besonders empfänglich ist. Es ist ganz hoffnungslos, eine solche Empfänglichkeit dadurch beschwören zu wollen, daß man sie den störenden subjektiven Faktor nennt und als die Wurzel allen Übels brandmarkt. "Subjektiv" und "störend" möge sie für jene heißen, denen sie einen Strich durch die Rechnung macht! Wenn sie aber denen hilft, die, wie CICERO sagt, "vim naturae magis sentiunt" [mehr die Kraft der Natur spüren - wp], so ist sie gut und nicht von Übel. Wir mögen sagen was wir wollen: Der ganze Mensch in uns ist bei der Arbeit, wenn wir unsere philosophischen Meinungen bilden! Der Intellekt, der Wille, der Geschmack, das Gefühl, - sie alle sind gemeinsam tätig, ganz ebenso wie in praktischen Angelegenheiten, - und wohl uns, wenn das Gefühl nicht etwas so Kleinliches ist, wie das Verlangen nach einem persönlichen Sieg über den Philosophen, der gegenüber wohnt. Die törichte Abstraktion eines Intellekts, welcher alle seine Beweisgründe in Worten formuliert und ihre Wahrscheinlichkeit sorgsam durch einen gemeinsamen Bruch abschätzt, sodaß sie allein durch die Größe seines Zählers und Nenners bestimmt wird, ist theoretisch ebenso albern, wie praktisch unmöglich. Es ist fast unglaublich, daß Männer, die selbst als Philosophen tätig sind, behaupten, daß ohne die Mitwirkung von persönlicher Vorliebe und persönlichem persönlichem Glauben oder Ahnen eine Philosophie konstruiert werden kann oder je konstruiert worden ist. Wie haben sie es fertig gebracht, ihren Sinn so gegen die lebendigen Tatsachen der menschlichen Natur abzustumpfen, daß sie nicht sehen, daß jeder Philosoph, ja jeder Gelehrter, dessen Originalität für die Entwicklung des Denkens irgendeine Bedeutung hat, seinen Standpunkt eingenommen hat aufgrund einer nicht in Worte zu fassenden Überzeugung, die Wahrheit müsse eher in der einen Richtung liegen, als in der anderen, aufgrund einer vorausgängigen Gewißheit, es müsse sich mit seiner Anschauung etwas ausrichten lassen, und daß er am fruchtbarsten gewesen ist, indem er versuchte, mit dieser zu operieren? Diese geistigen Instinkte in den verschiedenen Menschen sind die spontanen Variationen, auf welche sich der intellektuelle Kampf ums Dasein stützt. Die tauglichsten Anschauungen überleben, und mit ihnen die Namen ihrer Vertreter, ihren Glanz in alle Zukunft werfend.

Wir sind gefangen, wie wir uns auch wehren. Nur dadurch können wir dem Glauben entrinnen, daß wir eine geistige Null sind. Was uns an Männern wie HUXLEY oder CLIFFORD am meisten gefällt, das ist nicht die Gelehrsamkeit des Professors, sondern die menschliche Persönlichkeit, die bereit ist, für das einzutreten, was ihrem Gefühl nach richtig ist, wenn auch aller Schein dagegen ist. Der konkrete Mensch hat nur  ein  Interesse: Recht zu haben. Das ist für ihn die Kunst aller Künste, und alle Mittel gelten, welche ihm dazu verhelfen. Nackt wird er in die Welt geschleudert, und zwischen ihm und der Natur gibt es keine Regeln zivilisierter Kriegsführung. Die wissenschaftlichen Spielregeln - Beweispflicht, Hypothesenbildung,  experimenta crucis,  vollständige Induktionen und dgl. - sind nur für jene bindend, die sich auf dieses Spiel einlassen. Tatsächlich aber lassen wir uns mehr oder weniger darauf ein, weil es uns zu unserem Ziel verhilft. Fällt es aber diesen Mitteln ein, unseren Zweck zu vereiteln und uns Betrug vorzuwerfen, weil wir, noch ehe sie uns ihre träge Hilfe zuteil werden ließen, durch Raten, oder wie es eben gehen wollte, das Richtige schon gefunden hatten, wie sollen wir uns dann zu ihnen stellen? Wären sämtliche Werke CLIFFORDs außer seiner "Ethik des Glaubens" vergessen, so könnte er sehr wohl in künftigen psychologischen Abhandlungen anstelle jenes ziemlich abgenutzten Beispiels vom Geishals figurieren, der durch die Ideenassoziation dazu gebracht worden ist, sein Gold allen Gütern vorzuziehen, die er damit kaufen kann.

Kurz: wenn mir eine so überlegene Tätigkeit angeboren ist, auf eine vorliegende Evidenz zu reagieren, daß ich richtig raten und demgemäß handeln, also alles gewinnen kann, was sich aus richtigem Handeln ergibt, während mein weniger begabter Nachbar noch schaudernd am Rand steht, weil er, durch seine Zweifel gelähmt, auf weitere Evidenz wartet, die er nicht zu antizipieren wagt, so gern er es möchte, - welches Gesetz will mir dann verbieten, die Vorteile meiner höheren Naturanlage einzuheimsen? Selbstredend geschieht ies in einem solchen Fall auf meine eigene Gefahr hin, wenn ich meinem Glauben nachgebe oder ihm mißtraue, - ganz ebenso wie bei jeder großen praktischen Lebensentscheidung. Sind die mir angeborenen Fähigkeiten gut, so bin ich ein Prophet; taugen sie nichts, so leide ich Schiffbruch: die Natur "speit mich aus ihrem Mund aus", und damit ist es mit mir zu Ende. Beim ganzen Spiel des Lebens setzen wir fortwährend unsere Person ein; und wenn uns beim theoretischen Teil desselben unsere Persönlichkeit zu einem Schluß verhelfen kann, sollten wir sie da nicht auch hier einsetzen, wie undeutlich ihre Aussage auch sein mag? (1)

Verschwende ich aber nicht Worte, indem ich gar zu deutlich darlege, was allen Lesern mit einigem Sinn für die Wirklichkeit als Plattheit erscheinen muß? Ohne einen gewissen Grad an Glauben können wir ja gar nicht leben oder denken. Der Glaube hat die Bedeutung einer Hypothese, mit der man operiert. Der einzige Unterschied liegt darin, daß, während manche Hypothesen sich in fünf Minuten widerlegen lassen, andere vielleicht Jahrhunderten trotzen. Ein Chemiker, welcher vermutet, daß eine bestimmte Tapete Arsen enthält, und dessen Glaube kräftig genug ist, um ihn zu der Mühewaltung zu veranlassen, etwas davon in eine Flasche mit Wasserstoff zu tun, erkennt an den Resultaten dieser seiner Handlung, ob er Recht hatte oder nicht. Theorien aber, wie die darwinistische oder die von der kinetischen Konstitution der Materie, können zu ihrer Bestätigung die Arbeit ganzer Generationen in Anspruch nehmen, indem jeder, der ihre Wahrheit prüft, einfach auf die Weise verfährt, daß er handelt, als wäre sie wahr, in der Erwartung, daß das Resultat ihn enttäuscht, wenn seine Annahme falsch ist. Je länger die Enttäuschung ausbleibt, desto stärker wird sein Glaube an seine Theorie.

Nun sind heutzutage in solchen Fragen, wie der Existenz Gottes, der Unsterblichkeit, der absoluten Moralität und der Willensfreiheit, alle nicht-päpstlichen Gläubigen über den Charakter ihres Glaubens im wesentlichen einig: sie können stets an seinem Inhalt zweifeln. Aber sie sind innerlich davon überzeugt, daß das Übergewicht zu seinen Gunsten groß genug ist, um sie zu berechtigen, fortwährend aufgrund der Annahme zu handeln, er entspreche der Wahrheit. Seine Bestätigung oder Widerlegung durch die Natur der Dinge mag bis zum Tag des Jüngsten Gerichts auf sich warten lassen. Das Äußerste, was er in Anspruch nimmt, ist etwa Folgendes:
    "Ich  erwarte,  daß ich dann in zehnfacher Herrlichkeit triumphiere; sollte es sich aber - was jedenfalls möglich ist - erweisen, daß ich meine Tage in einem erträumten Paradies verbracht habe, nun, dann ist es doch sicherlich besser, sich von einem  solchen  Traumland narren zu lassen, als der kundige Deuter einer Welt zu sein, wie sie sich zweifellos unseren Blicken enthüllt."
Kurz: wir treten gegen den Materialismus in die Schranken ganz ähnlich, wie wir - wenn uns die Möglichkeit gegeben wäre - gegen das zweite Kaiserreich der Franzosen oder gegen die römische Kirche oder gegen sonst ein bestehendes System in die Schranken treten würden, dem gegenüber unser Widerwille groß genug ist, um ein energisches Handeln zu veranlassen, aber zu unbestimmt, um zu einer deutlichen Auseinandersetzung zu führen. Unsere Gründe bleiben hinter der Stärke unseres Gefühls lächerlich weit zurück, und doch handeln wir ohne Zaudern aufgrund des letzteren.

Nun möchte ich zeigen, was meines Wissens noch nie klar dargelegt worden ist, daß nämlich der Glaube (wie er am Handeln gemessen wird) die wissenschaftliche Evidenz nicht nur tatsächlich überschreitet und fortwährend überschreiten muß, sondern daß es eine Klasse von Wahrheiten gibt, bei denen der Glaube an ihre Wirklichkeit zugleich ein Faktor derselben ist, und daß hinsichtlich dieser Klasse von Wahrheiten der Glaube nicht nur erlaubt und am Platz, sondern wesentlich und unentbehrlich ist. Dieses Wahrheiten werden erst dadurch zu solchen, daß der Glaube sie dazu macht.

Nehmen wir z. B. an, daß ich eine Bergtour in den Alpen mache und das Mißgeschick habe, mich in eine Lage hineinzuarbeiten, aus der ich mich nur durch einen furchtbaren Sprung retten kann. Da ich gar keine ähnliche Erfahrung habe, so habe ich keine Gewißheit für meine Fähigkeit, den Sprung glücklich auszuführen; aber Hoffnung und Selbstverstrauen erfüllen mich mit der Zuversicht, daß ich mein Ziel nicht verfehle, und geben meinen Füßen die Kraft, zu vollbringen, was ohne jene subjektiven Erregungen vielleicht unmöglich gewesen wäre. Nehmen wir dagegen an, daß vielmehr das Gefühl der Furcht und des Mißtrauens vorherrscht, oder daß es mir, da ich eben die "Ethik des Glaubens" gelesen habe, sündhaft vorkommt, aufgrund einer durch keine frühere Erfahrung sicher gestellten Annahme zu handeln, - nun, dann werden ich solange zaudern, daß ich mich schließlich, ermattet und zitternd, in einem Augenblick der Verzweiflung gehen lasse, den Boden unter den Füßen verliere und in den Abgrund stürze. In diesem Fall (und er gehört zu einer sehr ausgedehnten Klasse) ist es offenbar Sache der Klugheit, zu glauben, was wir wünschen; denn der Glaube gehört zu den unentbehrlichen vorausgängigen Bedingungen der Verwirklichung seines Inhaltes.  Es gibt also Fälle, in denen der Glaube seine eigene Verwirklichung hervorbringt.  Glaube ich, so behalte ich Recht, denn es gelingt mir, mich zu retten; zweifle ich, so behalte ich wieder Recht, denn ich komme um. Der einzige Unterschied liegt darin, daß der Glaube sehr zu meinem Vorteil ist.

Die künftigen Bewegungen der Sterne oder die geschichtliche Tatsachen der Vergangenheit sind jetzt ein für allemal bestimmt, ob sie mir nun gefallen oder nicht. Sie sind ohne Rücksicht auf meine Wünsche gegeben, und überall, wo es sich um derartige Wahrheiten handelt, sollte die subjektive Vorliebe keine Rolle spielen; sie kann das Urteil nur verwirren. Anders steht es aber mit jeder Tatsache, in welche ein Element persönlicher Mitwirkung meinerseits eindringt, sobald diese persönliche Mitwirkung einen gewissen Grad an subjektiver Energie erfordert, die ihrerseits wieder ein gewisses Maß an Glauben an den Erfolg voraussetzt, so daß die zukünftige Tatsache schließlich durch meinen gegenwärtigen Glauben an sie bedingt ist. was für ein dreifacher Tor wäre ich doch, wollte ich mir hier die Anwendung der subjektiven Methode versagen, der Methode des Glaubens, der sich auf den Wunsch stützt!

Bei jedem Satz, der eine allgemeine Bedeutung hat (und dies gilt von allen philosophischen Sätzen), sollte man die Handlungen des Subjekts und ihre Folgen durch alle Ewigkeit hindurch in die Formel miteinschließen. Wenn  M  die ganze Welt  minus  der Reaktion des Denkers auf dieselbe bezeichnet,  M + x  dagegen den absolut vollständigen Stoff aller philosophischen Sätze (indem  x  die Reaktion des Denkers und ihre Folgen vertritt), so könnte das, was bei einem gegebenen bestimmten Inhalt des Begriffs  x  eine allgemeine Wahrheit wäre, zu einem gewaltigen Irrtum werden, wenn  x  seinen Charakter ändert. Man darf nicht sagen,  x  sei ein zu verschwindender Bestandteil, um den Charakter des ungeheuren Ganzen umzuwandeln, in welches es eingebettet liegt. Alles hängt vom Gesichtspunkt ab, welchen der philosophische Satz, um den es sich handelt, erfordert. Haben wir das Universum vom Gesichtspunkt der Empfindungsfähigkeit aus zu definieren, so liegt das kritische Material für unser Urteil im Tierreich, unbedeutend, wie es - quantitativ betrachtet - ist. Die ethische Definition der Welt hängt vielleicht von Erscheinungen eines noch beschränkteren Umfangs ab. Kurz, manchem langen Satz kann man durch die Hinzufügung weniger Buchstaben - n-i-c-h-t - den entgegengesetzten Sinn geben; manche gewaltige Masse kann ihr schwankendes Gleichgewicht nach der einen oder der anderen Seite durch eine Feder verlieren, die zu Boden sinkt.

Wir wollen dies an ein paar Beispielen klar machen. Die Entwicklungsphilosophie gibt uns heute ein neues Kriterium an die Hand, welches als ethischer Prüfstein für das Gute und das Böse dienen soll. Die früheren Kriterien waren, wie gesagt, subjektiv und haben uns daher immer noch der Plage der Meinungsverschiedenheiten und des  status belli [Kriegszustand - wp] überlassen.
    "Hier ist ein Kriterium, welches objektiv und unwandelbar ist:  Das ist gut zu nennen, dem es beschieden ist, die Oberhand zu gewinnen und zu überleben." 
Aber wir sehen sofort, daß dieser Maßstab nur dadurch objektiv bleiben kann, daß ich mich selbst und mein Verhalten auslasse. Wenn das, was die Oberhand gewinnt und überlebt, dies nur durch meine Unterstützung tut und ohne sie nicht tun kann, wenn bei einer Veränderung meines Verhaltens etwas anderes die Oberhand gewinnt: wie kann ich mich da jetzt für eine bestimmte Verhaltensweise entscheiden, indem ich frage, welchen Lauf die Ereignisse nehmen werden? Bin ich mir doch dessen bewußt, daß mir zwei verschiedene Verhaltensweisen offenstehen, deren jede ich für fähig halten darf, den Lauf der Ereignisse zu ändern! Folgen diese also meiner Leitung, so kann sich doch letztere offenbar nicht nach jenen richten. Nicht anders kann ein Entwicklungsphilosoph seinen Maßstab anwenden, als indem er unterwürfigen Sinnes eine Prognose versucht, welchen Lauf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft nehmen würde,  wenn er nicht wäre.  Dann muß er alle persönlichen, ihm eigentümlichen Wünsche und Interessen ersticken und mit angehaltenem Atem auf den Zehen als Letzter hinterherschleichen und so die Nachhut des Ganzen bilden. Ein paar fromme Geschöpfe finden vielleicht Vergnügen daran. Aber erstens widerspricht dieses Prinzip unserem allgemeinen Wunsch, zu führen und nicht zu folgen, einem Wunsch, der sicherlich nicht unsittlich ist, wenn unsere Führung nur die rechte ist. Und zweitens: wenn wir dieses Prinzip so behandeln, wie jedes ethische Prinzip zu behandeln ist, d. h. als eine Regel, die für alle in gleicher Weise gilt, so müssen wir sagen, daß seine allgemeine Befolgung zu seiner praktischen Widerlegung führen würde, indem sie einen allgemeinen Stillstand zuwege brächte. Wenn jeder sittlich gute Mensch sich im Hintergrund hielte und auf Anweisung seitens der übrigen wartete, so würde eine gänzliche Stagnation eintreten. Wohl uns, wenn dann ein paar Sünder eine neue Handlung beisteuern, welche die Dinge wieder in Bewegung setzt!

All das ist keine Karikatur. Daß der Lauf des Schicksals durch Individuen verändert werden kann, sollte kein verständiger Anhänger der Entwicklungslehre bezweifeln. Alles hat für ihn einen kleinen Anfang, eine Knospe, welche durch eine unbedeutende Kraft zerstört werden kann. Auch die Rassen und die Tendenzen des Menschengeschlechts folgen diesem Gesetz; sie haben ebenfalls kleine Anfänge. Das Beste ist nach der Entwicklungstheorie das, dem das gewichtigste Ende beschieden ist. Nehmen wir nun an, eine Menschenrasse der Gegenwart könnte - durch die Entwicklungsphilosophie aufgeklärt, und fähig, die Zukunft vorauszusehen - in einem in der Nachbarschaft emporwachsenden Volksstamm den Keim einer künftigen Übermacht erkennen und sehen, daß sie selbst schließlich durch diese Nachkömmlinge aus der Reihe der Lebenden gestrichen werden würde, falls deren Ausbreitung ungehindert bliebe. Offenbar ständen diesen Weisen der Gegenwart zwei Wege offen, die beide dem entwicklungstheoretischen Maßstab völlig entsprechen: vernichten sie die neue Rasse  jetzt,  so überlebt ihre  eigene;  unterstützen sie die neue Rasse, so überlebt  diese.  In beiden Fällen handeln sie recht, wenn man den entwicklungstheoretischen Maßstab anwendet, - sie handeln im Dienste der Seite, welche gewinnt.

So ist die Begründung der Ethik seitens der Entwicklungsphilosophie nur für die Herde jener Nullitäten rein objektiv, deren Stimme für den Gang der Ereignisse bedeutungslos ist. Was aber die andern betrifft, führende Geister und Herren-Naturen, überhaupt alle die, deren Genie ihren Handlungen einen weitreichenden Einfluß verleiht, sowie auch uns übrige, jeden in seinem Maß, - so liefern wir jedesmal, wenn wir für eine Sache eintreten, einen Beitrag zur Bestimmung des Maßstabes der Sittlichkeit, wie ihn die Entwicklungstheorie aufstellt. Ein wirklich verständiger Anhänger dieser Schule wird daher den Glauben als grundlegenden ethischen Faktor zulassen. Jede Philosophie, welche Fragen, wie diese - "Worin besteht der Idealtypus des Menschengeschlechts?" - "Was hat man unter Tugend zu verstehen?" - "Welche Handlung ist gut?" - abhängen läßt von der Frage "Wem wird der Erfolg zufallen?" - jede solche Philosophie muß schließlich auf einen persönlichen Glauben zurückgehen als ein der letzten Bedingungen der Wahrheit. Denn wieder und immer wieder hängt der Erfolg von der Energie des Handelns ab, diese Energie sodann ihrerseits von dem Glauben, daß wir nicht Schiffbruch erleiden, und dieser Glaube seinerseits schließlich von einem anderen Glauben, daß wir Recht haben, - einem Glauben, der sich auf diese Weise selbst bestätigt.

Man nehme z. B. den Streit zwischen Optimismus und Pessimismus, der gerade jetzt in Deutschland soviel Lärm macht. Jeder Mensch muß einmal für sich selbst entscheiden, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden. Nehmen wir an, er gebe angesichts der Welt und ihrer Fülle von Elend, Alter, Schlechtigkeit und Schmerz, und im Bewußtsein der großen Unsicherheit seiner eigenen Zukunft, der pessimistischen Schlußfolgerung nach, überlasse sich also dem Gefühl des Abscheus und des Entsetzens, höre mit allem Streben auf und begehe schließlich Selbstmord. Er fügt auf diese Weise zu der Masse der von seiner Subjektivität unabhängigen Erscheinungen der Welt, die wir mit  M  bezeichnet haben, die subjektive Ergänzung  x  hinzu, welche aus dem Ganzen ein völlig schwarzes, durch keinen Strahl des Guten erhelltes Gemälde macht. Der Pessimismus ist durch seine sittliche Reaktion und die Tat, zu welcher sie führt, vollendet und bestätigt; er ist über allem Zweifel wahr.  M + x  bezeichnet eine ganz schlechte Wirklichkeit. Der Glaube jenes Menschen hat alles geliefert, was noch fehlte, um sie dazu zu machen, und nun, da dies geschehen ist, hat sich sein Glaube als richtig erwiesen.

Nehmen wir nun aber an, daß bei denselben schlimmen Tatsachen  M  die Reaktion jenes Menschen  x  ganz die entgegengesetzte ist, daß er dem Übel nicht nachgibt, sondern trotzt, daß er im Sieg über den Schmerz, in der Verachtung der Furcht eine ernstere, wunderbarere Freude findet, sie als ein vergängliches Vergnügen gewähren kann; nehmen wir an, daß er hierbei Erfolg hat und so beweist, daß seine unerschrockene Persönlichkeit den Übeln, in wie dichter Schar sie ihn auch umdrängen, mehr als gewachsen ist, - muß da nicht jeder gestehen, daß hier der böse Charakter von  M  die  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] für den guten Charakter von  x  ist? Wird nicht jeder augenblicklich erklären, daß eine Welt für Menschen, die nur in schönem Wetter leben können und für jede flüchtige Freude empfänglich sind, aber weder Selbständigkeit, noch Mut und Tapferkeit besitzen, - von einem sittlichen Standpunkt aus betrachtet - unendlich viel tiefer steht, als eine Welt, die dazu gemacht ist, dem Menschen eine triumphierende Ausdauer und siegreiche sittliche Energie in jeder Gestalt zu entlocken? JAMES HINTON hat recht, wenn er sagt:
    "Kleine Unbequemlichkeiten, Anstrengungen und Leiden sind das Einzige, wobei wir überhaupt unser Leben erst recht eigentlich fühlen. Sind diese nicht vorhanden, so wird das Dasein wertlos oder noch schlimmer; werden sie alle sämtlich erfolgreich beseitigt, so ist dies verhängnisvoll. Daher kommt es, daß sich die Menschen mit athletischem Sport befassen, ihrer Ferien damit zubringen, Berge zu erklettern, und nichts so genußreich finden, wie das, was ihre Ausdauer und Energie auf die Probe stellt. So sind wir eben gemacht. Ob es nun ein Rätsel oder ein Paradoxon ist: jedenfalls ist eine Tatsache. Nun entspricht diese Freude an der Ausdauer ganz der Intensität des Lebens: je größer die physische Kraft und das physische Gleichgewicht, desto eher kann man die Ausdauer zu einem Element der Befriedigung machen. Ein kranker Mensch ist dem nicht gewachsen. Die Linie, welche das Leiden, soweit es freudig hingenommen werden kann, begrenzt, ist nicht fest bestimmt, sie schwankt - entsprechend der Vollkommenheit des Lebens. Daß unsere Leiden, so wie sie sind, daß sie nicht anders getragen werden können als in Verzweiflung und wortloser Ungeduld, welche nur durch die äußerste Erschöpfung zur Geduld gezwungen wird, - daß unsere Leiden so unerträglich sind, das bedeutet nicht, daß sie zu groß, sondern daß  wir krank  sind. Wir sind nicht im Besitz des rechten Lebens. Hiernach ist das Leiden nicht länger notwendig ein Übel, sondern ein wesentlicher Bestandteil des höchsten Gutes." (2)
Aber das höchste Gut kann nur dadurch vollendet werden, daß wir in den Besitz des rechten Lebens gelangen; und das kann nur geschehen mit Hilfe einer sittlichen Energie, die dem Glauben entstammt, daß wir es auf die eine oder andere Weise erobern können, wenn wir uns mit genügender Ausdauer darum bemühen. Diese Welt ist gut, müssen wir sagen, da sie das ist, wozu wir sie machen, - und wir werden sie zu einer guten machen. Wie können wir aus der Erkenntnis einer Wahrheit einen Glauben ausschließen, der zur Hervorbringung dieser Wahrheit gehört? Der Charakter von  M  ist unbestimmt, insofern  M  einerseits zu einem durchgeführten Pessimismus gehören kann, andererseits zu einem Meliorismus [Weltverbesserei - wp], einem sittlichen Optimismus (im Unterschied zu einem sinnlichen). Alles hängt vom Charakter der persönlichen Beisteuer  x  ab. Überall, wo die zu formulierenden Tatsachen eine solche Beisteuer enthalten, haben wir logischerweise das Recht, unwandelbar zu glauben, was wir wünschen. Der Glaube bringt seine Verwirklichung hervor. Der Gedanke wird im buchstäblichen Sinne zum Vater der Tatsache, wie der Wunsch Vater des Gedankes war (3).

Wenden wir uns nun zum Grundproblem des Lebens, - zu der Frage, ob dieses Universum im Grunde moralisch ist oder nicht, - und sehen wir zu, ob auch hier die Methode des Glaubens einen Anspruch auf Zulassung hat! Es handelt sich hierbei eigentlich um die Frage des Materialismus. Ist die Welt eine einfache rohe Tatsache, ein bloßes Sein  de facto,  hinsichtlich dessen man nichts Tieferes sagen kann, als daß es eben so ist? Oder gehört das Urteil, welches aussagt, daß etwas  besser  oder  schlechter  ist, daß es  Pflicht  ist, irgendetwas zu tun, ebenso eng zu den Erscheinungen, wie das Urteil, welches einfach sagt, daß etwas  ist  oder  nicht ist?  Nach Ansicht der Materialisten sind die Werturteile selbst bloße Tatsachen; die Worte "gut" und "schlecht" haben keinen Sinn, wenn man absieht von den subjektiven Gefühlen und Interessen, mit denen wir ganz willkürlich verfahren dürfen, wie es uns beliebt, soweit es sich um eine Pflicht unsererseits dem nichtmenschlichen Universum gegenüber handelt. Wenn z. B. ein Materialist sagt, es sei besser für ihn, eine große Unannehmlichkeit zu erdulden, als sein Wort zu brechen, so meint er damit nur, daß sich seine sozialen Interessen mit dem Halten seines Wortes so eng verknüpft haben, daß es, wenn man diese Interessen einmal zugibt, wirklich besser für ihn ist, trotz allem anderen sein Wort zu halten. Die Interessen selbst aber sind weder gut noch schlecht, es denn etwa im Hinblick auf eine höhere Klasse von Interessen, die aber selbst wieder bloß subjektive Tatsachen sind und keinen Charakter haben, weder einen guten, noch einen schlechten.

Für die Verteidiger der absoluten Moralität dagegen sind die Interessen nicht bloß dazu da, gefühlt zu werden, sondern damit man an sie glaubt und ihnen gehorcht. Es ist nicht nur für meine sozialen Interessen das Beste, mein Versprechen zu halten, sondern es ist auch für mich das Beste, jene Interessen zu haben und für den Kosmos das Beste, dieses mein Ich zu besitzen. Ebenso wie jenes alte Weib in einer Erzählung erklärt, die Welt ruhe auf einem Felsen, dann angibt, dieser Felsen wird durch einen anderen Felsen getragen, und schließlich auf weiteres Fragen sagt, es seien immer wieder Felsen, einer unter dem anderen, - ebenso muß der, welcher dem Universum eine absolute Moralität zuschreibt, entweder der Ansicht sein, daß die Sittenordnung auf einem absoluten und letzten "Du sollst!" ruht, oder daß sich jeder einzelne solche Imperativ immer wieder auf einen anderen stützt. (4)

Der praktische Unterschied zwischen diesen beiden Anschauungen ist außerordentlich groß. Dem Vertreter des ethischen Subjektivismus steht es, wenn seine sittlichen Gefühle den Tatsachen rings um ihn widerstreiten, stets frei, dadurch Harmonie zu suchen, daß er die Empfindlichkeit dieser Gefühle herabstimmt. Da sie bloße gegebene Tatsachen und ansich weder gut noch böse sind, so darf er sie durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen, umwandeln oder in den Schlaf lullen. Geschmeidigkeit, Kompromisse, Achselträgerei, Gewissenskapitulationen, - das sind herkömmliche Schimpfnamen für das, dessen erfolgreiche Durchführung  seinen  Prinzipien nach bei weitem die bequemste und lobenswerteste Methode wäre, jene Harmonie zwischen inneren und äußeren Verhältnissen herbeizuführen, außer welcher er nichts "Gutes" kennt. - Dem Verteidiger der absoluten Moralität dagegen steht es, wenn seine Interessen mit der Welt zusammenstoßen, nicht frei, dadurch eine Harmonie zu erlangen, daß er die idealen Interessen opfert. Seiner Ansicht nach haben diese ebenso zu sein, wie sie sind, und nicht anders. Widerstand also, Armut und Märtyrertum, wenn es sein muß, mit einem Wort: Tragödie, - das sind die erhabenen Festtage seines inneren Glaubens. Nicht daß der Widerspruch zwischen beiden Anschauungen alle Tage hervorträte: in alltäglichen Angelegenheiten stimmen alle ethischen Schulen überein. Nur in den einsamen Nöten des Lebens wird unser Glaube auf die Probe gestellt: dann versagen die Grundsätze der Routine, und wir gehen auf unsere Götter zurück. Man kann also nicht sagen, die Frage, ob diese welt moralisch ist, sei bedeutungslos und unlösbar, weil sie sich auf etwas nicht der Erscheinungswelt Angehöriges bezieht. Jede Frage ist bedeutungsvoll, deren verschiedene Beantwortung zu einem entgegengesetzten Verhalten führt, wie es hier der Fall ist. Und es scheint mir, als könnten wir bei der Beantwortung einer Frage wie dieser ganz ebenso verfahren, wie der Naturforscher bei der Prüfung einer Hypothese. Er deduziert von letzterer eine experimentelle Handlung  x  und fügt diese zu den schon vorhandenen Tatsachen  M  hinzu. Sie paßt zu ihnen, wenn die Hypothese richtig ist; andernfalls zeigt sich ein Widerspruch. Die Folgen der Handlung bestätigen oder widerlegen die Anschauung, aus der sie hervorging. Ebenso hier: die Bestätigung der Theorie, die man hinsichtlich eines objektiven sittlichen Charakters der Welt vertritt, kann nur darin bestehen, daß diese Theorie, wenn man dazu übergeht, aufgrund derselben zu handeln, durch nichts umgestoßen wird, was später als Frucht des Handelns hervortritt, daß sie mit dem ganzen Verlauf der Erfahrung so wohl übereinstimmt, daß letztere sie sozusagen adoptiert oder ihr höchstens eine weitere Auslegung gibt, ohne daß man sich genötigt sähe, ihre Formulierung im wesentlichen irgendwie zu ändern. Ist dieses Universum in einem objektiven Sinn moralisch, dann werden alle Handlungen, die ich aufgrund dieser Annahme ausführe, alle Erwartungen, die ich darauf gründe, die Tendenz zeigen, immer vollständiger mit den schon vorhandenen Erscheinungen ineinanderzugreifen.  M + x  wird keinen Widerspruch einschließen, und je länger ich lebe, und je mehr die Früchte meiner Tätigkeit sichtbar werden, desto befriedigender wird sich die Zusammenstimmung gestalten. Ist es dagegen kein derartig moralisches Universum, ist meine Annahme, daß dem so sei, irrig, dann wird der Gang der Erfahrung meinem Glauben immer neue Hindernisse in den Weg wälzen und sich immer schwerer in seiner Sprache ausdrücken lassen. Eine Hilfshypothese nach der anderen werde ich hervorziehen müssen, um die widersprechenden Begriffe vorübergehend übereinstimmend erscheinen zu lassen; aber schließlich wird auch dieses Auskunftsmittel versagen. Ist andererseits meine Annahme richtig, daß das Universum nicht moralisch ist, worin besteht dann die Bestätigung, die ich erhalte? Sie besteht darin, daß ich im Ganzen mit den Tatsachen des Lebens am besten fertig werde, indem ich es mit den moralischen Interessen leicht nehme und nicht glaube, daß es hinsichtlich  ihrer selbst  eine Pflicht gibt, (insofern von einer Pflicht nur mit Rücksicht auf ein Verhältnis  zwischen  ihnen und anderen Erscheinungen die Rede sein kann), indem ich sie also fahren lasse, wenn mir ihre Befriedigung schwer wird, - kurz: indem ich mich weigere, das Leben als Tragödie aufzufassen. "Alles ist eitel!" ist hier der Weisheit letztes Wort. Wenn auch vielleicht in gewissen begrenzten Abschnitten ein großer Ernst hervortritt, so findet in diesem Fall doch der, welcher den Dingen im allgemeinen mit einem gewissen gutmütigen Skeptizismus und mit radikaler Leichtfertigkeit gegenübertritt, daß die praktischen Früchte seiner epikuräischen Theorie diese immer mehr bestätigen und ihn nicht nur vor Schmerz bewahren, sondern auch seiner Klugheit Ehre machen. Wer sich dagegen auf die Vorstellung versteift, daß auch in einem absoluten Sinn gewisse Dinge sein "sollten", wer die Wahrheit zurückweist, daß es im Grunde gar keinen Unterschied macht, was wirklich ist, der wird in diesem Fall immer mehr finden, daß die Tatsachen der Welt ihm einen Strich durch die Rechnung machen, ihn verblüffen und verwirren; seine tragische Enttäuschung wird sich von jener endgültigen Sühne oder Versöhnung, wie sie gewissen partiellen Tragödien oft zuteil wird, immer weiter zu entfernen scheinen.

Freiheit von Gefühlserregungen  ist das Stichwort des ethischen Skeptikers, wenn man ihn sich stellt und ihm keinen anderen Ausweg läßt.  Energie  ist das Stichwort seines Gegners. Handelt nach meinem Glauben, ruft dieser, und die Folgen eurer Handlung werden beweisen, daß dieser Glaube richtig, daß das Wesen der Dinge unendlich ernst ist. Handelt nach dem meinen, sagt der Epikuräer, und die Folgen werden beweisen, daß der Ernst nur ein äußerer Schein ist an der Oberfläche einer Welt von im Grunde nur trivialer Bedeutung. Ihr und euer Handeln und das Wesen der Dinge, alles wird in gleicher Weise eingeschlossen in eine einzige Formel, eine allgemeine  vanitas vanitatum [Eitelkeit der Eitelkeiten - wp].

Der Einfachheit halber habe ich geschrieben, als könnte sich die Bestätigung im Leben eines einzigen Philosophen einstellen, - was offenbar unrichtig ist, da die Theorien noch immer einander gegenüberstehen un die die Tatsachen der Welt sich für beide in Anspruch nehmen lassen. Eher sollten wir erwarten, daß in einer Frage von solcher Tragweite die Erfahrung der ganzen menschlichen Rasse die Bestätigung herbeiführen muß, und daß die Evidenz unvollständig bleibt bis zum endgültigen Abschluß der Dinge, wenn der letzte Mensch sein letztes Wort gesprochen und seinen Beitrag zu dem bis dahin unvollendeten  x  geliefert hat. Dann wird der Beweis vollständig sein; dann werden alle Zweifel schwinden, ob das  x  des Verteidigers absoluter Moralität die Lücke ausgefüllt hat, welche allein verhinderte, daß das  M  der Welt eine gleichmäßige und harmonische Einheit bildete, oder ob das  x  seines Gegners die letzte Hand angelegt und hinzugefügt hat, was allein noch fehlte, um  M  äußerlich ebenso eitel erscheinen zu lassen, wie es innerlich war.

Wenn sich dies aber so verhält, ist es dann nicht klar, daß die Tatsachen  M,  ansich betrachtet, ungeeignet sind, einen Schluß nach der einen wie nach der anderen Seite vor meinem Handeln zu rechtfertigen? Mein Handeln ist die Ergänzung, welche den verborgenen Charakter des Stoffes, auf den es angewendet wird, enthält, indem es sich als damit übereinstimmend erweist oder nicht. Man kann die Welt geradezu mit einem Türschloß vergleichen, dessen innere (entweder moralische oder nichtmoralische) Natur sich nie unserer bloß erwartenden Betrachtung offenbaren wird. Die Positivisten, die uns verbieten, irgendeine Annahme hierüber zu machen, verdammen uns zu ewiger Unwissenheit, denn die "Evidenz", auf die sie warten, kann sich niemals einstellen, solange wir uns passiv verhalten. Aber die Natur hat uns zwei Schlüssel in die Hand gegeben, mit denen wir das Schloß prüfen können. Wenn wir den moralischen Schlüssel probieren,  und er paßt,  so ist es ein moralisches Schloß. Wenn wir den nichtmoralischen Schlüssel probieren, und  er  paßt, so ist es ein nichtmoralisches Schloß. Ich kann mir durchaus keine andere "Evidenz", keinen anderen "Beweis" denken, als diesen. Es ist ganz richtig, daß das Zusammenwirken von Generationen erforderlich ist, um ihn zu vollziehen. Aber in diesen Dingen ist die sogenannte Solidarität der menschlichen Rasse eine offenkundige Tatsache. Die Hauptsache, auf die es ankommt, ist, daß unsere im Handeln sich aussprechende Wahl zu den anerkannten Spielregeln gehört, daß wir als Männer einfach die Pflicht haben, einen von den Schlüsseln zu probieren, und zwar den, zu welchem wir das meiste Zutrauen haben. Wenn also der Beweis nicht vorhanden ist, bis ich gehandelt habe, und wenn ich notwendigerweise bei meinem Handeln das Risiko auf mich nehmen muß, unrecht zu haben, wie können dann jene Popularwissenschaftler recht haben, wenn sie in meinem Charakter eine "Leichtgläubigkeit" tadeln, als wäre sie eine Infamie, während sie doch durch die strenge Logik der Situation gefordert wird? Wenn dieses Universum wirklich ein moralisches ist, wenn ich durch meine Handlungen ein Faktor seiner Schicksale bin, wenn der Glaube da, wo ich zweifeln kann, selbst eine sittliche Handlung ist, ähnlich wie wenn ich für eine Partei stimme, deren Erfolg noch nicht sicher ist, - was gibt ihnen dann das Recht, über mich herzufallen und die denkbar tiefste Funktion meines Wesens hartnäckig durch ihr albernes Gebot zu leugnen, ich dürfe weder Hände noch Füße regen, sondern müsse für immer in einem ewigen, unlösbaren Zweifel schweben? Der Zweifel ist ja selbst eine Entschließung von weitreichendster praktischer Bedeutung, und wäre es nur deshalb, weil uns durch unser Zweifeln vielleicht die Güter entgehen, die wir gewinnen könnten, wenn wir uns nicht auf die Seite der Gegner schlügen. Doch mehr als das! es ist oft praktisch unmöglich, den Zweifel von der dogmatischen Negation zu unterscheiden. Weigere ich mich, einen Mord zu verhindern, weil ich im Zweifel bin, ob es nicht ein zu rechtfertigender Totschlag ist, so leiste ich tatsächlich dem Verbrechen Vorschub. Weigere ich mich, ein Boot auszuschöpfen, weil ich im Zweifel bin, ob meine Anstrengungen es über Wasser halten werden, so wirke ich tatsächlich bei seinem Untergang mit. Bezweifle ich am Abgrund im Gebirge mein Recht, einen Sprung zu wagen, so trage ich dazu bei, meinem Verderben freien Lauf zu lassen. Wer sich selbst den Glauben an Gott, Pflicht, Freiheit und Unsterblichkeit verbietet, der ist vielleicht in keinem Fall von dem zu unterscheiden, der all dies dogmatisch verneint. Skeptizismus in sittlichen Angelegenheiten ist ein tatkräftiger Bundesgenosse der Unsittlichkeit. Wer nicht dafür ist, der ist dagegen. Das Universum will in diesen Dingen von Neutralität nichts wissen. Theoretisch wie praktisch leisten wir tatsächlich der einen Partei oder der anderen freiwilligen Militärdienst, wir mögen uns winden oder über einen weisen Skeptizismus reden, wie wir wollen.

Wie leicht aber auch diese Notwendigkeit praktisch einzusehen ist, so liegen doch Tausende von unschuldigen Lesern populärer Zeitschriften gelähmt und erschrocken im Netzwerk flacher Glaubensverbote, mit dem die Führer der öffentlichen Meinung ihre Seele umstrickt haben. Alles, was sie nötig haben, um sich der Ausübung ihres angeborenen Rechts wieder frei und herzhaft hinzugeben, besteht in der Beseitigung dieses anspruchsvollen Vetos. Das Menschenherz braucht weiter nichts, als daß man ihm eine Chance gibt. Es ist gewillt, auf Sicherheit in allgemeinen Fragen zu verzichten, wenn es nur fühlen darf, daß es bei hnen dasselbe unveräußerliche Recht hat, etwas zu riskieren, welches in den kleinlichsten praktischen Angelegenheiten ihm abzusprechen niemand sich im Traum einfallen läßt. Und wenn ich auf diesen letzten Seiten - wie die Maus in der Fabel - ein paar Fäden des sophistischen Netzes zernagt habe, welches seine Löwenkraft am Boden gefesselt hielt, so will ich micht für meine Mühe mehr als belohnt betrachten.

Um zusammenzufassen: Keine Philosophie wird dauernd von allen Menschen als rational betrachtet werden, die nicht (abgesehen von der Befriedigung logischer Bedürfnisse) bis zu einem gewissen Grad darauf hinzielt, der Erwartung einen bestimmten Inhalt zu geben, und - was noch wichtiger ist - sich nicht direkt an alle jene Kräfte unserer Natur richtet, die bei uns in höchster Achtung stehen. Der Glaube, der eine von diesen Kräften bildet, wird stets ein Faktor bleiben, der sich aus philosophischen Konstruktionen nicht verbannen läßt, umsomehr, als er auf vielfache Weise seine eigene Bestätigung zuwege bringt. In diesen Fragen ist es daher hoffnungslos, nach einer buchstäblichen Übereinstimmung in der Menschheit zu suchen.

Die endgültige Philosophie, so können wir also schließen, darf keine zu eng geschnürte Gestalt haben, sie darf nicht in allen ihren Teilen Orthodoxie und Ketzertum durch eine zu scharfe Linie scheiden. Auß den  ubique semper et ab omnibus [immer, überall und jeder - wp] zu unterscheidenden Sätzen muß ein anderes Reich offen bleiben, in das sich die geängstigte Seele vor pedantischen Skrupeln flüchten kann, um sich ihrem eigenen Glauben auf eigene Gefahr hinzugeben: und alles, was man hier tun kann, wird darin bestehen, daß man die Fragen, die in die Sphäre des Glaubens fallen, deutlich bezeichnet.
LITERATUR - William James, Der Wille zum Glauben, Stuttgart 1899
    Anmerkungen
    1) Höchstens ist das Gebot, welches uns die Wissenschaft auferlegt, nichts zu glauben, was noch nicht sinnlich verifiziert ist, eine kluge Regel, die darauf abzielt, im  Gesamtverlauf  unser richtiges Denken möglichst zu mehren und unsere Irrtümer möglichst zu vermindern. Im einzelnen Fall müssen wir oft die Wahrheit verlieren, indem wir jener Regel gehorchen; aber im Ganzen sind wir sicherer, wenn wir ihr konsequent folgen, denn wir können darauf rechnen, unsere Verluste durch unsere Gewinne gut zu machen. Es steht damit wie mit jenen Spiel- und Versicherungsregeln, welche sich auf eine Wahrscheinlichkeitsrechnung stützen, und bei denen wir uns dadurch gegen Verlust im einzelnen sichern, daß wir bei unserer Wette den Gesamtverlauf im Auge haben. Aber diese Wettphilosophie erfordert, daß ein solcher Gesamtverlauf vorhanden ist; und dies verhindert ihre Anwendung auf die Frage des religiösen Glaubens, da derselbe den individuellen Menschen angeht. Dieser spielt das Spiel des Lebens nicht, um Verlusten zu entgehen, denn er bringt nichts zum Verlieren mit; er spielt es, um zu gewinnen; und jetzt oder nie steht ihm dies offen, denn der "Gesamtverlauf", welcher für die Menschheit in der Tat existiert, ist für ihn nicht vorhanden. Mag er zweifeln, glauben oder leugnen: er nimmt die Gefahr auf sich und hat das natürliche Recht, zu wählen, welche es sein soll.
    2) Lebensbeschreibung JAMES HINTONs, Seite 172-173. Vgl. auch das vortreffliche Kapitel über Glauben und Sehen in J. ALLANSON PICTONs "The Mystery of Matter". - HINTONs "The Mystery of Pain" wird zweifellos stets die klassische Äußerung in dieser Frage bleiben.
    3) Es ist zu beachten, daß in all diesen Ausführungen die Willensfreiheit mit keinem Wort erwähnt worden ist. Es gilt alles ebenso für ein prädeterminiertes, wie für ein indeterminiertes Universum. Ist  M + x  vorherbestimmt, so ist der Glaube, der zu  x  führt, und der Wunsch, der den Glauben eingibt, ebenfalls vorherbestimmt. Aber gleichviel ob dies der Fall ist oder nicht: diese subjektiven Zustände bilden eine Erscheinung, welche den Tatsachen notwendigerweise vorausgeht und daher auch notwendigerweise zur gesuchten Wahrheit  M + x  gehört. Sind aber freie Handlungen möglich, so wird der Glaube an ihre Möglichkeit ihre Zahl in einem gegebenen Individuum vergrößern, indem er die sittliche Energie, der sie entstammen, erhöht.
    4) In jedem Fall muß, wie ein späterer Essay zeigt ("Der Moralphilosoph und das sittliche Leben", das "Du sollst!", welches der Moralist als bindend für sich selbst betrachtet, im Gefühl irgendeines anderen Denkers oder einer Vielheit von denkenden Wesen wurzeln, deren Forderungen er sich als Individuum beugt.