tb-1p-4cr-2WindelbandH. HöffdingG. MoskiewiczO. Külpe    
 
RICHARD HÖNIGSWALD
Prinzipienfragen der
Denkpsychologie

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"Die Selbstkritik des Experimentators fällt mit der Untersuchung seines Objekts in weitem Umfang auch  sachlich  zusammen. Das Erfassen einer Bedeutungsbeziehung durch die Versuchsperson wird ihm nur zum Gegenstand indem er selbst die gleiche Bedeutungsbeziehung erfaßt, genauer: indem er sich über den Tatbestand seines Erfassens der gleichen Bedeutungsbeziehung Rechenschaft gibt und dabei die Gleichheit dieses Tatbestands mit dem zu untersuchenden voraussetzt."


Hochansehnliche Versammlung!

I.

Die wissenschaftliche Tradition, die ihr weithin leuchtendes Symbol im Namen und in den Bestrebungen dieser blühenden Gesellschaft gefunden hat, scheint Erörterungen aus dem Problembereich der Psychologie nicht gerade zu begünstigen. Denn unabhängig von den eigentlichen methodischen Tendenzen der Psychologie, ja in einem unerläßlichen und zeitweilig schroffen Gegensatz zu ihnen hatte sich die Wiedererneuerung des kritischen Gedankens in Deutschland vollzogen. Nur im vollen Bewußtsein seiner methodischen Selbständigkeit konnte sich der systematische Bestand des philosophischen Kritizismus entfalten und die ruhmreiche Geschichte der Rückkehr zu KANT ist zum guten Teil die Geschichte des Prozesses der Abgrenzung des  kritischen  Problemgebietes vom  psychologischen. 

Weder freilich ist dieser Prozeß ungehemmt vor sich gegangen, noch auch ist er abgeschlossen. Die elementare Kraft des Kantischen Gedankens liegt nicht sowohl im Inhalt, als vielmehr in der Struktur der Fragestellung, die sich in ihm ausprägt. Denn nicht dies allein, daß er sich auf eine Theorie der Geltung von Gedanken, wissenschaftlicher und ästhetischer, ethischer und religiöser, überhaupt richtet, ist das große und eigenartige an ihm; daß diese Theorie zugleich und durch sich selbst die Forderung begründet und erfüllt, sich in der Unerläßlichkeit ihrer  eigenen  Aufgabe zu rechtfertigen -  das  erst sichert der Philosophie KANTs eine nie versiegende Bedeutung. Deshalb aber ist auch die Kritik mit ihren Grundmotivenn überall gegenwärtig, wo in irgendeinem, wenn auch noch so abgeblaßten oder noch so erweiterten Sinn, von  Erkenntnis  und von  Wahrheit von  Objekten  oder von  Werten  die Rede ist.

Allein, wie scharf sich so der methodische Grundgedanke der Kritik an allen entscheidenden Punkten des wissenschaftlich-philosophischen Denkens auch zur Geltung bringen mag, in der ganzen Tiefe und Breite seiner Wirksamkeit begleitet ihn proteusartig schillernd, als Erbfeind, das unausrottbare Vorurteil des  Psychologismus Immer wieder drängt sich an die Stelle einer Rechtfertigung der objektiven "Möglichkeit" von Begriffen die Reflexion auf die "Handlungen, dadurch Begriffe erzeugt werden." Immer wieder droht das Problem von dem, was in der Erkenntnis "liegt", zurückzulenken in die Bahn der Frage nach den "Einrichtungen" des menschlichen Geistes. - Indessen, die Gefahr des Psychologismus erscheint, wie so manche andere auf dem Boden der Wissenschaftstheorie, gebannt, sobald sie nur erkannt ist. Und ohne sie zu unterschätzen, darf man erklären: auch in seinen sublimiertesten Formen wird es der Psychologismus niemals vermögen, das Recht und den Bestand des kritischen Gedankens in Frage zu stellen.

Ein Problem aber  bleibt  dabei die "Möglichkeit" des Psychologismus als solche; ein Problem, das nur dann als gelöst betrachtet werden dürfte, wenn es gelungen wäre, die Zusammenhänge zwischen dem Begriff des  Psychologismus  und der Struktur der  Psychologie  selbst aufzudecken. Man glaube nicht, daß diese These den Versuch bedeutet, die Verantwortung für die Irrwege des Psychologismus der Psychologie zuzuschieben. Im Gegenteil! Je tiefer der Begriff des ersteren gefaßt wird, je klarer herausgestellt wird nicht allein, was der Psychologismus verfehlt, sondern welches die Faktoren sind, in denen er wurzelt, umso schärfer und prinzipieller wird sich auch die Ablehnung gestalten können, die ihm von seiten der letzteren zuteil werden muß: der Boden selbst, dem er entsprossen ist, muß ihm die Nahrung versagen, soll der Einfluß des Psychologismus in der Wissenschaftslehre endgültig gebrochen werden. So führt der Psychologismus als Problem auf einer neuen Grundlage doch wieder zu Erwägungen wissenschaftstheoretischer Natur zurück: auf der Grundlage und unter der Voraussetzung einer Kritik des Begriffs der  Psychologie als Wissenschaft. 

Zwei Wege eröffnen sich einer solchen Kritik. Der eine führt über die Darlegung der methodischen Voraussetzungen der Psychologie zur Beantwortung der Frage nach deren "Möglichkeit" überhaupt. Ist die Psychologie, woran nicht gezweifelt werden kann, ein durch eigentümliche Methoden und Ergebnisse wohlcharakterisiertes Forschungsgebiet, dann realisieren sich in ihr unweigerlich die Bedingungen jener Methoden selbst; dann ist auch sie, wie jedes Produkt einer Theorie, durchsetzt und getragen von einem System spezifischer Beziehungen, deren Geltung sie ihren Bestand als Wissenschaft verdankt. Unter solchen Gesichtspunkten hieße den Begriff der Psychologie kritisieren: die Psychologie, nicht freilich ihrem sachlichen Gehalt, wohl aber ihrem methodischen Typus nach aus jenem System von Beziehungen "deduzieren".

Wohl ist, wie bekannt, jetzt viel die Rede von der grundsätzlichen "Unausdrückbarkeit" des Psychischen und neuerdings auch, mit ganz besonderer theoretischer Betonung, von der "vollen Konkretion des Erlebten" als dem einzigen, aber nie erreichten Ziel der Psychologie; einem Ziel freilich, dem die Forschung durch eine  "Rekonstruktion"  desjenigen Tatbestandes dennoch zuzustreben habe, den eine "vorgängige"  "Konstruktion"  des wissenschaftlichen "Objekts" - in einer grundsätzlichen, wenngleich unvermeidlichen Verfehlung der eigentlichen Absichten der Psychologie - geschaffen hatte. (1)

Für eine eingehende Diskussion solcher Positionen ist hier nicht der Ort. Was sie für das Schicksal der  Psychologie  zu bedeuten haben, werden sie im wesentlichen wohl noch erst erweisen müssen.  Eine  Forderung aber darf man doch zumindest an diejenigen von ihnen stellen, die den wissenschaftlichen Motiven nach, in denen sie wurzelt, das Moment der Begründung höher bewerten muß als die romantische Geste einer noch so feinsinnigen und wissenschaftsfreundlichen Mystik.

Es mag die "volle Konkretion des Erlebten", von der NATORP spricht, eine "ideell höchste Stufe" (2) bedeuten, deren als solcher sich keine Erkenntnis mehr bemächtigt; auch mag die Frage nach dem Begriff dieser "Konkretion" - ein Zugeständnis, zu dem man sich gerade dem  kritischen  Denker gegenüber nur schwer wird entschließen können - offen bleiben; ja mag selbst der Gegensatz von "Objektiv" und "Subjektiv" wirklich nur den Unterschied zwischen dem "Plus- und dem Minussinn der Wegrichtung der Erkenntnis" (3), mithin den bloßen "Richtungsgegensatz zwischen Integration und Differenzierung" (4) bedeuten; -  eine  Frage ist es doch, und ich möchte diese selbst logisch, nicht psychologisch verstanden wissen, die beantwortet sein muß, wenn sich der Begriffsapparat NATORPs an diesem Problem der Psychologie bewähren soll. Ich meine die schlichte Frage nach dem Begriff jenes im Hinblick auf seine methodischen Konsequenzen so fundamentalen Faktors der "Richtungsänderung"; jener Richtungsänderung, kraft deren "die Ureinheit des Bewußtseins" für die "Reflexion", wengstens im Sinne der Annäherung, "wieder herzustellen sein" (5) und, wie das stolze Wort lautet, die "Psyche zum Logos" (6) erhoben werden soll.  Was heißt hier "Richtungsänderung"? 

Zwei Möglichkeiten, zwischen welchen die Entscheidung getroffen werden muß, sind gegeben. Entweder jene Richtungsänderung ist selbst ein Element der "Ureinheit des Bewußtseins", - dann ist sie kein Instrument der Reflexion. Oder aber sie  ist  ein solches; dann steht die Psychologie, da Richtungsänderung etwas anderes bedeutet wie Richtung, unter der Voraussetzung einer  spezifisch zu charakterisierenden Theorie.  In diesem Fall aber erweisen sich Psychologie und Gegenstand der Psychologie als durch die Bedingungen der wissenschaftlichen Methode von  besonderer  Struktur beherrscht; d. h. auch sie unterliegen einer, wenngleich  spezifischen  Determination im Sinne des Prozesses der "Objektivierung". Am wenigsten wird diesen Forderungen der  kritische  Denker widersprechen wollen. Sollte er es unter Berufung auf den Unterschied zwischen "Sachgrund" und "Begriffsgrund" - und diese Unterscheidung findet sich bei NATORP (7) - dennoch tun, so würde er damit nicht nur seinem Kritizismus ein wesensfremdes Element hinzufügen; er müßte vor allen Dingen auch gerade diejenige Position grundsätzlich preisgeben, aus der der Richtungsgedanke als solcher sein relatives Recht herleitet: daß es nämlich die  Methode  sei, die sich das  Objekt  bestimmt.

Ich verfolge diese Erwägungen nicht weiter, wenngleich sie uns tief in die sachlichen Motive derjenigen Fassung des kritischen Problems eindringen ließen, zu deren bedeutendsten Vertretern der Marburger Denker zu zählen ist. Ich beschränke mich vielmehr darauf festzustellen, daß das Moment der "Richtungsänderung" aus der logischen Dimension, der das Moment der "Richtung" selbst angehört, heraustritt. Wie ein logischer "Deus ex machina" [Gott aus der Maschine" - wp] greift es in die theoretischen Erwägungen über die Struktur der Psychologie ein. Im tiefsten Grund freilich hat es gerade hier ein wohlbegründetes Daseinsrech. Entgegen den eigentlichen Tendenzen der Position NATORPs konzentriert sich sozusagen im Begriff der "Richtungsänderung" all das, was die Psychologie als Wissenschaft, d. h. im Hinblick auf die allgemeinsten Bedingungen objektiver Geltung, der gegenständlichen Bestimmtheit der  nichtpsychologischen  Erfahrung gegenüber kennzeichnet. Er repräsentiert die systematische Forderung einer methodisch  selbständigen  Fixierung des wissenschaftlichen Begriffs der Psychologie; oder, was das gleiche bedeutet, die Forderung einer innerhalb der allgemeinen Wissenschaftslehre  selbständige  Theorie der  psychologischen Methode. 

Gewiß, nur in Bezug auf die durch kein System materialer Objektbestimmtheit fassbare Form des Psychischen gibt es wissenschaftliche Psychologie; und diese Beziehung ist es demgemäß auch, was die methodische Eigenart der Psychologie bestimmt. Nur heißt dies noch lange nicht, daß man nunmehr die Psychologie selbst der grundsätzlichen methodischen Unbestimmtheit anheimfallen zu lassen habe; einer Unbestimmtheit, die dadurch gewiß nicht verringer wird, daß man sie - und nichts anderes liegt im NATORP'schen Begriff der Richtungsänderung - der Terminologie eines noch so tiefen erkenntnistheoretischen Lehrsystems anpaßt. Ja, man könnte getrost geradezu das Gegeteil behaupten: als ein Element des methodischen Bestandes der Psychologie verwandelt sich jene, des Charakters der Objektivierbarkeit entbehrende  Form  alles Psychischen aus einer rein negativen und privaten Bestimmtheit in den Gegenstand einer selbständigen erkenntnistheoretischen Problemstellung.

In keinem Fall ist so "die Unausdrückbarkeit" ein Prinzip der psychologischen Einsicht. In keiner seiner möglichen Formen kann der Gedanken einer "negativen Psychologie" - denn so sollte man sagen, so wie man "negative Theologie" sagt - als der erste methodische Ansatz für die erkenntnistheoretische Durchdringung einer Wissenschaft vom Psychischen in Frage kommen.

Aber vielleicht führt gerade die unentwirrbare Komplexion der Probleme, wie sie sich aus der Diskussion dieser Umstände von selbst ergibt, zu der Einsicht, daß die erkenntnistheoretische Analyse der Psychologie andere Voraussetzungen als die bisher erwogenen zu erfüllen habe. Vielleicht offenbaren sich in manchen ihrer  eigenen  Ergebnisse die Bedingungen unmittelbarer und deutlicher, die die Psychologie als methodische Einheit beherrschen. Vielleicht erweist sich der dadurch bestimmte zweite Weg zur Kritik des Begriffs der Psychologie gangbarer als der erste. Es ist der Weg, an dessen Ausgangspunkt, wie ich meine, die  Psychologie des Denkens  steht.


II.

Ein bedeutendes Doppelmoment ist es, gegen das sich diese jüngste Sonderdisziplin psychologischer Forschung mit ihrem methodischen Voraussetzungen, wie mit ihren sachlichen Ergebnissen richtet: die Einstellung der psychologischen Forschung auf das  Anschauliche  im weitesten Sinn und der Begriff jener, in ihrer ganzen Struktur letzten Endes durch "anschauliche" Inhalte bestimmten Verknüpfung, wie sie die sogenannte  "Assoziation"  fordert. Daß auch das schlechthin Unanschauliche und von anschaulichen Bestimmungen schlechthin Unabhängige Gegenstand psychologischer Fragestellung werden könne - das war die erste und bedeutsame Entdeckung der Denkpsychologie. Der  "Gedanke"  als solcher wurde jetzt zum psychologischen Problem; und die völlige Ohnmacht des Assoziationsprinzips, sich dieses Problems mit Erfolg zu bemächtigen, wurde offenkundig. Auf der ganzen Linie traten jetzt die entscheidenden Differenzen zwischen assoziativen Verbänden und "Gedanken" im eigentlichen Sinn in die Erscheinung und immer deutlicher offenbarte das durch die Schule KÜLPEs vielverheißend inaugurierte denkpsychologische Experiment, daß  gewußt  werden kann, was niemals hat  assoziiert  werden können. Ja mehr noch! das Phänomen des  Wissens  überhaupt verlangte auf dem Boden psychologischer Forschung eine von "Anschauung" und "Assoziation" unabhängige und selbständige Analyse. So wurde allmählich und folgerichtig die Gesamtheit derjenigen Phänomene und Prozesse, die der Begriff des "Wissens" impliziert, zum Gegenstand einer denkpsychologischer Untersuchungen: das "Glauben" und das "Meinen", das "Annehmen" und das "Vermuten", vor allen Dingen aber auch im Urteilen und Schließen das  "Erkennen". 

Kein Zufall, daß jetzt auch das Moment des  "Sinns"  als vollwertiger Gegenstand einer psychologischen Fragestellung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Es wird zum Repräsentanten jener spezifischen Funktion der Einheit, die dem Mosaik des Assoziationsproduktes gegenüber die Eigenart des "Denkens" - sie mag im Besonderen wie auch immer charakterisiert sein - kennzeichnet.

Unverkennbar freilich kling noch aus den ersten experimentellen Publikationen etwas wie eine leise Überraschung, um nicht zu sagen, Enttäuschung heraus. Immer schärfer umgrenzt sich die Forderung nach einer durchgängigen psychologischen Selbständigkeit der Denkbeziehung; aber immer weniger will es dabei gelingen, für sie ein psychologisches "Substrat" zu finden. In der Geschichte der Wissenschaften - und ganz besonders in derjenigen der Philosophie - sind Situationen dieser Art keineswegs vereinzelt; ja sie bezeichnen hier für bedeutsame Übergangsformen in weitem Umfang geradezu die Regel. Schon sind vielfach, das meine ich mit dieser Andeutung, die  Fragen  an neuen, herkömmliche Auffassungsweisen vielleicht revolutionierenden Gesichtspunkten orientiert; aber noch ist die Erwartung, mit der man ihrer  Beantwortung  entgegenblickt, auf die Gesichtspunkte der alten Fragestellung abgestimmt. So mägen auch in der Konstatierung des Mangels eines psychologischen "Substrates" für "Gedanken" gelegentlich noch methodische Reminiszenzen [Erinnerungen - wp] aus dem Bereich der überwundenen oder doch zu überwindenden "Vorstellungspsychologie" mitklingen; so mag die unwillkürliche Reflexion auf die herkömmlichen Mittel psychologischer Erkenntnis manchmal noch den Ausblick auf die letzten Konsequenzen der neuen Gesichtspunkte getrübt haben, von welchen die  Fragen  bereits beherrscht gewesen waren.

Die Analyse der  Fragen  der neuen Wissenschaft ist es darum auch, was die Aufmerksamkeit des Methodologen in erster Linie auf sich lenkt. Und so trivial es der flüchtigen Betrachtung erscheinen mag, so bedeutsam ist es doch, sich in Bezug auf den Charakter dieser Fragen jetzt schon  eines  klar zu machen, dies nämlich, daß die experimentelle Erforschung des Denkphänomens eben das  denkende  Verhalten des Versuchsobjekts selbst voraussetzt; oder vielleicht noch genauer, daß dieses denkende Verhalten die oberste und letzte theoretische Voraussetzung jedes Denkexperiments darstellt. Denn niemals wird es sich für dasselbe darum handeln können, das Denken aus einem schlechthin denkfremdenn Substrat, sozusagen aus dem "Nichts des Denkens", erstehen zu lassen; sondern immer nur darum, die Typen, in denen sich das Denken gestaltet, kennen zu lernen, um  an  ihnen immer wieder die Momente herauszustellen, die sie eben  als  Typen des Denkens kennzeichnen. Nicht einfach um die Registrierung von Reaktionen überhaupt auf Sinnenreize ist es daher dem Experimentator hier zu tun; vielmehr nur um die Registrierung solcher Reaktionen, die nicht nur das "Ich denke" der Versuchsperson "muß begleiten können", sondern die die Versuchsperson selbst bewußt als den Inhalt dieses Denkens bezeichnet. (8)

Jeder Schritt im Rahmen des denkpsychologischen Experiments steht von vornherein schon unter dem allgemeinsten Gesichtspunkt der Normen des Denkens. Schon die methodische Eigenart des  Reizes  läßt hierüber im allgemeinen keinen Zweifel. Denn nicht die naturwissenschaftliche, sondern, um es so auszudrücken, die  logische  Valenz des Reizes ist hier, wenigstens in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle, entscheidend. Der Reiz schon ist hier, dem Begriff des Denkens gemäß, der ja dem ganzen Verfahren die Richtung weist, vor allem  Bedeutungsträger,  oder er steht doch  zu  Bedeutungsträger in einer eindeutig fixierbaren Beziehung. Und die Versuchsperson wiederum muß dem Sinn der Aufgabe nach, in deren Dienst sie gestellt ist, um diesen Charakter des Reizes im weiten Umfang "wissen". Sie hat den ihr dargebotenen Reiz - in vielen Fällen sogar  als  solchen - zu "verstehen". Sie muß "wissen" oder "nicht wissen", ja vielfach auch wissen, daß sie im Sinne des Versuchsplanes zu "wissen", bzw. "nicht zu wissen" habe, was der ihr gezeigte Gegenstand "ist", oder was der ihr zugerufene halbe oder ganze Satz "bedeutet". So erhält hier auch der Begriff der "Reaktion" einen wesentlich veränderten Inhalt. Die Reaktion besteht jetzt in einer bewußten Erfassung, bzw. Produktion und Mitteilung von  Bedeutungszusammenhängen.  Ihr Begriff schließt mit anderen Worten hier, wie schon die flüchtigste Überlegung lehrt, ein Element in sich, das den Begriff des Versuchs nach der Norm eine völlig neuen, in der Naturforschung sonst nirgends vertretenen Dimension determiniert; einer Dimension, die mit dem naheliegenden Wort "Subjektivität" deshalb nicht klar genug charakterisiert erscheint, weil es eine spezifische Form eben des  Bedeutungs bewußtseins ist, durch die sie sich allein kennzeichnet. Der Versuch ist jetzt in einem zweifachen Sinn des Wortes "vernünftig": nicht nur, wie sonst auch, als eine "vernünftige" Frage an das Objekt; sondern als eine vernünftige Frage an die  Vernunft  des Objekts.

Das aber fügt nicht nur dem Begriff des Versuchsobjekts, es fügt auch dem des Verhältnisses zwischen Versuchsobjekt und Experimentator, eine eigenartige und wesentliche Bestimmung hinzu. Das Versuchsobjekt wird im denkpsychologischen Experiment im weiten Umfang zu seinem eigenen Objekt. Es muß dies werden; denn gerade in der Herbeiführung der damit gesetzten Beziehung besteht ja hier recht eigentlich das Experiment, besteht doch in ihr das "Denken" selbst. In dem gleichen Maß aber verschwimmen auch die Grenzen zwischen Versuchsobjekt und Experimentator. Freilich, noch sind zunächst die Kompetenzen wohlgeschieden: die denkpsychologische Aktivität des Versuchsobjektes soll zum Objekt der Untersuchung werden - ein hinsichtlich seiner logischen Struktur durchaus einwandfreies Ziel. Kraft des gleichen Moments der Aktivität aber, in der sich das Denken des Versuchsobjekts vollzieht, wird sich  eben  dieses Denken selbst, und zwar  in  dieser seiner Aktivität, zum Gegenstand. So gewiß nun dieser Umstand auf der einen Seite in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle die methodische Grundlage für die Möglichkeit des denkpsychologischen Versuchs überhaupt bildet, so gewiß muß er auf der anderen zu einer Quelle der Interferenz [Beeinflussung eines Gedächtnisinhalts durch einen anderen - wp] und der Konkurrenz zwischen Versuchsobjekt und Experimentator werden.  Beider  Aktivität hat jetzt im weiten Umfang einen gemeinsamen Bereich der Betätigung; und ohne prinzipielle Schwierigkeit ließe sich der scheinbar paradoxe Fall konstruieren, daß das Experiment den Experimentator ausschaltet. Und entsprechende Verhältnisse liegen naturgemäß vor auch auf Seiten des  Experimentators.  Im Rahmen des denkpsychologischen Versuchs ist der Experimentator nur insofern, was er dem Begriff  jedes  Versuchs nach sein muß: das personifizierte Werkzeug der Methode, wie er auch sich selbst zugleich Objekt, und zwar denkpsychologisches Objekt ist. Gewiß, auch sonst in der Wissenschaft hat ja der gewissenhafte Experimentator an sich "Kritik zu üben. Das Bezeichnende aber für unseren Fall ist dies, daß hier die Selbstkritik des Experimentators mit der Untersuchung seines Objekts im weiten Umfang auch  sachlich  zusammenfällt. Das Erfassen einer Bedeutungsbezeihung durch das Versuchsobjekt wird ihm nur zum Gegenstand indem er selbst die gleiche Bedeutungsbeziehung erfaßt, genauer: indem er sich über den Tatbestand seines Erfassens der gleichen Bedeutungsbeziehung Rechenschaft gibt und dabei die Gleichheit dieses Tatbestands mit dem zu untersuchenden voraussetzt.

Ja mehr noch! Nur ein Umstand von durchaus nicht grundsätzlichem Charakter ist es, der selbst den für die Praxis des Experimentierens so  fundamentalen  Unterschied zwischen Versuchsobjekt und Experimentator aufrechterhält. Das Versuchsobjekt kennt in den meisten Fällen die Deutung nicht, die seinen Äußerungen durch den Experimentator zuteil werden soll. Wäre sie ihm bekannt, dann könnten sich ohne weiteres, und zwar innerhalb ein und derselben experimentellen Fragestellung, die Rollen vertauschen, d. h. der Experimentator könnte geradezu zum Gegenstand des bisherigen Versuchsobjektes werden. Es ist eben ein letzten Endes durch das Moment des  "Wissens"  bedingter Sachverhalt, daß in der experimentellen Denkpsychologie beide der in Betracht kommenden Faktoren, Versuchsobjekt  und  Experimentator, wenigstens prinzipiell, sämtliche der in Betracht kommenden Bedingungen des Systems erfüllen.

Bleibt dennoch der tatsächliche Betrieb der experimentellenn Forschung von den Konsequenzen dieses Verhaltens relativ unberührt, so liegt dies, wie gesagt, von einer Reihe sekundärer Umstände abgesehen, an ganz bestimmten Momnten der experimentellen  Technik:  in der Regel kennt eben der Experimentator allein den vollen Plan und die ganze Absicht des Versuchs. Seine Rolle bleibt es, die störenden Momente fernzuhalten, die sich für das Experiment aus der vorzeitigen Beachtung seiner Aufgabe durch das Versuchsobjekt ergeben müssen. Aus diesem Grund wird auch der tatsächliche Gang der Forschungsarbeit durch die dargelegten Verhältnisse kaum nennenswert beeinträchtigt. Umso deutlicher freilich werden sie sich dafür überall da offenbaren müssen, wo in irgendeiner Beziehung  grundsätzliche  Momente berührt werden:  sie  allein sind es, die den Streit um die methodologische Frage "Selbstbeobachtung oder experimentelle Fremdbeobachtung" nicht zur Ruhe kommen lassen, dabei aber eine endgültige und eindeutige Entscheidung dieser Alternative prinzipiell verwehren. (9)


III.

Von solcher Art sind die Konsequenzen des Umstandes, daß das denkende Verhalten des Versuchsobjekts und damit der  Begriff  des Denkens zu den unerläßlichen Voraussetzungen der denkpsychologischen Arbeit zu zählen sind. Kann nun nach all dem, so wird man fragen müssen, auf dem Boden und mit den Mitteln der Psychologie die Frage aufgeworfen werden: was ist Denken? Ich glaube nicht. Diese Frage hier stellen, hieße auf dem Boden der Psychologie aufs Neue hinter das Phänomen des Denkens zurückgehen; es bedeutete nichts Geringeres als einen Rückfall in die Irrtümer der "Vorstellungspsychologie"; es implizierte zumindest die Wiederholung des völlig aussichtslosen Versuchs, das Phänomen der Denkbeziehung aus einem schlechthin denkfremden Substrat aufzubauen. Aber gesetzt den Fall: dieser Versuch gelänge. Wäre es nicht dennoch in hohem Maße zweifelhaft, ob damit jene erste Frage schon beantwortet ist? Wäre mit der Aufzeigung des Punktes, an welchem das "Assoziieren" und das "Vorstellen" zum "Denken" wird, die Frage nach dem Begriff dieses letzteren Phänomens wirklich schon erledigt? Oder würde der Gedanke einer denkpsychologischen "Generatio aequivoca" [Urzeugung - wp] mit dem der biologischen nicht die Gefahr teilen müssen, Begriff und Geschichte zu verwechseln? Ich meine, selbst die gelungene Reduktion des "Denkens" auf das "Vorstellen" würde die Frage nach dem  Begriff  beider nicht überflüssig erscheinen lassen.

Im  einen  Fall freilich wären solche Bedenken gegenstandslos: dann nämlich, wenn das Phänomen des Denkens selbst es wäre, was Vorstellung und Assoziation, auch  psychologisch,  bestimmt. In diesem Fall gewänne die Psychologie des Denkens eine über ihren ursprünglichen methodischen Charakter weit hinausgreifende Funktion und schon im bloßen Ausblick auf eine solche Möglichkeit wäre die Frage der ernstesten Erwägung würdig, ob nicht das Phänomen des Denkens geradezu als das Medium zu betrachten sei,  in  dem und  durch  das sich die Gesamtheit des psychischen Lebens entfaltet.

Je größer aber die Perspektive ist, die sich solchen Überlegungen eröffnet, umso bedeutsamer erscheint es, für einige Augenblicke bei einem scheinbar prinzipiellen Einwand gegen die Möglichkeit der Denkpsychologie überhaupt zu verweilen. Wir wollen in der experimentellen Denkpsychologie - so macht man geltend - erfahren, was in der denkenden Versuchsperson vorgeht; und sie sagt uns allergünstigsten Falls, was sich ihrer  Meinung  nach in ihr ereignet. Denn weit mehr und etwas anderes als uns selbst bewußt wird und als wir mitteilen können, ereignet sich in uns. Nichts vermag uns daher zu verbürgen, daß die Vorgänge unseres Bewußtseins unverändert in den Blickpunkt auch nur unserer  eigenen  Aufmerksamkeit treten. Als ein trübes Medium schiebt sich zwischen unser wirkliches Denkerlebnis und unser Bewußtsein von ihm dessen gedankliche und vollends dessen sprachliche Symbolisierung dazwischen. Das Wort und die Gliederung der Worte in der zusammenhängenden Rede ist roh im Vergleich zum Erlebnis selbst; das Wort vereinfacht wohl, aber es zerreißt zugleich auch und vernichtet geradezu das zarte Gewebe der Gedanken. Es fügt ihm hier hinzu, was es überhaupt nicht enthalten haben mag, und es läßt dort als schematisierendes und nivellierendes Elment den Gedanken ärmer und dürftiger erscheinen als er in Wahrheit ist. Das Wort mit seinen gedanklichen Voraussetzungen verfälscht den Gedanken nach den mannigfachstenn Richtungen und Dimensionen hin. Und nun soll gerade dieses, so durchaus inadäquate Symbol des Denkerlebnisses zur Stütze des ganzen Versuchs werden, indem es die Brücke schlägt zwischen Versuchsobjekt und Experimentator, freilich nicht ohne im letzteren die ganze Reihe von Schwierigkeiten, die sich aus dem Abstand von Wort und Denkerlebnis schon im Versuchsobjekt ergeben hatten, in umgekehrter Abfolge zu wiederholen.

Es ist nicht zu leugnen, daß hiermit eine Schwierigkeit von weittragener Bedeutung bezeichnet ist. Aber nur dann darf man hoffen, sie mit aller Schärfe und grundsätzlich zu überwinden, wenn aus dem Einwand, den sie begründen soll, jede Unbestimmtheit eliminiert ist. Und eine solche ergibt sich sofort, wenn man die Wurzel des ganzen Arguments scharf genug ins Auge faßt, in der Supposition eines Gegensatzes zwischen  Denkerlebnis  einerseits, der - gedanklichen und der sprachlichen -  Repräsentation  des Denkerlebnisses andererseits. Die ansich wissenschaftliche Absicht unbestechlicher Wahrheitstreue und Objektivität hat in dieser Supposition einen Fehler gezeitigt, der in der Geschichte der Wissenschaft nicht vereinzelt dasteht. Weil der Versuch einer bewußten Repräsentation des "Erlebten" - und ich meine hier zunächst die gedankliche - das Erlebnis erfahrungsgemäß "verfälschen" kann und "verfälscht", deshalb glaubt man nun auch den  Begriff  des Erlebens von dem seiner  möglichen Repräsentation  überhaupt grundsätzlich trennen zu dürfen; - ohne zu bedenken, daß von einem "Denkerlebnis" sinnvill immer nur im Hinblick auf eine  mögliche Repräsentation  gesprochen werden kann.  Einschlechthin irrepräsentables Denkerlebnis wäre keines.  Ich meine damit nicht, um auch dem geringsten Zweifel über den Sinn dieser These den Boden zu entziehen, daß jedes Denkerlebnis repräsentiert wird; wohl aber möchte ich behaupten, daß jedes Denkerlebnis  als  Denkerlebnis  repräsentabel  ist. Das "Ich denke", so meine ich, muß es mit allen seinen Bedingungen "begleiten können". In seiner Repräsentabilität erst wird es im kritischen Sinn dieses Wortes  "möglich". 

Mit anderen Worten: Stets muß es für die empirische Forschung eine im besonderen Fall gar nicht scharf genug zu stellende Frage bleiben, ob eine  bestimmte  Repräsentation des denkend Erlebten zutrifft; niemals aber kann es diese Frage rechtfertigen, daß man zwischen dem Begriff des Denkerlebnisses und dem seiner möglichen gedanklichen Repräsentation überhaupt eine prinzipiell unübersteigbare Scheidewand errichtet. Ja, man darf wohl noch um einen Schritt weiter gehen! Es wäre unmöglich, die Zulänglichkeit der konkreten Repräsentation eines Denkerlebnisses überhaupt auch nur zu diskutieren, wenn Denkerlebnis und Repräsentation im Sinne des Einwandes voneinander  begrifflich  geschieden werden könnten; wenn nicht der Begriff des ersteren durch die Bedingungen der letzteren bestimmt wäre. Man verabsolutiert also, um es noch einmal kurz zu sagen, in dem Einwand, der diesen Erwägungen zugrunde liegt, den Begriff des Denkerlebnisses, indem man die berechtigte Unterscheidung zwischen Denkerlebnis und der Möglickeit seiner mittelbaren oder inadäquaten Repräsentation dogmatisiert; d. h. indem man aus jener Unterscheidung, die methodisch und heuristisch von allerhöchstem Wert ist, einen sachlichen Gegensatz, eine "realis distinctio" [wirklichen Unterschied - wp] macht. Man sollte endlich aufhören, immer wieder in diese realis distinctio zurückzuverfallen und bedenken, daß eine der ergiebigsten Quellen wissenschaftlicher Einsicht zu allen Zeiten die bewußte Preisgabe okkulter Qualitäten gewesen ist.

Kein Denkerlebnis, so darf man wohl hinzufügen, das nicht Bedeutungserlebnis, und kein Bedeutungserlebnis, das nicht der allgemeinen Bedingung der Bedeutung - der Norm des Urteils - gemäß gegliedert wäre.  Dieses  Gegliedertsein der Denkerlebnisse allein ist es, kraft dessen wir uns letzten Endes, allen individuellen Differenzen zum Trotz, "verstehen" oder zu verstehen glauben. Der "Verstand" ist eben die Form und Bedingung aller "Verständigung" - auch jener primären Verständigung mit uns selbst.

Man könnte vielleicht vermuten, daß diese Argumentation sich des Fehlers schuldig macht, das Bedeutungserlebnis unter das Joch einer ihm wesensfremden Norm zu beugen; ja man könnte vollends eine Verwechslung von  Bedeutung  und  Bedeutungs erlebnis, und damit die Gefahr der Logisierung eines psychologischen Problems, befürchten. Allein, wie mir scheint, zu Unrecht. Es ist hier, um Klarheit zu schaffen, in hohem Maße wichtig, sich auf eine Reihe von begrifflichen Beziehungen zu besinnen, die, soviel ich sehe, die gesamte Problemlage beherrschen. Zunächst besteht zwischen den Momenten der "Bedeutung" und des "Bedeutungserlebnisses" ein Verhältnis der  Korrelation.  "Bedeutung" und "Bedeutungserlebnis" bezeichnen verschiedene, aber einanander wechselseitig involvierende und daher auch wechselseitig aufeinander zu beziehende Faktoren. Jedes Bedeutungserlebnis unterliegt, wie eben erörtert, der Norm, die die Bedeutungsbeziehung als solche konstituiert. Und jede Bedeutungsbeziehung andererseits ist als  Bedeutungs beziehung "erlebbar". Denn nicht nur dies liegt im Begriff der Bedeutungsbeziehung, daß ihr Geltungsbestand von der Tatsache ihres Erlebtwerdens völlig unabhängig ist, sondern auch dies, daß sie diese Bedingung nur als eine  Bedeutungs beziehung, d. h. eben nur im Hinblick auf ihre  "Erlebbarkeit"  erfüllen kann. Ja, noch in einem zweiten Sinn involviert die Bedeutungsbeziehung als solche, wie kaum betont zu werden braucht, Erlebbarkeit: sie soll nicht nur "unabhängig von allen" gelten, sie soll,  weil  sie unabhängig von allen gilt, auch "für alle" gelten können.

Führt nun dieser Sachverhalt dazu, die Psychologie auf dem Boden der Logik in eigenartiger Weise zum Problem werden zu lassen, so bedeutet er für den gegenwärtigen Zusammenhang den Hinweis auf denjenigen Faktor, den ich vorhin gelegentlich als die "Form des Psychischen" bezeichnet habe. Er involviert den Gedanken einer Beziehung, in der sich die reinen Geltungswerte der Bedeutungsrelation mit einer, durch die Erkenntniswissenschaft allerdings erst näher zu determinierenden Form der Seinsbestimmtheit verbinden. Welche Voraussetzungen hierfür in Frage kommen müssen, ist eine Sache für sich. Gewiß ist, daß sie vor allem die Bedingungen in sich schließen werden, die die Möglichkeit einer spezifischen und absolut prinzipiellen Einmaligkeit und Einzigartigkeit derjenigen Faktoren beherrschen, auf welche sich die Bedeutungsbeziehung im Sinne der "Fundierung" aufbaut; - wobei es natürlich eine besondere Aufgabe der Erkenntniswissenschaft sein wird, die damit gesetzte "Seinsbestimmtheit einzufügen. Während nun die Ermittlung der empirischen Gesetze des  Eintritts  jener Seinsbestimmtheit vorbehalten bleibt; so gestattet, ja fordert die genannte Beziehung als solche - im System jener tiefdringenden Analyse, deren Begriff und Entwicklung sich, wie man weiß, an den Namen HUSSERLs knüpft - eine selbständige Form der wissenschaftlichen Behandlung. Niemals dürfen die Umstände, die den Eintritt jener spezifischen Seinsbestimmtheit des Bedeutungserlebnisses in der Zeit beherrschen, um ihm damit den Stempel ihrer Eigenart aufzuprägen, übersehen werden; und ohne ihre  nur  durch experimentelle Methoden mögliche, kritische Herausstellung wäre eine "Psychologie des Denkens" überhaupt nicht möglich. Aber niemals kann andererseits die Struktur des Bedeutungserlebnisses selbst mit der empirischen Gesetzlichkeit jener Umstände, also die zeitliche Bestimmtheit seines "Seins" mit der Zeitlosigkeit der Beziehung in der es besteht, verwechselt werden.

Je schärfer sich nun so der Begriff des Denkerlebnisses nach allen Richtungen hin begrenzt, umso klarer wird, wie mir scheint, die Hinfälligkeit jenes Einwandes, der das Denkerlebnis zur Möglichkeit seiner Repräsentation in einen prinzipiellen Gegensatz bringen will.

Man sollte vielleicht unterscheiden zwischen der  primären  und einer  sekundären  Repräsentation des Denkerlebnisses. Die primäre ist - ich bediene mich jetzt einer etwas abgekürzten Bezeichnungsweise - für das Bedeutungserlebnis im weitesten Sinne des Wortes  konstitutiv:  durch sie erst  "ist"  das Bedeutungserlebnis. Die sekundäre Repräsentation dagegen ist eine Funktion der primären. Und nun ist es eine der wichtigsten und fruchtbarsten, übrigens dem Begriff aller empirischen Forschung überhaupt gemäßen, heuristischen Maximen der Denkpsychologie, daß sie jede in irgendeiner Erfahrung vorliegende Repräsentation von Denkerlebnissen stets als eine schlechthin sekundäre und komplexe, d. h. als eine solche betrachte, die die wissenschaftliche Analyse nach der Richtung der primären Repräsentation hin vor immer neue Aufgaben stellt. Absichtlich vermeide ich das dem Kantianer an dieser Stelle zur Charakteristik der "primären" Repräsentation sich vielleicht aufdrängende Wort  Kategorie Denn die primäre Repräsentation ist zum Unterschied von der Kategorie, unbeschadet ihres für die "Möglichkeit" des Denkerlebnisses konstitutiven Charakters, um es mit einem Wort zu sagen, auch  material  bestimmt. -

Zweierlei wird aus diesen Zusammenhängen zu folgern sein. Einmal dies, daß primäre und sekundäre Repräsentation des Denkererlebnisses, bei allen Unterschieden, in ihrer  Konstitution  übereinstimmen. Nicht ein "Nichts" der Repräsentation soll im gedanklichen Ausdruck des Erlebnisses in eine diesem wesensfremde Form gepreßt werden; sondern an die Stelle einer, und zwar eben der primären Form der Repräsentation, die also das sogenannte Erlebnis selbst ist, treten aus Gründen und nach Gesetzen, die zu fixieren der phänomenologischen und der experimentellen Forschung vorbehalten bleibt, andere, sekundäre. Und eine zweite Konsequenz besteht in der Einsicht, daß es ein Kriterium dafür, ob es in einem  gegebenen  Fall gelungen ist, zur "primären Repräsentation" des Denkerlebnisses vorzudringen, auf dem Boden der  Psychologie  überhaupt nicht geben kann. Denn jener Begriff bezeichnet gar kein  Ergebnis  der denkpsychologischen Forschung; sondern eine Voraussetzung, ein theoretisches  Prinzip  der denkpsychologischen Forschung; ein Prinzip, das letzten Endes auf der unaufhebbaren Beziehung zwischen Denkerlebnis und Bedeutung beruth, und das selbst nur einen veränderten Ausdruck des Grundsatzes darstellt, daß die Denkpsychologie den Begriff des denkenden Verhaltens zu ihrer obersten Bedingung hat.

Prinzipiell unterschieden werden muß vom eben dargelegten Gedanken eine andere Angelegenheit: die alltägliche Einsicht, daß ein und dasselbe "Denkerlebnis" durch eine Reihe einander gleichwertiger Gedanken repräsentiert werden kann. Denn man wird nicht verkennen dürfen, daß der Begriff des Denkerlebnisses jetzt in einem durchaus anderen Sinn verwandt ist als vorhin. Sollte es früher, im Rahmen jenes oft wiederholten Einwandes, eine Instanz sein, an der sich die Schranken aller Denkpsychologie offenbaren, ein Faktor, der sich stets  hinter  anderen, ihm irrtümlich substituierten, verbirgt, - so steht es hier, wenngleich auch nur immer durch sich selbst definiert, doch im vollen Licht der psychologischen Betrachtung. Von umso größerem Interesse aber ist es, sich darüber Rechenschaft zu geben, daß die Beziehung, die wir im Begriff der "primären Repräsentation" fixieren konnten, sich auch hier als vorhanden erweisen läßt. Sie ist auch hier das konstitutive Prinzip, das die Gegenüberstellung eines Denkerlebnisses und einer Reihe ihm gleichwertiger Gedanken überhaupt erst ermöglicht. Sie ist genauer gesagt, die unerläßliche Bedingung, unter der eine solche Gleichwertigkeit selbst steht. Sie ist dasjenige mögliche Bedeutungserlebnis - wobei das Wort "Erlebnis" natürlich wieder im ersten Sinn gebraucht erscheint -, das alle im fraglichen System in Betracht kommenden Faktoren als deren spezifische Gesetzlichkeit umfaßt. Klar sondert sich damit das Gebiet der denkpsychologischen Forschung vom System der Voraussetzungen, die es beherrschen; und unverkennbar erweist sich als der Mittelpunkt dieses letzteren der Gedanke einer im kritischen Sinn des Ortes  "möglichen" Bedeutung. 

Tiefer als es der flüchtige Anlaß dieser Stunde vielleicht zu rechtfertigen möchte, sind wir damit in das Gewirr denkpsychologischer Prinzipienfragen hineinverstrickt worden. Aber was es uns darbietet, ist nicht der Ausblick in eine Sphäre grundsätzlicher Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit; auch nicht die künstliche Kombination einer solchen Unbestimmtheit mit den konstitutiven Elementen einer nichtpsychologischen Erfahrung; sondern eine spezifische Form der  Bestimmtheit,  die derjenigen der nichtpsychologischen Erfahrung wohl nicht beziehungslos gegenübersteht; im Gegensatz zu ihr aber eine selbständige, d. h. wohlcharakterisierte Gesetzlichkeit darstellt und begründet. Nicht "rekonstruktiv" ist, um diese NATORP'sche Bezeichnung zu gebrauchen, der theoretische Tatbestand zumindest der  Denkpsychologie,  sondern  konstruktiv;  konstruktiv freilich nach der Norm jener eigenartigen und selbständig zu analysierenden Bedingungen, die insgesamt mit dem Begriff der "möglichen Bedeutung" gesetzt sind.
LITERATUR - Richard Hönigswald, Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Kant-Studien, Bd. 18, Berlin 1913 [Vortrag gehalten auf der Generalversammlung der Kant-Gesellschaft, Halle a. d. Saale am 20. April 1913]
    Anmerkungen
    1) PAUL NATORP, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Tübingen 1912, Seite 303
    2) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 223
    3) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 111
    4) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 133
    5) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 20
    6) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 78
    7) NATORP, Psychologie a. a. O., Seite 39, vgl. auch Seite 32.
    8) Zur Frage des Denkexperiments vgl. jetzt auch HANS DRIESCH, Die Logik als Aufgabe, Tübingen 1913.
    9) Vgl. hierzu WUNDT, Über Ausfrage-Experimente und über die Methoden zur Psychologie des Denkens, "Psychologische Studien", 1907; auch BÜHLER, Antwort auf die von W. Wundt erhobenen Einwände etc., "Archiv für die gesamte Psychologie", 1908