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GUSTAV LINDNER
Aus dem Naturgarten
der Kindersprache


"Er wird jetzt täglich mehrmals zur laut tickenden Wanduhr getragen und ihm dabei, dem Pendelschlag entsprechend und ihn verstärkend, das Wort  Ticktack  deutlich vorgesprochen. Längere Zeit nachher, wenn er wieder in seinem Bettchen liegt, von dem aus er die tickende Uhr sehen kann, wird ihm das  Ticktack  laut zugerufen und von ihm meist sofort mit einer Blickrichtung nach der Uhr beantwortet. Man sieht also, daß er das ihm vorgesprochene Wort mit dem gehörten Klang in Verbindung bringt, daß also eine Assoziation seiner Gehörvorstellung mit dem Erinnerungsbild derselben stattgefunden hat. Das aber ist die Voraussetzung für jedes Sprachverständnis."

Einleitung

HEINRICH von TREITSCHKE nennt im 2. Band (Seite 34) seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts das Werden des Genius "das allerschönste Geheimnis des Menschenlebens". Was er vom Genius sagt, das gilt in einem beschränkten Sinn von Menschen überhaupt. Das Werden und die Entwicklung jedes Menschen ist ein Geheimnis, das umso verwickelter und unlösbarer erscheint, je zahlreicher und unkontrollierbarer die Einflüsse und Antriebe von außen werden. In der Darstellung dessen, was in der Geistesentwicklung eines Menschen ein Produkt des eigenen Inneren, und der Unterscheidung von dem, was von außen hergekommen und die Selbsttätigkeit der Seele in bedeutsamer Weise hemmend oder fördernd beeinflußt hat, liegt der unvergleichliche Reiz des Studiums der Lebensbeschreibung eines großen Mannes, aber auch die ungeheure Schwierigkeit der Aufgabe des Biographen. Denn welcher Biograph möchte behaupten, daß ihm seine Aufgabe in diesem Sinne völlig gelungen wäre!

Scheinbar viel einfacher gestaltet sich die Aufgabe des Biographen, der in der glücklichen Lage ist, nur die  ersten  Anfänge und  Keime  der Entwicklung eines Menschenlebens beobachten und darstellen zu müssen; denn:
    "Klar ist die Seele des Kindes; sie zeigt sich uns immer natürlich"
sagt Professor PREYER, der berühmte Beobachter der ersten Geistesentwicklung seines Kindes. Allein wer sich jemals etwas eingehender mit der Beobachtung seiner eigenen Kinder und deren Arten und Unarten beschäftigt hat, und wer besonders über den Ursprung mancher unerwarteten und rätselhaften Erscheinung in der Entwicklung des Geisteslebens seiner Kinder nachgedacht hat, der wird PREYER völlig recht geben, wenn er - jenen Ausspruch über die Klarheit und Natürlichkeit der Seele des Kindes stark einschränkend, ja gewissermaßen aufhebend - fortfährt:
    "Doch, unergründlich zugleich, bleibt sie das größte Problem."
Wir erblicken darin, daß uns in der Seele des Kindes unser eigenes geistiges Sein und Werden so klar und natürlich entgegentritt, einen Hauptgrund für die Erklärung der Tatsache, daß alle geistig und gemütlich tiefer angelegten Menschen sich unwiderstehlich zu Kindern hinzugezogen fühlen, gern mit ihnen umgehen und sich an ihren kindischen Spielen erfreuen, und zwar selbst dann, wenn der Dichter mit seinem "hohen Sinn liegt oft im kindischen Spiel" nicht recht hat. Wird doch, um nur einiger hervorragender Beispiele zu gedenken, von keinem Geringeren als SCHILLER erzählt, daß er mit seinem Knaben KARL "Löwen" spielte, indem er vor ihm als "Löwe" in der Stube herumkroch. Und GOETHE schreibt in einem Brief von 1779 (vgl. LEWEs, Goethes Leben und Werke I, Seite 438, 11. Auflage):
    "Der Umgang mit Kindern macht mich froh und jung."
Und wem wäre nicht die überaus zartsinnige Liebe zu den Kindern an LUTHER bekannt, der in seiner tief gemütlichen Weise über die Kinder als "unsers Herrgotts Närrchen" scherzt, die "unter seiner Gnade und Vergebung der Sünde stehen, nicht unter dem Gesetz", und der an seinem Sohn "Hänschen" einen so unvergleichlich herzigen Brief schreiben konnte, daß derselbe für alle Zeiten eines der merkwürdigsten Literaturdenkmäler bleiben wird!

Darum ist auch auf der anderen Seite Gleichgültigkeit oder Abneigung gegen den Verkehr mit Kindern ein Kennzeichen für einen oberflächlichen Geist oder für eine bedenkliche Gefühlskälte; und sie ist, wo sie sich an Frauen zeigt, ein fast untrügliches Merkmal für einen unweiblichen Sinn. Wer aber gar ein schwaches Kind absichtlich kränken und seine Unschuld antasten und verletzen kann, der verdient nicht bloß unsere Verachtung oder unser Mitleid, sondern auch das tiefernste Wehe!, das der größte Kinderfreund aller Zeiten und Völker über denjenigen ausgesprochen hat, "welcher eins von diesen Geringsten ärgert". Mit erschütterndem Ernst sagt der sonst so milde Erlöser der Menschen von einem solchen: "Es wäre ihm besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt und er ersäuft würde im Meer, wo es am tiefsten ist." Wie tief traurig ist, daß es sogar noch  Lehrer  gibt, denen die Heiligkeit und Unschuld der Kindesnatur und dieses Verdammungswort ihres Meisters nichts gilt!

Wie beglückend ist dagegen einem echten und wahren Lehrer sein Beruf schon deswegen, weil er ihm so oft, ja ich möchte sagen täglich Gelegenheit gibt, hineinzuschauen in den klaren Spiegel der Seele des Kindes, wodurch er sein eigenes Wesen und Werden besser verstehen lernt; weil er ihm aber auch andererseits das Unergründliche und Problematische im Werden und der Entwicklung des kindlichen Geistes fortwährend zeigt und ihm so das Kind zu einem überaus anziehenden Gegenstand für sein Denken und Forschen macht!

Für solche Lehrer und für solche tiefer angelegte Menschen, denen das Kindliche das wahrhaft Menschliche ist, sind die nachfolgenden Beobachtungen gesammelt. Sie erstrecken sich in erster Linie auf die sprachlichen Äußerungen des Kindes und beschränken sich fast auf sei, weil die Sprache als das wichtigste Werkzeug des denkenden Geistes der treueste Spiegel für die Seele des Kindes ist. Sie sind gesammelt aufgrund sorgfältiger und lückenloser, aber dezenter und zwangloser Beobachtungen an meinem eigenen, am 15. Juni 1883 geborenen Sohn und umfassen einen Zeitraum von 4 Jahren, nämlich von der Geburt des Kindes bis zu der Zeit, wo die Sprachaneignung des Kindes soweit fortgeschritten war, daß die hauptsächlichsten phonetischen, grammatischen und syntaktischen Schwierigkeiten überwunden und seine Sprache nicht mehr ein bloßes Sprechen, sondern ein verständiges Reden genannt werden konnte; ein Zeitpunkt, der aus verschiedenen und naheliegenden Gründen für die einzelnen Kinder natürlich nicht gleichzeitig eintritt.

Die sprachliche Entwicklung des Kindes in dieser genannten Periode läßt sich am einfachsten in 3 Stufen einteilen, nämlich:
    1.  in die der bloßen Lauterzeugung oder Schallnachahmung ohne den Zweck der Mitteilung innerer Zustände  (1),

    2.  in die des beginnenden Sprachverständnisses, wo vom Kind der Zweck der Sprache zwar erkannt oder doch geahnt, aber noch nicht die Fähigkeit der Mitteilung innerer Zustände mit Hilfe der Sprachlaute erworben ist, und 

    3.  in die des eigentlichen Sprechenlernens d. h. der Benutzung der Sprachlaute zu sinnvollen Verbindungen zum Zweck der Mitteilung innerer Zustände. 
Ich habe sie in meiner Abhandlung "Beobachtungen und Bemerkungen über die Entwicklung der Sprache des Kindes", Seite 12 und 13 genauer dargelegt und die zwar nicht ganz zutreffenden, aber kurzen und leicht verständlichen Namen der physiologischen, logischen und philologischen Stufe der Sprachentwicklung dafür in Vorschlag gebracht. Dort habe ich auch darauf hingewiesen, daß sie nicht in der Weise aufeinanderfolgen, daß die Erste abgeschlossen ist, wenn die Zweite beginnt und ebensowenig die Zweite bei Anfang der Dritten, daß vielmehr die Erste mit der Zweiten und Dritten noch lange parallel läuft und daß von der 2. und 3. nur die Anfänge aufeinanderfolgen. Dennoch halte ich diese Unterscheidung für notwendig, wenn man nicht von vornherein darauf verzichten will, die Erscheinungen in der sprachlichen Entwicklung des Kindes in ein gewisses System zu bringen, um sie dadurch einigermaßen der bunten Mannigfaltigkeit zu entkleiden, die ihnen durch das Wechselvolle und Zufällige auch im Leben eines Kindes sowieso anhaftet und die eine übersichtliche und zusammenhängende Darstellung so sehr erschwert.


I. Teil
Die physiologische Stufe der
kindlichen Sprachentwicklung

Die erste sprachliche Äußerung jedes Kindes (das Wort sprachlich im weitesten Sinn genommen) ist und bleibt der  Schrei.  er ist immer der Ausdruck für ein lebhaft gefühltes Bedürfnis des Kindes und muß dem Kind den Mangel der Sprache lange Zeit hindurch vollständig ersetzen. (2) Dennoch ist diese Mitgift der gütigen Mutter Natur anfangs sehr ungebildet und roh zu nennen, wie das kindliche Können überhaupt. Das  erste Schreien  meines Kindes glich  bis zum dritten Tag  mehr einem zaghaften Meckern und Wimmern und einem verzweifelten Klagen als einem heftigen Fordern und Begehren; es erhielt aber von dem Augenblick an, als es dem Kind zum ersten Mal gelungen war, Milch aus der Saugflasche zu trinken, eine deutliche psychische Betonung. (Die natürliche Ernährung blieb ihm leider versagt, da er sich zum Saugen an der Mutterbrust absolut ungeschickt stellte, was umso verwunderlicher war, als er um dieselbe Zeit an seiner eigenen rechten Hand den Zeigefinger durch heftiges Saugen an der Oberhaut gänzlich entblößt hatte.) Nach diesem ersten gelungen Trinkversuch wurde sein Schreien viel nachdrücklicher und fordernder und, wenn dem Trinkbedürfnisse nicht bald Genüge geschah, immer stürmischer und ungebärdiger.

Vom  neunten Tag  an  hört  er mit bemerkbarem Interesse  das Gesprochene  an, und er läßt sich sogar durch bloße Zusprache eine Zeitlang beruhigen und hinhalten, wenn seine Nahrung ihm nicht gleich verabreicht werden kann. Er hört regelmäßig auf zu schreien, sobald man "mit ihm spricht". Die  Sprache  der Eltern wirkt auf ihn genau so, wie auf den Erwachsenen tröstendes Zureden, während ihm die bloße  Gegenwart  der Eltern in einem solchen Fall nicht genügt.

Am  zehnten Tag schlägt er die Augen auf, wenn man ihn,  während er wach ist,  anruft;  aber ein stärkeres Zusammenschlagen der Hände des Vaters zum Zweck der Untersuchung seiner Hörfähigkeit und geistigen Regsamkeit beantwortet er noch nicht mit einem Lidschlag der Augen. Auch werden hellglänzende, ihm vorgehaltene Gegenstände noch nicht fixiert, sondern nur zeitweilig und wahrscheinlich ganz zufällig mit den Augen verfolgt.

Vom  achtzehnten Tag  ab wir die  Empfänglichkeit für Geräusche  immer  größer;  denn ein unbedeutendes Geräusch vermag ihn beim Einschlafen zu erschrecken und wieder zu wecken. Mit der sich steigernden Fähigkeit des Hörens ändert sich auch allmählich der Ausdruck des Gesichtes: die unregelmäßigen (asymmetrischen) Augenbewegungen der ersten Lebenstage werden immer seltener, und von der fünften Lebenswoche ab verliert sich das starre und geistlose Umherblicken und an seine Stelle tritt ein  milder Ausdruck des Gesichtes  und eine Art forschendes Umherspähen. Noch geistiger wird der Ausdruck des Auges mi dem  ersten Lächeln  des Kindes, das am  36. Tag  beobachtet wurde. Vom  41. Tag  ab wird ein  Ausdruck des Erstaunens  auf seinem Gesicht bemerkt, so oft er aus einem Zimmer ins andere getragen wird. Zwischen dem ersten Lächeln und dem ersten  lauten  Auflachen (44. Tag) liegt ein Zeitraum von 8 Tagen.

Eine  außergewöhnlich lebhafte psychische Betonung  zeigt sein  Schreien  zum ersten Mal in den  Nacht des 48. Tages,  wo er laut und ängstlich aufschrie, weil er wahrscheinlich träumte. Mir war das umso befremdlicher, als er sich am Tag noch niemals vor etwas "gefürchtet" hatte. Bis dahin war das Schreien des Kindes immer nur als ein Mittel des Ausdrucks für Unlustgefühle und als eine Aufforderung zur Hebung und Beseitigung derselben benutzt worden.

Vom  52. Tag  ab werden  sprachliche Äußerungen des Kindes zum Ausdruck seiner Lustgefühle verwandt;  denn an diesem Tag wird zum ersten Mal  "gebabbelt".  Es war dem Kind augenscheinlich recht wohl und sein Befinden nicht, wie es bisher leider oft der Fall gewesen, durch Verdauungsstörungen getrübt. Der dabei beobachtete Lalllaut war derselbe wie bei seiner Schwester, nämlich  ärrä  oder  arra.  Je günstiger sein körperliches Befinden ist und je normaler die Verrichtungen seiner Verdauungsorgane sind, umso lebhafter und anhaltender ist sein "Babbeln". Schon am 54. Tag "unterhält" er sich auf diese Weise länger als eine Stunde. Auch mit diesem ersten, spielenden Gebrauch, den das Kind von seinem Sprachorgan macht, scheint ein geistiger Fortschritt verknüpft zu sein; denn am  55. Tag erfaßt er zum ersten Mal einen zufällig ergriffenen Gegenstand  und führt ihn zum Mund, gleichsam um ihn zu erforschen. Auch wird von jetzt ab sein Schreien immer "verständiger", nämlich nicht bloß heftiger und stärker betont, sondern auch zarter und ausdrucksvoller; es ist oft einem leisen Wimmern zu vergleichen. Auch  Tränen  zeigen sich dabei zuweilen. Seine Verdauungsstörungen, die entweder früher weniger von ihm gefühlt worden sind oder für deren Mitteilung ihm bloß die Mittel des Ausdrucks fehlten, werden von jetzt ab oft ein Gegenstand seiner schmerzlichen Klage. Von jetzt an gebietet er sogar über den Ausdruck  lebhaften Erstaunens.  Als er am  60. Tag  bei herrlichstem Wetter den ganzen Nachmittag im Wald zubringt, interessieren ihn die Baumwipfel und der über ihnen ausgespannte blaue Himmel derart, daß er beim Trinken sich selbst ganz vergißt und während des Trinkens mit dem gespanntesten Forscherinteresse nach den zu seinen Häupten ausgebreiteten Baumkronen blickt.

Daß er um diese Zeit auch schon eine gewisse  Ahnung von der Zusammengehörigkeit und Aufeinanderfolge mancher äußerer Wahrnehmungen  besitz, (3) beweist sein Verhalten am  57. Tag,  wo er sich, als er vor Hunger geschrieen hat, schon beruhigt auf das bloße Vorlegen eines Leinwandläppchens, das ihn während des Trinkens vor dem Schmutzigwerden und vor Nässe schützen soll. Obwohl diese Praxis schon von Anfang geübt worden ist, hat er doch zur Entdeckung des Gedankens "nach dem Vorlegen des Läppchens erfolgt die Speisung" 8 Wochen gebraucht. Von jetzt ab stößt er allemal, sobald das ominöse "Läppchen" vorgelegt wird, einen sehr drolligen Laut der Befriedigung aus. Kommt freilich die Milch nun nicht bald, so fängt natürlich das Schreien wieder an und auch das bloße Vorhalten der gefüllten Milchflasche beruhigt ihn noch nicht. Erst 6 Tage später (63. Tag)  kennt  er auch  seine Trinkflasche;  denn er stößt bei bloßer Annäherung derselben einen eigentümlichen, sprachlich leider nicht darstellbaren Grunzlaut der Befriedigung aus, den er vorher allemal nur bei Vorlegen des "Läppchens" geäußert hat. An diesem Tag wird auch zum ersten Mal  am Tag heftiges Erschrecken  des Kindes bemerkt. Als ich mich ihm, während er trinkt, ruhig nähere, schrickt er so heftig zusammen, daß er die Flasche fahren läßt. Dabei ist auffällig, daß er um diese Zeit den  Ort, von welchem ein Schall kommt, noch nicht bestimmen  kann, was aus seiner falschen Blickrichtung zu erkennen ist. Aber er  spielt  jetzt schon mit  seinen Händchen,  die er höchst neugierig und aufmerksam betrachtet und mit denen er allerlei Bewegungen ausführt, aber  noch  nicht greift. (4)

Die  Lallmonologe  des Kindes werden nun immer  zahlreicher  und die dabei beobachteten  Laute  sind  sehr mannigfaltig.  Merkwürdig ist in dieser Hinsicht, daß manche Laute nur ein einziges Mal auftreten, also ganz und gar den Charakter des Zufälligen ansich tragen, während andere, und zwar nicht die phonetisch einfachsten und sprachlich am leichtesten hervorzubringenden, mit augenscheinlicher Vorliebe festgehalten und wiederholt werden; so wurde  bewe  nur einmal gehört, während  agn, ging  oder auch  nging  und  ärre  sich regelmäßig einstellten. Der merkwürdigste darunter konnte von mir nur mit der größten Mühe entziffert und sprachlich dargestellt werden; er dürfte wohl kaum in einer europäischen Sprache zu finden sind und würde jeden slawischen Idiome Ehre machen; denn er lautet etwa  hrngl,  ohne jede Spur von vokalischer Beimischung.

Die folgenden Wochen brachten durch die beginnende  Zahnung einen Stillstand in der Entwicklung,  ja sogar einen gewissen Rückgang. Die Milchflasche wird augenscheinlich nicht mehr erkannt; denn das bloße Anschauen derselben beruhigt ihn nicht mehr; er muß erst den Schlauch der Flasche im Mund fühlen. Das um diese Zeit ihm dargereichte HUFELANDsche Kinderpulver, eine Mischung von Rhabarber und Magnesia, wir die ersten Male ohne jedes Zeichen von Mißbehagen genommen, aber nach einigen Tagen als ihm widerwärtig gekennzeichnet durch einen nicht mißzudeutenden Gesichtsausdruck. Erst am  90. Tag  steht seine Geistesentwicklung wieder auf dem Standpunkt des 63. Tages; denn an diesem Tag kennt er seine Milchflasche wieder; ihr bloßer Anblick entlockt ihm ein eigentümliches Grunzen der Befriedigung. Aber sein Wahrnehmen ist entweder ungenau oder optimistisch und idealistisch; denn auch die  leere  Milchflasche beruhigt ihn schon.

Am  93. Tag hilft er sich nicht selbst beim Trinken,  trotzdem daß ihm die entfallene Milchflasche vor der Nase liegt und er nur den Mund aufzusperren und ein klein wenig nachzuhelfen braucht, was er sonst schon oft, aber wahrscheinlich ganz zufällig getan hat. Ich glaube, er verhungerte eher, als daß er die Milchflasche ergriffe. Man beachte, was in diesem Lebensalter etwa ein Huhn oder auch ein höheres Säugetier zur Erhaltung seiner Existenz tut! Am physischen Können fehlt es hierbei dem Kind selbstverständlich nicht; denn es spielt um dieselbe Zeit mit seinen Händen, hebt und senkt sie abwechselnd und dreht und wendet sie hin und her, anscheinend zum Zweck einer Besichtigung. Ob aber hierin die  ersten  gewollten  Bewegungen  zu erblicken sind, muß ich bezweifeln, da es mir sonst unverständlich ist, warum er sie nicht auch zu  zweckmäßigen  Handlungen im eigentlichen Sinn des Wortes  verwendet,  wie zum Ergreifen seiner Trinkflasche oder des Saughütchens derselben, das zuweilen seinem Mund entfällt und ihm dann immer wieder von seiner Umgebung mundgerecht gemacht werden muß.

In dieser Annahme werde ich bestärkt durch folgende Tatsachen. Obwohl das Experiment, den Saughut selbst zum Mund zu führen, ihm zu Dutzendmalen gelungen ist, kann doch kein einziger wirklicher  Versucht  darunter sein, der sein Gelingen der  Absicht  des Kindes verdankte. Denn sehr oft schreit er auf, weil er den Hut, der ihm unmittelbar vor den Augen liegt und den er auch mit einer Hand ergriffen hat, durchaus nicht zum Mund führen kann. Es verbindet sich demnach mit seinen zweckmäßigen Handlungen noch nicht der Begriff der  Absicht;  sie sind sonach nur  zufällig  zweckmäßig, aber nicht auf ein Ziel gerichtet. Der Weg von der ersten zweckmäßigen zur ersten  gewollten, d. h. zielbewußten  Handlung scheint ein sehr großer zu sein. Der hingehaltene Finger des Vaters wird daher auch nur dann erfaßt, wenn er ganz in seinen Bereich kommt, während ein  eigentliches Greifen  nach demselben  noch nicht  stattfindet.

Um dieselbe Zeit (15. Woche) wird der nicht in Zucker eingetauchte Gummihut nicht mehr "für voll" genommen, während die  leere  Milchflasche immer noch mit der gefüllten für identisch gehalten zu werden scheint. Eine Woche später ist er im  Greifen  schon  ziemlich  geschickt; (5) denn er ergreift sogar ein ihm vorgehaltenes Baumblatt: aber eine Anwendung dieser erlangten Fähigkeit für seine Lebenszwecke ist auch jetzt noch nicht zu bemerken. Das ist umso befremdlicher, da seine Geistesentwicklung in mancher Hinsicht schon bedeutende Fortschritte zeigt. So hat er schon seit etwa 4 Wochen die seinem Spiegelbild erwiesenen Zärtlichkeiten ebenso aufgenommen, als wären sie ihm selbst erwiesen. Er  kennt also sein Spiegelbild genau  und lacht ebenso herzlich und verständig, wenn man mit seinem Spiegelbild spielt und scherzt, als wenn man sich mit ihm selbst freundlich beschäftigt. Die geringsten Dienstleistungen, wie Trockenlegen und ähnliche, vergilt er mit einem herzlichen, verständnisinnigen Lächeln.

Auch in der  19. Lebenswoche  macht er von seiner Greifkunst noch keinen Gebrauch für sich selbst, z. B. um die verlorene Milchflasche wieder zum Mund zu führen. Die Not kann ihn also nicht zur Erlernung des Greifens gebracht haben. Aber von jetzt ab  unterscheidet er deutlich die leere von der gefüllten Milchflasche;  denn nur wenn ihm die gefüllte vorgehalten wird, jauchzt er vor Freude auf, während ihm die leere keinen Laut der Befriedigung mehr entlockt. In dieser Zeit wird auch das  erste energische und wiederholte Heben des Kopfes  beobachtet.  Das Kopfheben bezeichnet mit den ersten Greifbewegungen den Übergang von der bloß passiven Aufnahme der Außenwelt zu einer aktiven und spontanen. 

In der  20. Woche  hat es den Anschein, als ob er seinen eigenen Namen verstehe, da er beim Angerufenwerden den Blick nach der sprechenden Person richtet. Aber das ist eine Täuschung; denn noch zwei Monate später antwortet er auf den Namen seiner  Schwester,  wie überhaupt auf ein laut gesprochenes Wort, seinem Namen gar nicht ähnlich klingendes Wort mit Blickrichtung nach der sprechenden Person. Jeder beliebige Schall gilt ihm sonach als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, und  von irgendeinem Sprachverständnis ist noch keine Rede.  Aber dennoch ist jetzt das  Erwachen  des Sprachverständnisses zu beobachten, wie folgendes, mit dem Kind absichtlich angestelltes Experiment beweist. Er wird jetzt täglich mehrmals zur laut tickenden Wanduhr getragen und ihm dabei, dem Pendelschlag entsprechend und ihn verstärkend, das Wort "Ticktack" deutlich vorgesprochen. Längere Zeit nachher, wenn er wieder in seinem Bettchen liegt, von dem aus er die tickende Uhr sehen kann, wird ihm das "Ticktack" laut zugerufen und von ihm meist sofort mit einer Blickrichtung nach der Uhr beantwortet. Man sieht also, daß er das ihm vorgesprochene Wort mit dem gehörten Klang in Verbindung bringt, daß also eine Assoziation seiner Gehörvorstellung mit dem Erinnerungsbild derselben stattgefunden hat. Das aber ist die Voraussetzung für jedes Sprachverständnis. Die um dieselbe Zeit vom Kindermädchen geübten Versuche des "Händchengebens" wollen dagegen noch gar nicht gelingen. Das ist nicht verwunderlich, denn dem Verstehen und Behalten dieses Befehls ("Gib mir ein Händchen!") kommt ja die Klangnachahmung (Onomatopöie) nicht zu Hilfe.

Von der  24. Woche  ab wird die  Frage nach dem "Ticktack" stets richtig beantwortet.  Aber auffällig dabei ist eine gewisse Langsamkeit der Blickrichtung, die ein geringes Vermögen, von einer Vorstellung schnell zu anderen überzugehen, anzudeuten scheint und die das Kind als "dumm" erscheinen läßt. Diese Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit im Wechsel der Vorstellungen des Kindes erklärt sich wahrscheinlich zum guten Teil aus dem Reiz der Neuheit, den alle Vorstellungen für das Kind haben müssen und wodurch sein Interesse immer für längere Zeit in Anspruch genommen werden muß. So wie der Wanderer, der ein neues, schönes Land betritt, im Anschauen desselben ganz "weg" ist, so und vielleicht noch mehr das Kind bei der Bearbeitung seiner ersten Vorstellungen.

Welch hochbedeutsamer Fortschritt aber mit dem  Erwerb des ersten Wortes der Sprache  gemacht worden ist, das werden die folgenden Beobachtungen zeigen! Hier bleibt nur noch, darauf hinzuweisen, daß die vom Kind gebrauchten Lalllaute auch nach Erwerbung des ersten Wortes dieselben bleiben und die meisten davon mit Zähigkeit festgehalten werden. So war mehrere Monate hindurch der Grundlagt aller Lalllaute meines Kindes das  G  und die am meisten gehörten Lautverbindungen  gagou, ach  und  mam. 



LITERATUR - Gustav Lindner, Aus dem Naturgarten der Kindersprache [ein Beitrag zur kindlichen Sprach- und Geistesentwicklung in den ersten 4 Lebensjahren], Leipzig 1898
    Anmerkungen
    1) Der Nachdruck liegt allerdings hierbei auf dem Begriff des  Zwecks,  d. h. der klar erkannten Absicht. Denn daß das Kind auch schon auf dieser Stufe innere Zustände besitzt und diese auch schon durch das Sprachorgan zu erkennen gibt, werden die folgenden Beobachtungen zeigen. Aber diese Mitteilung erfolgt nicht aufgrund einer klar erkannten Absicht, sondern aufgrund eines Naturtriebes.
    2) Warum dieser Ersatz dem Kind auf die Dauer nicht genügt, darüber vergleiche man meine "Beobachtungen", 1. Teil.
    3) Die Zusammengehörigkeit von seinem Schreien und dem darauffolgenden Gestilltwerden seines Hungers hat er natürlich schon viel früher entdeckt und jedenfalls als  ererbtes  Denken über Ursache und Wirkung, also über den Kausalitätsbegriff, mit auf die Welt gebracht.
    4) Daß ich aufgrund meiner Erfahrungen die vom Londoner SULLY (Untersuchungen über die Kindheit, übersetzt von Dr. STIMPFL, Leipzig 1897, Seite 5) mitgeteilte, für Darwinisten "bedeutungsvoll von einem Arzt kürzlich festgestellte Tatsache, daß das  neugeborene  Kind gleich dem Affen imstande ist, sein ganzes Gewicht durch Erfassen eines dünnen Stabes aufzuhängen" für nichts weiter als eine leichtfertige Mystifikatioin halte, wird man mir nicht verübeln, besonders wenn man hierzu bei PREYER (Die Seele des Kindes, 1. Auflage, Seite 152 - 162) über die Entwicklung des Greifens mitgeteilten Tatsachen vergleicht. Was würde DARWIN, der vorzügliche Beobachter und Kenner der ersten Geistesentwicklung seines Kindes, zu dieser angeblichen Tatsache gesagt haben!
    5) PREYER beobachtete bei seinem Knaben das erste deutliche Greifen um dieselbe Zeit, nämlich in der 17. Woche; vgl. a. a. O., Seite 153, 1. Auflage