ra-1p-4Gegenstände höherer OrdnungZur Psychologie der Zeitanschauung    
 
CHRISTIAN von EHRENFELS
Über Gestaltqualitäten

"Denken wir uns die durch den Gesichtssinn vermittelten Raum- und Farbengestalten aller Art nun noch sich verändernd, so erhalten wir eine unermessliche Reihe von zeitlichen Gestaltqualitäten, von deren Reichtum die kargen sprachlichen Bezeichnungen für Phänomene solcher Art auch nicht die entfernteste Vorstellung zu bieten vermögen."

"Was in dieser Art sprachlich fixiert werden kann, sind nur Abstrakta, welche in unzähligen konkreten Ausgestaltungen verwirklicht werden können, so daß es schlechterdings unmöglich ist, auch durch komplizierte Konstruktionen eine halbwegs genaue Mitteilung von anschaulichen Gestaltqualitäten dieser Art zu realisieren."

"Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein, von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen."

"Die Begriffe von Veränderung und Dauer sind durch Abstraktion aus zeitlichen Gestaltqualitäten erst gewonnen; jede ihrer Spezifikationen, somit jedes Zeitwort im eigentlichen Sinn bezeichnet Gestaltqualitäten irgendwelcher Art."

"Gesetzt, es wäre das Ideal der Naturwissenschaft erreicht und alles physische Geschehen auf Mechanik der Atome zurückgeführt, so müßte eine vollständige, auch die psychische Welt umfassende Naturerklärung noch angeben, in welcher Weise die psychischen Erscheinungen an das physische Geschehen gebunden sind."


Die vorliegenden Erörterungen verfolgen den Zweck, einem in der Philosophie schon mehrfach beachteten, jedoch - wie mir dünkt - noch nicht völlig präzisierten psychischen Tatbestand wissenschaftlichen Ausdruck zu verleihen. Diese Aufgabe, welche sich schon in den Titelworten durch die Aufstellung eines bisher ungebräuchlichen und daher nur beiläufig verständlichen Terminus anzeigt, kann kurz durch die Forderung charakterisiert werden, den durch jenen Terminus vorerst nur angekündigten Begriff zu erläutern, zu definieren, und das Vorhandensein der ihm entsprechenden Objekte in der Natur nachzuweisen. - Als Ausgangspunkt hierzu ergaben sich mir wie von selbst in der Schrift von ERNST MACH, "Beiträge zur Analyse der Empfindungen" (Jena 1886), eine Reihe von Bemerkungen und Hinweisen, welchen ich, obgleich sie in ganz anderem Zusammenhange entstanden zu sein scheinen, dennoch eine wesentliche Festigung meiner Ansichten über die hier darzulegenden Verhältnisse verdanke.

MACH stellt (wie unter Anderem die im Folgenden angeführten Zitate erweisen) die für manchen gewiss paradox klingenden Behauptungen auf, daß wir Raumgestalten und selbst "Tongestalten" oder Melodien unmittelbar zu  empfinden  vermögen. Und in der Tat müsste zum mindesten die zweite dieser Thesen nicht nur zum Anschein, sondern auch ihrem Inhalte nach unzweifelhaft als widersinnig bezeichnet werden, wenn es nicht sofort einleuchten würde, daß hier von Empfindungen in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinne die Rede ist. Denn daß, wenn nur Gegenwärtiges  empfunden  wird, die zeitlich sich abspielende Melodie jedenfalls kein Objekt der Empfindung abgeben könne, das wird selbstverständlich von MACH ebenso gut zugestanden werden, wie von jedem, welcher sich scheut, Widersprechendes zu behaupten. Im Verlaufe der Ausführungen zeigt es sich jedoch, daß der Verfasser bei jener vielleicht nicht ganz treffenden Bezeichnung lediglich die Unmittelbarkeit des Eindruckes im Auge hatte und dessen Unhabhängigkeit von jeglicher intellektuellen Verarbeitung durch das Subjekt hervorzuheben gewillt war. So verstanden, enthalten jene Behauptungen einen in sich widerspruchsfreien, keineswegs aber unbestreitbaren Sinn; denn die Auffassung ist eine weitverbreitete, wonach wir die Vorstellung etwa einer Raumgestalt oder gar einer Melodie nicht als etwas Fertiges von außen empfangen, sondern dieselben durch Zusammenfassung der betreffenden Einzelempfindungen erst zu erzeugen genötigt sind.

Mit dieser Kontroverse ist ein wichtiges Problem der genetischen Philosophie aufgeworfen; - ebenso wichtig aber und vielleicht näherliegend dünkt mich die Frage der deskriptiven Psychologie, was denn jene Vorstellungsgebilde  Raumgestalt  und  Melodie  in sich seien, - eine bloße Zusammenfassung von Elementen, oder etwas diesem gegenüber Neues, welches zwar mit jener Zusammenfassung, aber doch unterscheidbar von ihr vorliegt?

Dürften wir in MACHs Darstellungen den Namen Empfindung in der üblichen Weise auslegen, so könnten wir schon in seinen oben angeführten Bezeichnungen eine Antwort auch auf diese Frage erblicken. Denn nur dasjenige, was man für relativ einfach hält, pflegt man gemeiniglich Empfindung zu nennen. Hat aber MACH, indem er dem  Raum- oder Tongestalten  jenen Namen beilegte, auch ihre Einfachheit behaupten wollen, so ist es klar, daß er sich hiermit der zweiten unter den angeführten Alternativen zuwandte und jene  Gestalten  nicht als blosse Zusammenfassung von Elementen, sondern als etwas (den Elementen gegenüber, auf denen sie beruhen,) Neues und bis zu gewissem Grade Selbständiges betrachtete - daß eine solche Schlussfolgerung aus des Verfassers Ausdrucksweise auf seine Überzeugung richtig sei, lässt sich aus seinen Darlegungen nicht mit Sicherheit beweisen; dennoch aber scheinen mir folgende Stellen dafür zu sprechen:
    "Der Baum mit seinem grauen, harten, rauhen Stamm, den zahllosen, im Winde bewegten Ästen, mit den glatten, glänzenden Blättern erscheint uns zunächst als ein untrennbares Ganze." (Seite 40)

    "Wenn wir zwei Tonfolgen von zwei verschiedenen Tönen ausgehen und nach denselben Schwingungszahlenverhältnissen fortschreiten lassen, so erkennen wir in beiden dieselbe Melodie ebenso unmittelbar durch die Empfindung, als wir an zwei geometrisch ähnlichen, ähnlich liegenden Gebilden die gleiche Gestalt erkennen." (Seite 125)

    "Sowohl bei der melodischen, als bei der harmonischen Verbindung zeichnen sich die Töne, welche in einfachen Schwingungszahlenverhältnissen stehen, 1. durch Gefälligkeit und 2. durch eine für jenes Verhältniss charakteristische Empfindung aus." (Seite 130)
Diese und ähnliche Sätze wirken im Zusammenhange vielleicht noch entscheidender als hier, losgelöst vom Ganzen. Welche Reflexionen sie indessen auch entsprungen sein mögen, - ich hoffe in der Folge zeigen zu können, daß MACH in ihnen den Weg zu einer Lösung des aufgeworfenen Problems eröffnet hat. - Unsere Frage soll daher in möglichst präziser Form vorgeführt werden.

Es leuchtet ein, daß, um eine Melodie aufzufassen, es nicht genügt, den Eindruck des jeweilig erklingenden Tones im Bewußtsein zu haben, sondern daß - wenn jener Ton nicht der erste ist - der Eindruck mindestens einiger unter den vorausgehenden Tönen in der Erinnerung mitgegeben sein muß. Sonst wäre ja der Schlußeindruck aller Melodien mit gleichem Schlusston ein gleicher. - Geht man aber diesem Gedanken weiter nach, so erkennt man bald, daß es, um eine Melodie etwa von 12 Tönen aufzufassen, auch nicht genügt, den Eindruck der jeweilig 3 letzten Töne in der Erinnerung zu behalten, sondern daß hierzu der Eindruck der ganzen Tonreihe erforderlich ist. - Wir behaupten dies absichtlich nur von einem  Eindruck  und nicht etwa von einem Phantasiebilde der vollständigen Tonreihe. Denn wenn etwa jeder wahrgenommene Tonschritt in uns eine besondere, nicht dem Tonsinn, sondern einem anderen Gebiete angehörige Empfindung (oder nach dem üblichen Sprachgebrauch ein besonderes Gefühl) verursachen, und unser Gedächtnis für jene Empfindungen oder Gefühle ein vollkommeneres sein würde, als für tonale Erinnerungsbilder, so könnte ja das Auffassen und Unterscheiden von Melodien durch jenes andere Gebiet (etwa das der Vital- und Innervations- [Nervenimpulse - wp]) oder Muskelempfindungen) vermittelt werden. Tatsächlich scheint die auch so vor sich zu gehen; denn Niemand wird angesichts der inneren Wahrnehmung behaupten können, daß er beim Ausklingen jeder Melodie, welche er  vollkommen  aufgefasst hat, (das kann mitunter ein längeres Musikstück sein,) ein Erinnerungsbild ihrer sämtlichen Töne im Bewußtsein besitze. Vielmehr liefert die rein tonale Erinnerung nur gewisse, relativ kurze  Tongestalten,  welche sich von einem wenn auch unanalysierten, so doch bestimmten "Gefühls"- Hintergrund abheben. Schränkt man nun den früher ausgesprochenen Satz auf diese rein tonal aufgefaßten "Gestalten" ein, so kann man an Stelle des  Eindruckes der Tonreihe  diese selbst setzen und somit behaupten, daß, um eine Melodie rein tonal aufzufassen, es nötig sei, bei ihrem Ausklingen ein Erinnerungsbild ihrer sämtlichen Töne zu besitzen. Es ist also zweifellos, daß die Vorstellung einer Melodie einen Vorstellungskomplex vorraussetzt, und zwar eine Summe von einzelnen Tonvorstellungen mit verschiedenen, sich aneinander schließenden zeitlichen Bestimmtheiten. -

Wir können unsere früher aufgeworfene Frage in Bezug auf das tonale Vorstellungsgebiet folgendermaßen präzisieren: Gesetzt, es werde die Tonreihe  t1, t2, t3, ... tn  nach ihrem Ablauf von einem Bewußtsein  S als Tongestalt aufgefasst,  (so daß also in demselben die Erinnerungsbilder sämtlicher Töne gleichzeitg vorhanden seien,) - gesetzt ferner, es werde nebenbei die Summe jener  n  Töne, jeder mit seiner besonderen zeitlichen Bestimmheit, von  n  Bewußtseinseinheiten dergestalt zu Vorstellung gebracht, daß jedes dieser  n  Individuen nur eine der n Tonvorstellungen im Bewußtsein habe, - so taucht nun die Frage auf, ob das Bewußtsein  S,  indem es die Melodie auffaßt, mehr zur Vorstellung bringt, als die  n  übrigen Individuen zusammengenommen. Eine analoge Frage könnte man begreiflicher Weise auch bezüglich der Raumgestalten erheben. Ja, die Verhältnisse ständen dort (weil alle Theile des der Gestalt zu Grunde liegenden Komplexes gleichzeitig gegeben sind) sogar viel einfacher, wenn nicht die verschiedenen Theorien über die Entstehung der Raumvorstellung beirrend wirken oder mindestens eine Verständigung erschweren würden. Dennoch dürften wohl die Anhänger der verschiedensten Richtungen es nicht bestreiten, daß die Vorstellungen der verschiedenen Teile einer gesehenen Figur durch verschiedene Empfindungen vermittelt werden - (mögen auch die Meinungen über die Natur jener Empfindungen noch so weit auseinander gehen). Denkt man sich nun diese letzteren auf der einen Seite in einem einzigen Bewußtsein zusammengefasst, auf der anderen unter  n  Bewußtseinseinheiten verheilt, so kann man, wie früher bezüglich der Melodie, so hier bezüglich der Raumgestalt fragen, ob sie mehr sei, als die Summe der einzelnen "örtlichen Bestimmtheiten", ob das Bewußtsein, welches die betreffende Figur auffasst, mehr zur Vorstellung bringe als alle übrigen  n  Individuen zusammengenommen. Die erste Instanz, an welche wir bei Lösung derartiger Probleme gewiesen sind - die Belauschung der Phänomene in der inneren Wahrnehmung wird hier wohl schwerlich als Beweismittel verwendet werden können. Denn wer auch aus ihr eine Überzeugung schöpfen mag, findet sich doch bei relativ so subtilen Unterscheidungen meisst außerstande, sie Andersgesinnten zu vermitteln. Dagegen werden manche die eine der beiden aufgestellten Alternativen von vornherein als widersinnig verwerfen zu müssen glauben.

Wie kann so möchte etwa der Einwand lauten der blosse Umstand, daß sich mehrere Vorstellungen oder Empfindungen in einem einzigen Bewußtsein vereint vorfinden, schon einen genügenden Grund dafür vorgeben, daß zu jener Summe noch etwas Neues hinzutritt, welches nicht in den Summanden enthalten war? Ist eine dahingehende Behauptung nicht gleichzuschätzen etwa der Meinung, daß durch das Zusammenstoßen zweier Atome ein drittes gebildet werden könne?

Ehe wir auf dies Bedenken eingehen, ist es nötig, hervorzuheben, daß es im gewissem Sinne dem zu Eingang dieser Ausführungen zugewiesenen Problem der genetischen Psychologie vorgreift. Denn wenn man mit MACH der Ansicht ist, daß die Vorstellungen von Raum- und Tongestalten ohne unser Zutun, d. h. also wohl ohne eine eigens hierauf gerichtete Geistesthätigkeit zustande kommen, kann daran Anstoß nehmen, daß die Vereinigung gewisser Elemente im Bewußtsein das Entstehen von etwas Neuem mit sich bringen sollte. Ein Hereinziehen dieser Frage in unserer Untersuchung kann dagegen vermieden werden, da es sich zeigen lässt, daß der vorgebrachte Einwand für jeden Fall, also auch unter Annahme jener stillschweigend eingeführten Vorraussetzung der Beweiskraft entbehrt. Er überträgt nämlich ein auf dem physischen Gebiete allerdings gültiges Gesetz - das von der Erhaltung der Materie - in unberechtigter Analogie auf das psychische. Wären die Vorstellungen etwa den Atomen gleich zu achten, und bestünde alles psychische Leben nur darin, schon fertige Vorstellungsinhalte aus einem Bewußtsein in ein anderes zu übertragen, so könnte es Befremden erregen (wenn auch ein entschiedener Widerspruch selbst darin noch nicht zu finden sein würde), daß durch Vereinigung mehrerer solcher Elemente in einem Bewußtsein ein neues Element entstehen sollte. (Tatsächlich leuchtet ja auch das Gesetz von der Erhaltung der Materie nicht aus den Begriffen ein, sondern stützt sich auf empirischen Nachweis.) - Indessen verhält es sich im psychischen Leben zweifellos anders. Es ist nicht nöthig, an die Möglichkeit einer psychischen Reizung zu appellieren - an eine durch den psychologischen Teil des Empfindungsprozesses ausgelöste Kausalkette von rein psychischen Geschehnissen - um die in Rede stehende Auffassung als statthaft erscheinen zu lassen. Sie verträgt sich vollkommen mit der Annahme einer durchgängigen und direkten Abhängigkeit sämtlicher psychischer Prozesse von physiologischen Vorgängen. Das Einzige, was man bei unserer Unkenntnis über die Beschaffenheit dieser letzteren für den vorliegenden Fall fordern darf, ist der Hinweis auf die Möglichkeit einer Verschiedenheit der physischen Prozesse, wo die Verschiedenheit des psychischen Bestandes behauptet wird. Eine solche Verschiedenheit liegt aber, wie sich sofort zeigen wird, schon von vornherein in den Annahmen.

Wir vergleichen das Bewußtsein  S  mit der Summe der Vorstellungsinhalte etwa  t1, t2, ... tn  mehr der (hypothetisch angenommen)  Tongestalt  auf der einen Seite mit der Summe der Bewußtseinseinheiten  s1, s2, ... sn,  jede mit dem entsprechenden Glied der Reihe  t1, t2, ... tn  als Inhalt, auf der anderen Seite. Nennen wir nun den psychischen Inhalten  t1, t2 ... tn  entsprechenden physiologischen Vorgänge  r1, r2, ... rn,  so werden wir für das Bewußtsein  S1,  den Vorgang  r2,  zu fordern haben, für  s2,  den Vorgang  r2,  ... für  sn  den Vorgang rn. Desgleichen müssen wir die Vorgänge  r1, r2, ... rn  auch für das Bewußtsein  S  in Anspruch nehmen. Aber offenbar ist es hiermit noch nicht gethan. Denn wenn auf der einen Seite die Reihe  r1, r2, ... rn  das Auftauchen der psychischen Inhalte  t1, t2, ... tn  in  n  verschiedenen, auf der anderen in einem einzigen Individuum zur Folge haben soll, so muss auch hierfür irgend eine physiologische Grundlage gegeben sein. Da wir über die Beschaffenheit dieser die Zahl der psychischen Individuen bedingenden physischen Grundlage auch noch nicht das Mindeste ahnen können, so führen wir uns zur Veranschaulichung die einfachste Möglichkeit vor und nehmen etwa an, die physiologischen Reize (Bewegungsvorgänge)  r1, r2, ... rn  lösten die psychischen Inhalte  t1, t2, ... tn  dann in einem Bewußtsein aus, wenn sie sich innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen zusammenfänden; in mehreren Individuen aber, wenn ihre räumlichen Abstände diese Grenzen überschritten. Hiermit aber ist die geforderte Verschiedenheit der physiologischen Grundlage schon gegeben. Sechs Bewegungsvorgänge etwa innerhalb eines Kubikzentimeters sind etwas anderes als sechs vollkommen gleiche Bewegungsvorgänge, ein jeder von dem anderen um einen Meter entfernt. Und wenn jene Zusammendrängung der physiologischen Vorgänge im Raume die Scheidewand zwischen sechs psychischen Individualitäten aufzuheben und an ihre Stelle eine einzige umfassende zu setzen vermöchte, so könnte sie ebensogut zugleich die Bedingung für das Auftauchen eines neuen psychischen Elementes - beispielsweise der Melodie - abgeben. - Niemand wird behaupten wollen, daß die Scheidung psychischer Individualitäten physiologisch wirklich durch so plumpe Bedingungen gegeben sei; - der für unsere Untersuchung wichtige Teil des Gedankenganges aber ist offenbar vollkommen unabhängig von jeder diesbezüglichen koncreten Annahme. Immer kann derjenige Bestandtheil der physiologischen Bedingung einer Mehrheit von Vorstellungen, welcher dafür bestimmend wird, daß die Vorstellungen sämmtlich in einem Bewußtsein auftauchen, auch die Bedingung für ein gleichsam über jenem Komplex schwebendes neues Element abgeben. - So erweist sich denn in der Tat der aufgeworfene Einwand lediglich als eine unberechtigte Übertragung physikalischer Anschauungen auf psychisches Gebiet, welche selbst vor der möglichst materialistischen Auffassung des psychischen Geschehens nicht stichhält.

Die Möglichkeit der Existenz von  Gestaltqualitäten  (der Begriff ist durch das Vorhergehende schon genugsam erläutert, um hier mit dem neuen Terminus eingeführt zu werden) könnte man indessen noch von anderer Seite her zu bestreiten suchen. - Wenn das Vorhandensein je zweier Vorstellungselemente in einem Bewußtsein stets das Vorhandensein einer dritten, von jenen verschiedenen, bedingte, so ist leicht einzusehen, daß hiermit eine unendliche Komplikation unseres Vorstellungslebens gegeben wäre. Denn gesetzt, es bedingten die zwei Elemente  e1  und  e2,  das Element  e3  so müsste konsequenter Weise  e3  und  e1,  etwa  e4, e3,  und  e2,  das Element  e5, e1, e2  und  e3  zusammen  e6  geben, diese Elemente würden wieder andere bedingen, und den stets sich vermehrenden Forderungen könnte die Endlichkeit nicht Genüge leisten.

Es ist vor allem offenbar, daß auch ein solcher Einwand streng genommen nicht gegen unsere These, sondern nur gegen eine willkürliche Erweiterung derselben vorgebracht werden könnte. Denn erstlich setzt auch er voraus, daß die Gestaltqualität ohne unser Zutun schon mit dem Vorhandensein des ihr zu Grunde liegenden Vorstellungskomplexes gegeben sei, und zweitens behauptet, wer die Existenz von Gestaltqualitäten annimmt, damit noch keineswegs, daß alle unterscheidbaren Vorstellungselemente eine Grundlage für solche abgeben, schon gar nicht aber, daß etwa auf dem Zusammensein der Gestaltqualität selbst und ihrer Elemente eine neue Qualität sich auffassen müsse. Und nur unter dieser Voraussetzung würde sich jene unendliche Komplikation ergeben. Da wir auch im Folgenden unsere Annahme nicht in solcher Richtung, zu erweitern gedenken, so könnten wir den Einwand schon von vorneherein abweisen. Aber selbst abgesehen hiervon, erschiene uns sein Gedankengang doch nicht als beweiskräftig. Denn man könnte mittelst eines ganz analogen Schlußverfahrens die Möglichkeit von Vorstellungen bestreiten, die wir doch tatsächlich besitzen, - die Möglichkeit der Vorstellungen jedes Kontinuums, vor allem des räumlichen. Es ist nämlich vollkommen unangebbar, aus wie vielen örtlichen Bestimmtheiten unsere Vorstellung etwa einer ebenen gefärbten Fläche besteht. Jeder Teil derselben läßt sich bekannterweise wieder teilen; und wenn die Beschränktheit unserer Aufmerksamkeit der praktischen Durchführung dieses Vorganges Grenzen setzt, so kann darum doch keineswegs behauptet werden, der kleinste durch die Aufmerksamkeit hervorzuhebende Flächenteil besitze nur eine einzige örtliche Bestimmtheit; - vielmehr besitzt er deren, wie sich nun leicht erkennen lässt, wenn überhaupt mehrere, so folgerichtig unendlich viele. Wenn aber unendliche Komplikationen im Bewußtseinsinhalt unmöglich wären, so wäre die Flächenvorstellung unmöglich. -

In der Tat aber besitzen wir die Flächenvorstellung. Wie immer man dieser Konsequenz entgehe, - ob man annehmen will, daß psychisch nur dort eine Verschiedenheit vorliege, wo die Aufmerksamkeit eine Vielheit zu unterscheiden vermag und somit auch der Vorstellungsinhalt des gesammten Gesichtsfeldes beispielsweise bei dem Blick auf ein Straßenbild unseres Stadtgetriebes so lange eine Einheit sei, als die Aufmerksamkeit etwa sich auf irgendwelche innere Reflexionen richtet, - ob man vorzieht, die gegen die Existenz der unendlichen Vielheit geltend gemachten begrifflichen Schwierigkeiten für Sophismen zu erklären, - oder ob man überhaupt die Anwendbarkeit der Kategorie von Einheit und Vielheit auf das tatsächlich Existirende bestreitet, - irgendein Ausweg aus dem Dilemma muß der Wahrheit entsprechen, und dieser Ausweg, wie immer er beschaffen sei, führt auch aus dem Labyrinth der unendlichen Komplexionen von Gestaltqualitäten. Denn wenn selbst auch hier das psychisch Vorhandene eine unendliche Theilung der Möglichkeit nach zulassen sollte, - tatsächlich findet unsere Aufmerksamkeit ebenso bald, oder noch früher ihre Schranken, als bei dem räumlichen Kontinuum. - Dies also zur Widerlegung eines Einwandes, welcher, wie gesagt, schon von vorneherein auf einer willkürlichen Übertreibung der Annahme beruht.

Durch Berufung auf allgemein anerkannte Naturgesetze oder auf begriffliche Widersprüche dürfte somit unsere Frage nicht zu beantworten sein. Den Beweis für die Existenz von "Gestaltqualitäten" in unserem Sinne, mindestens auf dem Gebiete der Gesichts- und Tonvorstellungen, liefert dagegen die (von MACH in den angeführten Stellen hervorgehobene) Ähnlichkeit von Melodien und Figuren bei durchgängiger Verschiedenheit ihrer tonalen oder örtlichen Grundlage. Dieser Umstand lässt sich, wie nun ausgeführt werden soll, mit der Auffassung von Ton und Raumgestalt als bloßer Summe tonaler oder örtlicher Bestimmtheiten nicht vereinigen. Man kann nämlich von vorneherein behaupten, daß verschiedene Komplexe von Elementen, wenn sie in sich nichts anderes darstellen, als die Summen derselben, um so ähnlicher sein müssen, je ähnlicher ihre einzelnen Elemente untereinander sind. Das Unzutreffende dieser Forderung aber bei Melodie und Raumgestalt läßt sich an einzelnen Beispielen schlagend beweisen. Man betrachte etwa die Melodie der ersten Zeile des bekannten Volksliedes: "Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus ..." Dieselbe enthält, in C-dur gespielt, die Töne  e  bis  a,  und zwar das  e  und  f  je dreimal, das  g  viermal, das  a  einmal. Nun spiele man sie in Fis-dur. Hier enthält sie das ais, das  A,  das  eis  und das  dis,  also keinen einzigen der Töne, auf welchen sie in C-dur sich aufbaut. Dennoch ist die Ähnlichkeit jedem halbwegs musikalisch Veranlagten sofort und ohne Reflexion (nach MACH durch "Empfindung") erkennbar. Nun spiele man diese Melodie wieder in C-dur, und hierauf, in gleichem Rhythmus, die Tonfolge  e g f a g g f e f e g,  welche, ebenso wie unsere Melodie, drei  e,  drei  f,  vier  g  und ein  a  enthält. Eine Ähnlichkeit (mit Ausnahme des beibehaltenen Rhythmus) wird jedoch hier Niemandem mehr auffallen, welcher nicht auf dem Wege der Reflexion etwa dahin geführt wird, die einzelnen Töne hüben und drüben zu vergleichen und zu zählen. Wir haben also einerseits zwei Komplexe von Tonvorstellungen, welche aus durchgängig verschiedenen Bestandteilen gebildet werden, und doch ähnliche (oder nach der gewöhnlichen Sprechweise sogar dieselbe) Melodie ergeben, auf der anderen Seite zwei Komplexe, welche aus tonal vollkommen gleichen Elementen gebildet werden und durchaus verschiedene Melodien ergeben. Hieraus geht unwiderleglich hervor, daß die Melodie oder Tongestalt etwas anderes ist, als die Summe der einzelnen Töne, auf welchen sie sich aufbaut. [Man erwidere nicht etwa, daß die wesentlichen Bestandtheile der Melodie nicht die einzelnen Töne, sondern die Tonschritte, die Übergänge von einem Ton zum anderen seien. Denn auch aus einer Summe solcher Tonschritte lassen sich durch Verstellung die verschiedensten Melodien bilden. Sucht man aber auch diese Möglichkeit auszuschließen durch die Bestimmung, daß eben der Übergang von einem Ton zum anderen in der festgesetzten Reihenfolge die Melodie ausmache, so hat man in jenem Übergange, welcher etwas anderes ist, als die Summe der Töne, dasjenige, was wir Tongestalt nennen, zugegeben und nur mit einem anderen Namen belegt.]

Analoge Beispiele könnten selbstverständlich auch auf dem Gebiete der Raumvorstellung erbracht werden. Wenn die Raumgestalten nichts Anderes wären als Zusammenfassungen von örtlichen Bestimmtheiten, so müsste sich (da ja die örtlichen Bestimmtheiten von der Lage im Gesichtsfelde abhängen) mit jeder Verschiebung ihrer Anordnung auch ihre Ähnlichkeit wesentlich ändern. Es müsste also etwa in der Gruppe der Buchstaben  ABA  das erste  A  dem  B  ähnlicher sein, als dem zweiten  A,  weil es jenem näher liegt und daher aus Bestandtheilen gebildet wird, welche den Elementen des  B  ähnlicher sind, als den Elementen des  A;  dagegen müsste in der Konstellation  AAB  zwar das erste  A  dem zweiten ähnlicher sein, als dem  B,  das zweite aber dem ersten nahezu ebenso ähnlich wie dem  B,  u.s.w. Es kann also keinem Zweifel unterliegen, daß die Ähnlichkeit von Raum- und Tongestalten auf etwas anderem beruht, als auf der Ähnlichkeit der Elemente, als deren Zusammenfassung im Bewußtsein sie erscheinen. Es müssen daher jene Gestalten auch etwas anderes sein, als die Summe der Elemente. - Die Stringenz dieses Beweises erscheint uns unausweichlich. Da es indessen stets nur von Vorteil sein kann, eine Wahrheit von verschiedenen Seiten zu beleuchten, so soll hier auf das uns beschäftigende Phänomen noch in anderem Zusammenhange hingewiesen werden.

MACH führt in seinem mehrfach erwähnten Werke [Beiträge zu einer Analyse der Empfindungen - wp] (Seite 129) eine von HANS CORNELIUS seinen Schülern zur Wiedererkennung von Tonintervallen empfohlene Methode an einem speziellen Beispiel vor, welches wir, auf den einfacheren Fall der Reproduktion von Intervallen umgearbeitet, folgendermaßen wiederholen: Derjenige, dessen musikalischer Sinn noch nicht so weit ausgebildet ist, daß er es vermöchte, auf Wunsch sofort mit Sicherheit etwa einen Quartschritt nach aufwärts zu singen, gebrauche das Kunstmittel, sich eine Melodie zu merken, welche mit einem Quartschritt nach aufwärts beginnt; - etwa den Anfang der Tannhäuserouvertüre (wie MACH anführt). Dann wird er, wenn er sich schlechterdings nichts weiter vornimmt, als jene Melodie zu singen, die gestellte Aufgabe wie von selbst ohne Schwierigkeit lösen. - Ein Freund, mit welchem ich dieses Beispiel besprach, teilte mir mit, daß er, ohne dasselbe gekannt zu haben, schon längst nach ähnlicher Methode verfahre, um absolute Tonhöhen zu reproduzieren. Ohne Hilfsmittel vermöge er bei weitem weniger sicher die Höhe des  C  anzugeben, als mit Hilfe der Vorstellung "Meistersinger-Vorspiel", bei der sich meistens richtig das Bild von C-dur einstelle; ähnlich beim Gedanken an das Walhall-Motiv Des-dur usw. Es ist möglich, daß Tonwerke mit ausgesprochenem harmonischen Charakter, wie die WAGNERschen, besonders geeignet sind, die Tonarten im Gedächtnisse zu fixieren. - Im Allgemeinen kann man sagen, daß die meisten Personen irgendwelche Melodien im Gedächtnis zu behalten vermögen, eine geringere Zahl (ohne jenes Hilfsmittel) einzelne Tonschritte und die entschiedene Minderheit absolute Tonhöhen. Wie wäre aber das erklärlich, wenn die Melodie, die einzelnen Tonschritte nichts anderes darstellen würden, als eine Summe von Tonvorstellungen? - Wenn man selbst im Gegensatze zu manchen anderen Erfahrungen annehmen wollte, daß es leichter sei, eine Summe von Einzelheiten auf einmal zu reproduzieren, als eines der Glieder für sich, so könnte hiermit höchstens erklärt werden, daß die Melodie gegenüber den einzelnen Tonschritten, nicht aber, daß beide den absoluten Tonhöhen gegenüber im Vorteil seien. Denn wenn jemand - wie dies zumeist der Fall sein wird - eine Melodie in einer anderen als in der ursprünglichen Tonhöhe reproduziert, so reproduziert er gar nicht die Summe der früheren Einzelvorstellungen, sondern einen ganz anderen Komplex welcher nur die Eigenschaft besitzt, daß seine Glieder in analoger Beziehung stehen, wie diejenigen des früher vorgestellten Komplexes. Diese Beziehung ist nach unserer Auffassung in, einem positiven Vorstellungselement, der Tongestalt, begründet, derart, daß ein und dieselbe Tongestalt immer gleiche Beziehungen zwischen den Elementen ihres Tonsubstrates (den einzelnen Tonvorstellungen) bedingt. Ist ein solches positives Vorstellungselement gegeben, so schließt die Assoziation keine weiteren Schwierigkeiten ein. Fehlte es dagegen, so wäre in keiner Weise einzusehen, wie das Gedächtnis es anstellen sollte, gerade solche Elemente zu reproduzieren, welche untereinander in einer der früher verwirklichten analogen Beziehung stehen. Man müsste einen eigens hierauf konstruierten psychischen Mechanismus annehmen, welcher vollkommen überflüssig erscheint, sobald man einsieht, daß, wer sich an eine Melodie erinnert, etwas ganz anderes reproduziert, als einen Komplex von Einzelvorstellungen: nämlich eine Tongestalt, an welche sich unter Umständen die absolute Tonhöhe in welcher sie zuerst vernommen wurde, assoziieren kann, aber nicht muß. Und zwar lehrt das erste der beiden angeführten Beispiele, daß nicht die einfachsten Tongestalten am leichtesten im Gedächtnis zu fixieren sind, sondern vielmehr solche von einer Gliederung, welche den einfachen Tonschritten gegenüber als mannigfaltig bezeichnet werden kann. Analoges gilt von den Raumgestalten und den Elementen ihrer zugehörigen Komplexe. Auch hier hält sich die Reproduktion keineswegs an die bei der Wahrnehmung gegebenen örtlichen Daten.

Hiermit glauben wir die Existenz von Gestaltqualitäten auf den behandelten Sinnesgebieten erwiesen zu haben. Eine Abweichung von dem eingangs entworfenen Untersuchungsplan wird vielleicht insofern vermerkt werden, als eine strikte Definition des eingeführten Begriffes noch nicht gegeben wurde. Dieselbe wäre ohne die in das Beweisverfahren eingeflochtenen Erläuterungen unverständlich gewesen und soll nun nachgeholt werden. - Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein, von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen. - Jene für das Vorhandensein der Gestaltqualitäten notwendigen Vorstellungskomplexe wollen wir die Grundlage der Gestaltqualitäten nennen. Es erübrigt nun noch, die vorhandene Mannigfaltigkeit von Gestaltqualitäten und ihre Bedeutung im psychischen Leben zu überblicken.

Wir haben bisher in der Melodie und der durch den Gesichtssinn perzipierten räumlichen Figur zwei spezielle Fälle kennen gelernt, welche im Hinblick auf die sonst wohl noch nachweisbaren Arten von Gestaltqualitäten eine Einteilung derselben in räumliche und zeitliche nahelegen könnten. - Allein es ist leicht einzusehen, daß diese beiden Kategorien sich nicht ausschließen würden. Besitzen wir ja doch in den Vorstellungen von Bewegung zahllose Beispiele für Gestaltqualitäten, welche räumliche und zeitliche Verschiedenheiten umspannen. (Analoge Gründe nämlich wie bei Melodie und Raumgestalt - Ähnlichkeit und Reproduktion der Phänomene bei durchgängiger Verschiedenheit der Elemente der "Grundlage" - lassen sich auch auf alle verschiedenen Arten der Bewegung (wie Fallen, Steigen, Rotieren usw.) anwenden, und deren Auffassung als Gestaltqualitäten zu rechtfertigen.) Dagegen können wir sämtliche möglichen Gestaltqualitäten durch eine vollständige Disjunktion in zeitliche und in unzeitliche einteilen, wobei wir unter letzteren nicht etwa diejenigen verstehen, zu deren Perzeption keine Zeit nötig wäre, auch nicht diejenigen, für deren Auftauchen im Bewußtsein ein gleichzeitiges Umfassen aller Elemente ihrer Grundlage unerläßlich ist (da die erste Bedingung bei keiner, die letztere bei allen Gestaltqualitäten zutrifft), - sondern diejenigen, für deren Grundlage nicht wie bei den zeitlichen Gestaltqualitäten verschiedene zeitliche Bestimmtheit der Vorstellungsobjekte erforderlich ist. Unzeitliche Gestaltqualitäten sind solche, deren Grundlage vollständig in Wahrnehmungsvorstellung (von vielen Empfindung genannt) gegeben sein kann. Bei zeitlichen Gestaltqualitäten kann folgerichtig höchstens, ein Element in Wahrnehmungsvorstellung gegeben sein, während die übrigen als Erinnerungs- (oder als auf die Zukunft gerichtete Erwartungs-) Bilder vorliegen.

Wir wollen nun als die einfacheren die unzeitlichen Gestaltqualitäten betrachten. Hierbei soll - ebenso wie bei der folgenden Betrachtung der zeitlichen Gestaltqualitäten - der Nachweis für die Existenz der einzelnen Arten nicht im Speziellen ausgeführt werden, da derselbe stets nach der gleichen Methode vorgenommen werden müßte und daher besser mit einem allgemeinen Hinweis dem Leser überlassen bleibt. - Hat man im Bewußtsein einen Vorstellungskomplex  C  gegeben, und taucht nun die Frage auf, ob ein gleichzeitig vorhandener Vorstellungsinhalt  V  als identisch mit jenem Komplex oder als eine in ihm begründete Gestaltqualität zu betrachten sei, so beachte man, ob es möglich ist, die Elemente von  C  dergestalt (unter Beibehaltung ihrer gegenseitigen Beziehungen) zu verändern, daß  V  ganz oder nahezu unverändert bleibt, während es bei geringerer, etwa nur teilweiser, aber gesetzloser Umwandlung der Elemente von  C  seinen Charakter vollständig verliert. Trifft dies zu, so ist  V  nicht identisch mit  C,  sondern eine zu  C  gehörige Gestaltqualität. Als Hinweis auf das Bestehen solcher Verhältnisse kann es betrachtet werden, wenn die Reproduction von  V  durch die Erinnerung leichter gelingt, als diejenige der Elemente von  C. 

In dieser Art betrachtet erweisen sich die Raumgestalten nicht nur des Gesichts-, sondern auch des Tastsinnes in seiner Vereinigung mit den sogenannten Bewegungsempfindungen als Gestaltqualitäten. Die Raumdaten der übrigen Sinne sind so unbestimmt, daß es schwer fällt, durch sie Raumgestalten festzuhalten; doch sprechen alle Anzeichen dafür, daß die grundlegenden Verhältnisse hier keine anderen seien als auf den Gebieten des Gesichts- und des Tastsinnes. Die Raumdaten des Tonsinnes sind noch immer ein strittiges Problem. Keinesfalls aber kann geleugnet werden, daß der Tonsinn unzeitliche Gestaltqualitäten liefert; wir meinen Harmonie und Klangfarbe, welch' erstere demgemäss auch von MACH [in dem früher angeführten Zitat Seite 130 seines Werkes (1) als Empfindung bezeichnet wird. Alles, was früher bezüglich der Melodien geltend gemacht wurde, die Unabhängigkeit von absoluter Tonhöhe, die Reproduzierbarkeit im Gedächtnis auch bei mangelnder Fähigkeit, absolute Tonhöhen festzuhalten, gilt ebenso von Harmonie und Klangfarbe, welche daher ebenfalls als Gestaltqualitäten aufzufassen sind. Hierbei ist es bemerkenswert, daß die Gestaltqualität sich mitunter so sehr in den Vordergrund drängt, d. h. unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, daß es schwer fällt, ihre Grundlage in die Elemente aufzulösen. Dies trifft in ausgedehntestem Masse bei der Klangfarbe zu, oft aber auch bei jenen Tonverbindungen, welche man im Allgemeinen als Akkorde zu bezeichnen pflegt. Beide Phänomene ähneln sich indessen - wie sie auf gleiche physische Veranlassungen hin erfolgen - auch psychisch, und besitzen keine scharfe Grenzscheide, sondern gehen stetig in einander über. Wichtig, indessen bei der Unentschiedenheit des tonalen Raumproblemes überhaupt heute noch verfrüht, wäre auch die Frage, ob verschiedene gleichzeitig wahrgenommene Einzeltöne ähnlich wie Farben auch verschiedene räumliche Bestimmtheiten bedingen, der Akkord und zusammengesetzte Klang somit auch einer räumlichen Breite bedürfen, oder ob Töne in striktem Sinn "ineinanderklingen". In ersterem Falle wäre natürlich die durch die räumlich neben einander wahrgenommenen Töne bedingte "unzeitliche räumliche Gestaltqualität" von der ebenfalls unzeitlichen tonalen, der Harmonie oder Klangfarbe, zu unterscheiden, obgleich sie beide Teile einer einzigen konkreten Anschauung bilden würden.

Das führt zu zweierlei Bemerkungen; erstens nämlich zeigt sich, daß an Gestaltqualitäten der Abstraktionsprocess vollzogen werden kann, und zweitens stellt sich uns nun die Frage dar, ob nicht auch auf dem Gebiet des Gesichtssinnes außer den räumlichen noch andere Gestaltqualitäten gegeben seien. Auf den letzteren dieser Hinweise zunächst eingehend, müssen wir für's Erste soviel zugestehen, daß in dem gleichzeitigen (wenn auch nicht gleichräumlichen) Gegebensein verschiedener Farben und Lichtintensitäten eine genügende Grundlage für Gestaltqualitäten vorhanden wäre, welche ein Analogon zur Harmonie und Klangfarbe darstellen könnten. Tatsächlich empfangen wir von dem gleichzeitigen Nebeneinander verschiedener Farben einen Eindruck, dessen Verwandtschaft mit der Harmonie schon die Sprache (durch die Benennung Farbenharmonie) ausdrückt. Ein nach unserer allgemeinen Regel durchgeführter strikter Beweis dafür, daß jene Phänomene mehr seien, als Komplexe von Farbenvorstellungen mit den daran sich knüpfenden Empfindungen anderer Sinnesgebiete (etwa den sogenannten Gefühlen des Gemeinsinnes) läßt sich jedoch nicht einbringen, da nicht, wie analog auf dem Tongebiet, offenbar gleiche harmonische Eindrücke durch Komplexe aus verschiedenen Elementen hervorgebracht werden können. Begreiflicher Weise aber kann das Fehlen dieses Beweises keineswegs als ein Gegenbeweis betrachtet werden; denn es liegt nicht im Wesen der Gestaltqualitäten, daß deren gleiche, auf verschiedenen Grundlagen sich aufbauende, in jedem Sinnesgebiet gegeben sein müssen; - ebensowenig, wie es in dem Begriffe der Intensität liegt, daß sie sich bei gleich bleibender Qualität müsse verändern können. Vielmehr ist für die Intensität charakteristisch, daß, wo in Bezug auf sie nicht Gleichheit ausgesagt werden kann, nicht etwa bloß Ähnlichkeit und Verschiedenheit, sondern das Verhältnis der Steigerung gegeben sei; - für die Gestaltqualitäten aber, daß sie einen von der Grundlage abhängigen und doch von ihr zu unterscheidenden Vorstellungsinhalt bilde. Wie wir darum (anderen Ansichten zuwider) den Gegensatz von Licht und Schatten als einen auf Steigerung beruhenden, intensiven betrachten, wenn er auch Änderungen in der Qualität bedingt, - so glauben wir, auch, gestützt auf direkte Vergleichung mit den analogen Erscheinungen des Tongebietes, die Farbenharmonie oder Disharmonie als Gestaltqualität betrachten zu können, - ob sie sich gleich durchgängig mit der Veränderung ihrer Grundlage auch selbst verändern mag. - Hiermit soll aber nicht behauptet werden, daß die farbige neben der räumlichen Gestaltqualität des Gesichtssinnes getrennt vorliege. Vielmehr sind beide unter einander und mit ihrer Grundlage zu einem anschaulichen Ganzen verbunden, aus welchem sie nur durch den Abstraktionsprozeß hervorgehoben werden. Ähnlich wie die Raumgestalten des Gesichtssinnes erscheinen uns auch diejenigen der übrigen Sinne als abstrakt herausgehobene Teile der betreffenden, in der Anschauung gegebenen Gestaltqualitäten, in welcher stets auch spezifische (von der Tast-, Temperatur-, Geschmacksqualität usw.) herrührende Bestimmungen zu erkennen sind. Doch ist ein strikter Beweis auf diesen von der Aufmerksamkeit so wenig beleuchteten Gebieten schwer zu erbringen.

Dagegen sehen wir hier , ein neues Problem auftauchen. Die enge Verschmelzung von Tast-, Temperatur- und mitunter auch Geschmacks- und Geruchsempfindungen zu einem einheit-lichen Gesamteindruck legt nämlich die Frage nahe, ob hier nicht Gestaltqualitäten vorhanden seien, welche sich auf einer mehreren Sinnesgebieten zugehörigen Grundlage auf- bauen. Von vornherein ist es, wie sich leicht einsehen lässt, ebenso möglich, daß etwa ein Komplex von Tast- und Temperaturempfindungen für eine Gestaltqualität grundlegend werde, als etwa ein Komplex von Tonempfindungen. Auch gegen die Existenz von Ton -Farbengestalten, welche die Daten beider Sinne wie durch eine Brücke verbinden würden, ließe sich a priori nichts einwenden - wenn wir derlei in der Empfindung auch nicht nachweisen zu können glauben. Anders scheint es uns mit dem Verhältnisse der übrigen Sinne untereinander bewandt zu sein. Beispiele, wie die von der Sprache sogar als Empfindung benannte Vorstellung des Nassen, bei welcher Druck- und Temperatursinn gleich beteiligt sind, sowie die Gesamteindrücke, welche wir ungenau als Geschmack der verschiedenen Speisen bezeichnen, bei welchen aber Druck, Temperatur und Geruch nachweislich ebenso mitwirken, als der Geschmack im engeren Sinne, und dergleichen mehr weisen darauf hin, daß, wenn wir überhaupt Gestaltqualitäten auf diesen Gebieten gelten lassen, wir wegen der grossen Einheitlichkeit der betreffenden Vorstellungsinhalte auch die Möglichkeit des Umfaßtwerdens von Komplexen verschiedener Kategorien durch übergreifende Gestalten zugeben müssen (2)

Ohne die Reihe alter möglicher Weise im psychischen Leben gegebenen unzeitlichen Gestaltqualitäten als abgeschlossen zu erachten, wollen wir uns nun der Betrachtung zeitlicher Gestaltqualitäten zuwenden. Hierbei sei vor allem hervorgehoben, daß jede Veränderung irgendeines Vorstellungsinhaltes nach irgendeiner bestimmten Richtung eine zeitliche Gestaltqualität zur Folge hat, - mag das Veränderte ein Element sein, oder seinerseits wieder ein Komplex, welcher einer unzeitlichen Gestaltqualität zur Grundlage dient. Dies kann man daraus erkennen, daß - wie schon der Name anzeigt - jede Veränderung nach einer bestimmten Richtung als etwas Einheitliches gefasst werden kann (sei es nun ein Steigen, ein Erröten, ein Abkühlen und dgl., wofür die Sprache nur in wenigen Fällen eigene Worte besitzt). Damit aber dies zutreffe, muß unser für die Existenz von Gestaltqualitäten angenommenes Kriterium erfüllt sein. - Bezeichnen wir nämlich verschiedene, um endliche Zeiträume voneinander entfernte Zustände des sich verändernden Vorstellungsinhaltes der Reihe nach mit z1, z2, z3, ...., so lässt sich, wenn die Veränderung, wie angenommen, eine stetige ist, behaupten, daß alle zwischen z1, und z2, fallenden Zustände untereinander und von allen zwischen z2, und z3, gelegenen Zuständen ebenfalls verschieden sein müssen usw. Zeigt dennoch die Veränderung von z1, über z2, nach z3, einen einheitlichen Charakter, so daß man sie mit einem Namen bezeichnet oder bezeichnen könnte, so ist (nach der bekannten Schlußfolgerung) in ihr eine Gestaltqualität gegeben. Nur bei Veränderungen, welche selbst wieder so wechselvoll sind, daß sie nirgends als Fortschreiten in einer bestimmten Richtung aufgefasst werden können, mag es an sich zweifelhaft bleiben, ob in ihnen Gestaltqualitäten gegeben seien. Doch fordert hier schon die Analogie und ihr möglicher Übergang in stetige Veränderungen, ihnen Gestaltqualitäten nicht abzusprechen, sondern vielmehr einen beständigen Wechsel derselben zuzuschreiben.

Aus dem Gesagten ergibt sich, welch grosse Menge von zeitlichen Gestaltqualitäten in unserem psychischen Leben zur Verwirklichung gelangt. Zunächst auf dem Gebiet des Gesichtssinnes und der durch ihn vermittelten Phantasmen sahen wir Raum- und Farbengestalten aller Art sich in der konkreten Anschauung verbinden; denken wir uns diese nun noch sich verändernd, so erhalten wir eine unermessliche Reihe von zeitlichen Gestaltqualitäten, von deren Reichtum die kargen sprachlichen Bezeichnungen für Phänomene solcher Art auch nicht die entfernteste Vorstellung zu bieten vermögen. Die beiden Momente der Farbenveränderung einerseits und der Ortsveränderung (inkl. der dazu gehörigen Gestaltveränderung) andererseits bilden die Elemente, welche in mannigfachsten konkreten Verschmelzungen die anschaulichen Qualitäten konstituieren. Sprachlich gibt es keine einheitliche Bezeichnung, welche diese beiden Seiten des Konkretums zugleich treffen würde. Wenige Worte müssen für einzelne Beispiele aus der Menge der Farbenveränderungen genügen (wie z. B. erröten, erbleichen, dunkeln, erglühen, der Himmel blaut u. dgl.); zahlreicher, doch relativ noch immer verschwindend klein ist die Menge der einfachen Ausdrücke für Bewegungen; aber was in dieser Art sprachlich fixiert werden kann, sind nur Abstrakta, welche in unzähligen konkreten Ausgestaltungen verwirklicht werden können, so daß es schlechterdings unmöglich ist, auch durch komplizierte Konstruktionen eine halbwegs genaue Mitteilung von anschaulichen Gestaltqualitäten dieser Art zu realisieren. Selbst der Pinsel kann, da er aus der Kette der sich verändernden Einzelzustände nur je ein Glied herauszugreifen vermag, die Mängel der Sprache nur in beschränktem Maß ausgleichen und wenn nicht die Genialität dichterischer Begeisterung allerhand Mittel in Bewegung setzen würde, uns, wenn auch nicht jene Phänomene selbst, so doch ihre Gemütswirkung zu vermitteln, so daß wir in Verbindung mit den direkten abstrakten Andeutungen diesbezügliche Konkreta in der Phantasie nachschaffend selbst hervorbringen, - so wäre eine Kunstform, welche, wie die des Epos, zum grossen Teil auf Erweckung von Vorstellungen derartiger Gestaltqualitäten in der Seele des Lesers oder Zuhörers beruht, kaum erklärlich.

Die grosse Mannigfaltigkeit, welche der Gesichtssinn schon auf dem Gebiet der unzeitlichen Gestaltqualitäten liefert, scheint indessen unserem Auffassungsvermögen für die zeitlichen, welche ja zu jenen gleichsam eine neue Dimension anfügen, relativ enge Grenzen zu ziehen. Mindestens ist in der Zusammenfassung zeitlicher Abschnitte von Veränderungen zu einem Gesamtbild das Gehör dem Gesicht weit überlegen. Wenn eine Tänzerin zu einer erklingenden Melodie Bewegungen ausführt, welche sich nicht - wie das beim gewöhnlichen Tanzschritt der Fall ist -Takt für Takt wiederholen, sondern eine der Melodie analoge Gliederung und Mannigfaltigkeit enthalten, so werden viele die Melodie schon nach einmaligem Anhören zu reproduzieren vermögen, schier niemand die zu gleicher Zeit verfolgten Bewegungen der Tänzerin. Diese auffällige Verschiedenheit des Gedächtnisses für Gesichts- und Gehörs-Zeitgestalten stammt unzweifelhaft aus einer ebenso grossen Verschiedenheit in der Auffassungskraft. Wir können, etwa bei einem schreitenden Menschen, ziemlich genau angeben, wie weit wir die zeitliche räumliche Gestaltqualität, welche uns in diesem Falle der Gesichtssinn vermittelt (seine Bewegung) klar zu fassen vermögen. Wir meinen nämlich immer den jüngst abgelaufenen Theil, bei mittelschnellem Gehen beiläufig den letzten Schritt, zu sehen, an die vorhergegangenen Schritte aber uns in ganz anderer Weise nur zu erinnern. Tatsächlich kann das nicht zutreffen. Empfinden, also im strengen Sinne des Wortes sehen können wir nur das Gegenwärtige, das bedeutet jeweils nur  eine  Stellung der Beine. Wo wir Bewegung zu sehen vermeinen, ist unsere Erinnerung schon im Spiele. Die Täuschung dürfte dadurch entstehen, daß uns das volle Kontinuum aller Beinstellungen nur vom jeweilig letzten Schritte in der Erinnerung gegeben ist und wir daher die zugehörige zeitliche Gestaltqualität vollkommen anschaulich zu erfassen vermögen, während wir von der vorangegangenen nur einen unvollständigen Eindruck besitzen. Jedenfalls geht unser diesbezügliches Fassungsvermögen ungefähr ebenso weit als der sinnliche Anschein der Bewegung (wenn nicht besondere Hilfsmittel hinzutreten, wie etwa die Fixierung der Bahn des bewegten Körpers durch ein Nebeneinander räumlicher Bestimmungen, welches dann zunächst als unzeitliche Gestaltqualität aufgefaßt und in der Vorstellung der zeitlichen verwendet wird). Um wie viel weiter sich unser Fassungsvermögen auf dem Gebiet des Tonsinnes erstreckt, erkennt man leicht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Zeitdauer eines normalen Schrittes mit der Länge eines Taktstreiches im Andante zusammenfällt; - und doch gibt es einheitlich aufgefaßte Melodien, welche sich über mehrere Takte erstrecken, deren jeder aus dreien oder vieren solcher Abschnitte besteht. (Hierbei kann beobachtet werden, daß der Übergang von sinnlich anschaulicher zu unanschaulicher Erinnerung auf dem Gebiete des Tonsinnes ein viel allmählicherer ist, als bei Gesichtsvorstellungen.) Noch unentwickelter als für Bewegungen ist unser Fassungsvermögen für jene zeitlichen Gestaltqualitäten, welche auf der Veränderung von Licht und Farbe beruhen; - daher es sich wohl auch erklärt, daß sie bisher nur sporadisch zur ästhetischen Verwertung gelangen (etwa bei Sonnenaufgängen im Theater, beim Wechsel bengalischer Beleuchtung u. dgl.).

Nach dem Gesagten ist über die zeitlichen Gestaltqualitäten des Tonsinnes wenig Allgemeines mehr zu erwähnen. Die räumlichen Bestimmtheiten, welche sie an sich tragen mögen, treten vor der Aufmerksamkeit gänzlich in den Hintergrund. Unter Tonbewegung versteht man keine Dislokation, sondern eine Veränderung der Tonqualität. Wie der Gehörssinn den Gesichtssinn an zeitlicher Fassungskraft weit überbietet, so steht er an Mannigfaltigkeit unzeitlicher Gestaltqualitäten hinter jenem weitaus zurück (ja, der letztere Umstand dürfte, wie erwähnt, die Ursache des ersteren sein). Die Mannigfaltigkeit der zugleich gehörten Töne eines Akkordes kann nicht im entferntesten wetteifern mit der Mannigfaltigkeit der auf einen Blick erfassbaren Formen und Farben. Neben den bisher ausschliesslich berücksichtigen musikalischen müssen auch die unmusikalischen Schallgestalten beachtet werden (wie etwa donnern, knallen, rauschen , plätschern usw.).

Jedes gesprochene Wort ist seinem sinnlichen Teil nach eine eigentümliche zeitliche Schallgestalt. Überreich im Vergleich zu den wenigen sprachlichen Bezeichnungen ist die Menge der von den übrigen Sinnen gelieferten zeitlichen Gestaltqualitäten. Was von einer Verschmelzung der Sinneseindrücke bezüglich der unzeitlichen Gestaltqualitäten gesagt wurde, gilt ebenso von den zeitlichen. Die Fülle von Kombinationen und darauf sich gründenden psychischen Elementen, welche sich hiermit ergibt, darf uns nicht Wunder nehmen. Jedem, welcher psychologische Theorien mit der inneren Erfahrung zu prüfen gewohnt ist, wird sich wohl schon ein Zweifel darüber aufgedrängt haben, ob aus dem geringen Inventar von Qualitäten, welche der Haut-, Muskel und Gemeinsinn liefern, die unermessliche Menge der in den bezüglichen Gebieten lokalisierten Phänomene erklärt werden können. Die Theorie von den fortwährend neu sich bildenden Gestaltqualitäten vermag dies leicht zu erklären. Auf Einzelheiten einzugehen verbietet jedoch vor allem schon der mangelnde sprachliche Ausdruck. Man könnte meinen, nun über die Reihe möglicher zeitlicher Gestaltqualitäten einen Überblick gewonnen zu haben, wenn nicht noch das Gebiet der inneren Wahrnehmung in Betracht zu ziehen sein würde. Ob hier unzeitliche Gestaltqualitäten zu beobachten seien, mag dahin gestellt bleiben; jedenfalls aber ergeben Veränderungen, wie das Zunehmen oder Verschwinden einer Lust, eines Schmerzes, einer Erwartung, wenn sie Objekte eines innerlichen Vorstellens werden, analog wie ein anschwellender oder verklingender Ton eigenthümliche zeitliche Gestaltqualitäten, welche sich mit den übrigen Vorstellungsdaten verweben. Gestaltqualitäten solcher Art sind es offenbar, welche größtenteils den ästhetischen Wirkungen der dichterischen Erzeugnisse zur Grundlage dienen.

Aber nicht nur die Veränderung alles Vorstellbaren, auch dessen unverändertes Bestehenbleiben, die Dauer der verschiedensten Zustände, bedingt eigentümliche zeitliche Gestaltqualitäten, welche als Grenzfälle der bisher betrachteten anzusehen sind. Das unveränderte Aushalten eines Tones etwa auf einer Orgelpfeife erweckt im Hörer ebenso eine eigentümliche Vorstellung, wie der Tonwechsel, nur daß wir solche Dauergestalten weniger zu beachten gewohnt sind. Schon der Umstand, daß eine Veränderung in Dauer übergehen kann, zeigt, daß auch in dieser eigentümliche Gestaltqualitäten vorliegen. Sind wir somit im Begriffe, den gedrängten Überblick über die im psychischen Leben auftretenden Gestaltqualitäten zu beschliessen, so erfordert noch das so hochwichtige Phänomen der Relation unsere Beachtung. -

Die Relation fällt nach unserer (oben gegebenen) Definition ebenfalls unter den Begriff der Gestaltqualitäten; denn auch sie (etwa die Vorstellung der Ähnlichkeit zwischen rot und orange) ist gebunden an das Vorhandensein eines Vorstellungskomplexes im Bewußtsein (hier rot und orange), dessen Elemente ohne einander vorgestellt werden können. Dennoch aber geht es nicht an, die Relation mit den bisher betrachteten Gestaltqualitäten zu identifizieren und etwa zu behaupten, die Melodie sei nichts anderes, als die Summe der Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten ihrer einzelnen Töne, das Quadrat nichts anderes, als die Summe der räumlichen Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten seiner Bestandteile. Die Melodie kann gehört, das Quadrat gesehen werden, nicht so die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit zweier Töne, zweier örtlicher Bestimmtheiten. Und noch in anderer Weise unterscheidet sich die Relation von den übrigen Gestaltqualitäten. Von jener gilt bestimmt der Satz, daß sie nicht ohne unser eigenes Zutun, ohne die eigentümliche Tätigkeit des Vergleichens zu Stande komme. Im Einklang mit LOTZE und mindestens nicht im Widerspruch gegen MEINONG (3) (Welchem wir die eingehendste Behandlung des Relationsproblemes verdanken) befinden wir uns, wenn wir das Vergleichen als ein "Wandern des geistigen Blickes" von einem zum andern der zu vergleichenden Fundamente ansehen. Ein solches Wandern des geistigen Blickes ist nichts anderes als ein Übergehen der Aufmerksamkeit von einem Objekt zum andern, also eine Veränderung, welche, wenn sie im Erinnerungsbilde vorliegt, wie jede andere Veränderung die Grundlage für eine zeitliche Gestaltqualität abgeben kann. Eine solche scheint uns nun die Relation (nach MEINONG speziell die Vergleichungsrelation) tatsächlich darzustellen. Eine genaue Bestimmung derselben würde jedoch die Analyse des Phänomenes der Aufmerksamkeit voraussetzen, - ein Problem, auf welches hier nicht eingegangen werden kann.

Als Gestaltqualität meinen wir noch ein weiteres höchst wichtiges Phänomen auffassen zu können, nämlich den Widerspruch. Die diesbezüglichen Untersuchungen MEINONGs) gelangen zu dem Ergebnis, daß im Widerspruch kein eigentümlicher Vorstellungsinhalt vorliege, sondern daß wir, wenn wir ihn von zwei Vorstellungsinhalten aussagen, hierbei lediglich die Beziehung auf ein evidentes Urteil im Sinne haben, welches die Koexistenz der beiden Inhalte mit gleicher Ortsbestimmung (oder bei psychischen Zuständen an einem Bewußtsein) und zwar in ausgeführter und nicht bloß angezeigter Verbindung allgemein negiere. Ein Beispiel wird diese Bestimmungen erläutern: Rund und viereckig sind nach MEINONG widersprechende Begriffe, weil das allgemeine negative Urteil - eine "ausgeführte" Vorstellung rundes Viereck gibt es nicht - Evidenz besitzt. - Die Einschränkung, gemäß welcher sich das evidente negative Urteil nur auf die anschauliche oder ausgeführte Verbindung der widersprechenden Inhalte zu beziehen braucht, erklärt sich daraus, daß in unanschaulicher oder bloß "angezeigter" Verbindung alle denkbaren Vorstellungsinhalte vereinigt werden können. Denn wenn ich die Existenz eines runden Vierecks leugne, so muß ich dieses runde Viereck auf irgendeine Weise zu denken, also die Bestimmungen rund und viereckig zu verbinden imstande sein. Erst der Versuch einer anschaulichen Verbindung dieser Vorstellungsinhalte mißlingt und gibt dann Anlass zum negativen Urteil.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß der auf solche Weise determinierte Begriff seinem Umfang nach mit dem des Widersprechenden zusammenfällt. Fraglich jedoch erscheint es, ob der Inhalt in gleicher Weise getroffen. wurde und nur die Beziehung auf das Urteil den Widerspruch zu erklären vermag. Wenn alles Widersprechende, und nur dieses durch einen evidenten Urteilsakt allgemein geleugnet werden kann, - sollte man da nicht meinen, daß schon in seiner Vorstellung ein gemeinsames Merkmal enthalten sei, welches jenen evidenten Urteilsakt hervorruft? - Ein solches Merkmal aufzusuchen, wollen wir zunächst auf den Unterschied zwischen bloß angezeigter oder unanschaulicher und ausgeführter oder anschaulicher Vorstellungsverbindung eingehen. - MEINONG hat diesen Unterschied im angeführten Werke nicht näher definiert, obgleich er, wie uns dünkt, dort selbst den Weg gewiesen, auf welchem dies wohl möglich wäre. Es ist dies seine Erklärung des "indirekten" Vorstellens (4), als dessen spezielle Art die bloss angezeigte Verbindung zweier oder mehrerer Merkmale dargestellt werden kann. Wenn ich etwa die unanschauliche Vorstellung eines runden Viereckes bilde, so dient mir als Ausgangspunkt die Verbindung zweier Merkmale, z. B. rechtwinklig und viereckig, zu einer anschaulichen Vorstellung, und ich denke nun das runde Viereck indirekt als ein Ding, an welchem die Merkmale rund und viereckig ebenso verbunden vorkommen, wie etwa an einem Rechteck rechtwinklig und viereckig, oder weiss und viereckig. Die Art dieser letzteren Verbindung ist mir direkt aus der Anschauung gegeben. Die Relation, welche das indirekte Vorstellen vermittelt, ist hier die Gleichheit (analog wie anders wo die Ähnlichkeit, wenn ich etwa eine Person vorstelle auf Grund der Anschauung ihres Porträts). Die beiden Fundamente (entsprechend dort dem durch das Porträt erweckten Vorstellungskomplex einer- und der indirekt vorgestellten Person andererseits) sind hier die in der Anschauung gegebene Verbindung von rechtwinklig und viereckig oder weiß und viereckig einer - und die am indirekt vorgestellten Gegenstand geforderte Verbindung von rund und viereckig andererseits (5). - Die so gewonnene Erklärung der unanschaulichen Vorstellungsverbindung kann nun zur Aufdeckung des Vorstellungselementes "Widerspruch" weiter verwertet werden. - Zunächst leuchtet ein, daß nicht nur widersprechende, sondern auch verträgliche Merkmale in bloß angezeigter Verbindung gedacht werden können. Es geschieht dies sogar sehr oft zufolge jener Sparsamkeit, welche die Natur, bei Erreichung ihrer Ziele immer an den Tag legt. Das unanschauliche Vorstellen erfordert weit weniger Kraftaufwand, als das anschauliche und vertritt dieses daher in zahlreichen Fällen. So wird ein jeder auf Grund etwa der komplizierten Beschreitung eines architektonischen Werkes von diesem zuerst eine bloß indirekte Vorstellung bilden, welche sich erst durch allmähliche Ausführung der nur angezeigten Verbindungen zu einem anschaulichen Gesamtbild ergänzt. Dieser Werdeprozeß der anschaulichen, direkten aus der indirekten Vorstellung aber ist ein Geschehnis, eine Veränderung, welche der eigentümlichen zeitlichen Gestaltqualität zur Grundlage dient. Dieselbe besitzt in der Sprache keinen Namen; wir können sie daher nicht näher bezeichnen, sondern nur, wie dies hier geschehen, auf ihre Entstehung hinweisen und den Leser auffordern, durch Ausführung mehrerer solcher "Veranschaulichungen" sich eine Vorstellung von dem allen derartigen Fällen Gemeinsamen zu bilden. - Ist man sich eines solchen bewußt geworden, so erübrigt nun nur noch ein Schritt zur Erklärung des Widerspruches. Versucht man nämlich, in ähnlicher Weise wie früher verträgliche Merkmale (etwa achtzackig, sternförmig, aus weissem Marmor auf schwarzem Grunde usw.) unverträgliche Bestimmungen (z. B. rund und viereckig) aus einer bloß angezeigten in eine ausgeführte Verbindung zu bringen, so verläuft der hierbei sich abspielende Vorgang im Anfang vollkommen analog dem früheren, bis plötzlich ein weiter nicht zu beschreibender Moment eintritt, in welchem sich (bildlich gesprochen) die Bestimmungen der Vereinigung widersetzen, wie etwa zwei Körper, welche man zugleich in ein nur für einen unter ihnen verfertigtes Futteral zu zwängen sucht. Und während früher mit einer dem Einschnappen einer Feder vergleichbaren Präzision die anschauliche Vorstellung zustande kam, stockt nun der Bildungsprozess auf halbem Wege in einer nicht zu verkennenden, durch kein Gleichniss vollkommen zu charakterisierenden Weise, welche wir - Widerspruch nennen. Nach unserer Auffassung ist somit der Widerspruch ein eigentümliches Vorstellungselement, eine zeitliche Gestaltqualität mit einem charakteristischen Punkt (wie etwa die Vorstellung des Zusammentreffens zweier sich bewegender Körper im Raum), welche die Überzeugung von der Nichtexistenz derjenigen Gegenstände bedingt, bei deren versuchter und gescheiterter Heranbildung in anschaulicher Vorstellung sie entstanden ist.

Ist mit einer solchen Statuierung eines bestimmten Vorstellungselementes "Widerspruch" für die Entstehung evidenter negativer Urteile ein Grund in ihrem Objekte aufgezeigt, so liegt nun die Frage nahe, ob in dieser Eigentümlichkeit nicht etwa schon ein genügender Inhalt auch für den Evidenzbegriff gegeben sei, so daß man auf die Annahme einer der Evidenz entsprechenden eigentümlichen Qualität des Urteilsaktes verzichten könnte. In der Tat scheinen auch alle evidenten negativen Urteile auf Widersprechendes gerichtet zu sein, alle evidenten affirmativen aber nur dadurch zustande zu kommen, daß man ein ihnen kontradiktorisch entgegengesetztes negatives Urteil zu fällen versucht, und bei diesem Versuch an einem Widerspruch scheitert. - So viel nur als ein Hinweis, dessen nähere Ausführung die Grenzen dieser Untersuchung überschreiten würde.

Kehren wir nun zu unseren Betrachtungen zurück, so ist noch des in anderem Zusammenhang schon berührten Problems Erwähnung zu tun, ob nicht etwa irgendwelche von den angeführten Gestaltqualitäten die Grundlage für neue, höherer Ordnung abgeben können. - Hat man unserer Auffassung der Vergleichungsrelationen zugestimmt, so muss diese Frage in gewissem Sinne zweifellos bejaht werden. Denn offenbar können wir wie alles Vorstellbare auch Gestaltqualitäten miteinander vergleichen und die so gebildete Relationsvorstellung ist, wenn überhaupt als Gestaltqualität, so jedenfalls als eine solche höherer Ordnung zu betrachten. Offenbar aber ist hiermit das Problem noch nicht gelöst, da ja Gestaltqualitäten höherer Ordnung noch in anderer Weise denkbar wären. Ehe wir jedoch diese Frage weiter verfolgen, wollen wir die hier angeregte Vergleichung von Gestaltqualitäten einer kurzen Erwägung unterziehen.

Daß Gestaltqualitäten Ähnlichkeit aufweisen können, springt in die Augen. Zunächst können alle zeitlichen Gestaltqualitäten sich im Rhythmus gleichen, mag er nun durch Veränderung der Schallstärke, durch Bewegung im Gesichtsfeld, durch Druck oder sonst wie markiert werden. Die Ähnlichkeit läßt sich hier auf die Gleichheit eines durch Abstraktion herauszuhebenden Merkmals zurückführen. Aber auch, wo dies entweder der Natur, der Sache nach unmöglich oder aber unserem Abstraktionsvermögen noch nicht gelungen ist, muss das Statthaben von Ähnlichkeit in zahlreichen Fällen zugegeben werden. So etwa erkennen wir den Komponisten einer Melodie an ihrer Ähnlichkeit mit anderen, bekannten, ohne daß wir des Näheren anzugeben vermöchten, worin jene Ähnlichkeit besteht. So erkennen wir den Angehörigen einer Familie an einer Ähnlichkeit, welche sein gesamtes physisches Wesen, sein "Habitus" aufweist und welche sich der Analyse in die Gleichheit einzelner Bestandteile oft hartnäckig widersetzt. -

Derartige Ähnlichkeiten des Gesamtbildes (der auf der Summe aller Einzelheiten sich aufbauenden Gestaltqualität) eignet sich wegen der Schwierigkeit, die schier unermessliche Reihe möglicher Gestaltqualitäten zu präzisieren und zu klassifizieren, wenig zu exakter Begriffsbildung; dennoch sah sich die Wissenschaft genötigt, ihnen vor den viel leichter faßbaren Gleichheiten einzelner Bestimmungen in zahlreichen Fällen den Vorzug zu geben, weil es sich zeigte, daß die nach dem Habitus, also den Gestaltqualitäten geordneten Natur-Objekte in engerer verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als die nach präzise bestimmbaren Einzelheiten klassifizierten; - so etwa bei der Bevorzugung des natürlichen vor dem LINNÉschen Pflanzensystem. Zwar sucht man auch dann noch aus gerechtfertigten Bedürfnissen der Exaktheit die nach dem Habitus gebildeten Gruppen durch Aufsuchung gleicher Einzelheiten scharf abzugrenzen; aber nicht immer ist dies von Erfolg begleitet und bei der praktischen Unterscheidung hält man sich oft an den Habitus und gelangt hierdurch ungleich schneller zum Ziel, als durch Untersuchung jener oft schwer zugänglichen Merkmale. -

So wie die Ähnlichkeit der stammverwandten Produkte der Natur beruht auch diejenige der menschlichen Erzeugnisse, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt der Stilverwandtschaft betrachten, zum grossen Teil auf Gestaltqualitäten. Was man Stilgefühl für ein gewisses Kunstgebiet nennt, dürfte der Hauptsache nach in nichts anderem, als in der Fähigkeit bestehen, Gestaltqualitäten der betreffenden Kategorie aufzufassen und zu vergleichen. Ja, manche Analogien legen sogar die Frage nahe, ob nicht Gestaltqualitäten verschiedener, anscheinend disparater Vorstellungsgebiete (wie z. B. ein Crescendo, das Zunehmen des Lichtes bei anbrechendem Tag, das Steigen einer Erwartung) (6) eine direkte Ähnlichkeit aufweisen, welche, über die Gleichheit gemeinschaftlicher Merkmale (hier etwa der Zeit) hinausreichend, dennoch in den Phänomenen selbst, und nicht etwa nur in den sie begleitenden Gefühlen ihren Sitz hat. -

Wie sich dies indessen auch verhalten möge, - so viel kann nicht bestritten werden, daß Ähnlichkeit zwischen Gestaltqualitäten in reichstem Maasse anzutreffen ist, und daß im Vergleich jener untereinander in den hierdurch entstehenden Relationsvorstellungen Gestaltqualitäten höherer Ordnung erzeugt werden. Indessen wurde schon früher angedeutet, daß dies nicht die einzige Art sei, in welcher wir uns Gestaltqualitäten höherer Ordnung verwirklicht denken können. Es fragt sich nämlich, ob nicht in analoger Weise, wie etwa mehrere Töne ohne vergleichende Tätigkeit eine Melodie bilden, auch mehrere Melodien, sei es zugleich (im polyphonen Satz) oder nach einander erklingend, oder auch Melodien in Verbindung mit gesehener Bewegung Gestaltqualitäten höherer Ordnung ergeben können. Diese Frage ist zu unterscheiden von der früher aufgeworfenen, ob Gesichts- und Gehörsvorstellungen gemeinsam die Grundlage ein und derselben Gestaltqualität erster Ordnung zu liefern vermögen, und von ihr getrennt zu behandeln. Doch wird man dem Zeugnis der Selbstbeobachtung auf einem noch so ungewohnten Gebiet mit Recht mißtrauen; und da auch die anderen im Vorhergehenden abstrakt charakterisierten Prüfungsmittel wegen der Schwierigkeit, die Phänomene zu fassen, ihren Dienst versagen, so müßte die Frage vollkommen unentschieden gelassen werden, wenn nicht ein Umstand mindestens einen Wahrscheinlichkeitsgrund zu deren Beantwortung im positiven Sinn abgeben würde. Es ist dies die enge Geschlossenheit, zu welcher wir Bestandtheile der denkbar verschiedensten Vorstellungsinhalte, nämlich sogar physischen und psychischen Geschehens, in einheitlichen Begriffen verbinden. Beispiele hierfür ergeben sich in Fülle. Schon der allgemeine Begriff der menschlichen Willenshandlung oder der Handlung schlechthin enthält eine solche Verbindung von Physischem und Psychischem, und mit ihm alle seine Spezifikationen, mögen sie nun durch Hauptwörter (Wohltat, Dienst, Wette, Trauung, Diebstahl, Krieg usw.) oder durch Zeitwörter (bitten, klagen, helfen, bestehlen, rächen usw.) ausgedrückt werden. Bedenkt man nun noch, daß alle Bezeichnungen für menschliche Individuen oder Klassen jedweder Art, (Hans und Paul, Priester, Handwerker, Schottländer, Bösewicht usw.) sowie die meisten Bezeichnungen für menschliche Vereinigungen und Institutionen (Staat, Obrigkeit, Versicherungswesen usw.), Länder- und Ortsnamen, desgleichen alle Tiernamen auf, eine Verbindung von Physischem und Psychischem abzielen, so gelangt man zur Überzeugung, daß gewiß ein erheblicher "Bruchtheil, wahr-scheinlich aber mehr als die Hälfte unserer im gewöhnlichen Leben verwendeten Begriffe der besprochenen Kategorie angehört. Nun operieren wir aber mit den Begriffen anstandslos wie mit einheitlichen Elementen. Wäre dies wohl möglich, wenn jedem derselben bloß ein Aggregat von Vorstellungen entspräche ohne ein sie alle umschlingendes einheitliches Band, - eine Gestaltqualität höherer Ordnung? -

Wir beschließen hiermit den zweiten Teil unserer Untersuchung - die Aufzählung der verschiedenen Kategorien von Gestaltqualitäten - um noch mit wenigen Worten auf deren hohe Bedeutung im psychischen Leben hinzuweisen. - Könnte nach dem Gesagten gegen diese ein Zweifel erhoben werden, so genügte zu dessen Beseitigung gewiss schon der an die unmittelbar vorhergehenden Betrachtungen sich anschließende Hinweis darauf, daß der grösste Teil des im gewöhnlichen Leben wie in der Wissenschaft benützten Wortschatzes Gestaltqualitäten bezeichnet. Denn wenn man auch die Existenz solcher höherer Ordnung, Physisches und Psychisches umschliessender, bestreitet, und Begriffen etwa, wie bitten, klagen usw., nicht ein einheitliches, sondern nur eine assoziative Verkettung von verschiedenen Elementen zuschreibt; - daß unter diesen Elementen sich Gestaltqualitäten, befinden, kann keinesfalls geleugnet werden. Die Begriffe von Veränderung und Dauer sind durch Abstraktion aus zeitlichen Gestaltqualitäten erst gewonnen; jede ihrer Spezifikationen, somit jedes Zeitwort im eigentlichen Sinn (mit teilweiser Ausnahme allein von Sein und Haben, sowie mancher zeitlich punktuell gedachte Zustände bezeichnender Wörter) bezeichnet Gestaltqualitäten irgendwelcher Art; ebenso jedes Haupt- und Eigenschaftswort, welches sich auf mehr als ein Vorstellungselement bezieht. Gestaltqualitäten enthalten somit die meisten Begriffe, mit denen wir operieren. Gestaltqualitäten haften, wie wir dies auf dem Ton- und Schallgebiet schon hervorgehoben, wie es sich aber auch auf dem Gesichts- und den übrigen Sinnesgebieten leicht zeigen lässt, viel sicherer in unserem Gedächtnis, als die Bestimmtheiten einfacher Elemente. Nach Gestaltqualitäten erfolgt der größte Teil. unserer Assoziationen. Ja, wenn die Ähnlichkeit sich nicht durchgängig als partielle Gleichheit darstellen lassen und mithin in einem Assoziationsgesetz nach dem Prinzip der Ähnlichkeit etwas anderes vorliegen sollte, als in demjenigen nach dem Prinzip der zeitlichen Kontiguität [Angrenzung - wp], so dürfte man sogar den Satz aussprechen, daß ersteres überhaupt nur für Gestaltqualitäten Geltung besitze. Niemand wird noch beobachtet haben, daß sich ihm an die Vorstellung des Kirschrot etwa die Vorstellung des Purpurs oder anderer nahegelegener Farbennuancen assoziiere, - oder beispielsweise an die Vorstellung des  C  diejenige des  Cis  usw. Dagegen zählen Fälle wie der, daß wir durch eine Melodie an eine andere ähnliche, durch ein Gesicht an ein anderes ähnliches erinnert werden, zu den bekannten Erscheinungen des psychischen Lebens. Wie man nun auch das Assoziationsgesetz der Ähnlichkeit behandeln möge, - sicher ist, daß in ihm eine fundamentale Verschiedenheit der Gestaltqualitäten von den übrigen psychischen Elementen sich erweist. Nun erwäge man die Bedeutung jenes Gesetzes und mithin auch der Vorstellungsinhalte, welche allein ihm unterliegen!

Aber nicht nur in der Reproduktion, auch in ihrer freien Erzeugung durch die schöpferische Tätigkeit der Phantasie unterscheiden sich die Gestaltqualitäten wesentlich von den Elementarvorstellungen. Bezüglich dieser gilt bekanntlich der HUMEsche Satz von der Gebundenheit der Phantasie an die ,impressions" (Empfindung und innere Wahrnehmung) mit wenigen Einschränkungen. (Diese letzteren besagen, daß, wenn uns durch "impression" eine Reihe von Vorstellungsinhalten gegeben ist, welche sich zu einem Qualitäten-Kontinuum ergänzen lassen, es möglich sei, auch ohne vorangegangene "impression" Zwischenstufen zwischen den vorhandenen Gliedern des Kontinuums, vielleicht auch Glieder, welche nach einer Richtung über die vorhandenen hinausgehen, in anschaulicher Phantasievorstellung zu erzeugen.) Dagegen wird der Phantasie ziemlich allgemein die Fähigkeit zuerkannt, die durch Empfindung und innere Erfahrung gegebenen Elemente frei zu kombinieren. daß aber hierin nach unserer Auffassung von dem Wesen der Gestaltqualität ein schöpferisches Vermögen grössten Stiles eingeschlossen liegt, kann nicht mehr bezweifelt werden. Mit den Combinationen jener Elemente erzeugt sich nämlich eine unabsehbare Reihe positiver psychischer Qualitäten von höchster Bedeutung. Der Geist, welcher psychische Elemente. in neue Verbindungen bringt, ändert hierdurch mehr als Combinationen; er schafft Neues. Und wenn wir auch annehmen müssen, daß dieses Schaffen kein gesetz- und schrankenloses sei (7), so können wir doch noch in keiner Weise die Grenzen angeben, welche uns diesbezüglich gezogen sein mögen.

Selbst wenn für die Erzeugung von Gestaltqualitäten durch die Phantasie ein ähnliches Gesetz mit ähnlicher Einschränkung gelten würde, wie das eben dargelegte, die Elementarqualitäten betreffende, könnte dasselbe beim jetzigen Stand unserer Kenntnis doch kaum kontrolliert werden, da es die Konstruktion von Qualitätenkontinuen voraussetzt. Bedenkt man aber, daß nur, um ein Kontinuum aller möglichen Farbennuancen herzustellen, die drei Raumdimensionen herangezogen werden müssen, so wird man wohl vor der Aufgabe, etwa ein Melodienkontinuum zu konstruieren, derart, daß jeder denkbaren Melodie ein bestimmter Punkt des Kontinuums entspräche, als vor einem die menschliche Kombinationskraft derzeit noch überschreitenden Problem zurückschrecken. So lange es aber noch nicht geglückt ist, alle denkbaren Gestaltqualitäten einer Kategorie in ein bestimmtes System zu bringen, wird die Frage, ob eine in der Phantasie erzeugte Gestaltqualität ein Zwischenglied zwischen zwei schon bekannten oder die Fortsetzung des Kontinuums nach einer bereits gegebenen Richtung, oder keines von beiden darstelle, auch nicht mit Gewißheit zu beantworten sein. Ließe sich also ein solches Gesetz, wenn vorhanden, mit unseren Erkenntnissmitteln kaum beweisen, so lassen sich doch gegen dessen Bestehen Gründe vorbringen, welche zwar nicht mit dem Gewicht absoluter Gewißheit, dennoch aber mit dem großer Wahrscheinlichkeit in die Waage fallen. Vergleicht man nämlich die durch die menschliche Phantasie geschaffenen Gestaltqualitäten auf den Gebieten der Ornamentik, Architektur und Musik mit demjenigen, was uns die Natur an Körpern und Schallgestalten bietet, so wird man wohl kaum annehmen können, daß der menschliche Geist hier nur Interpolationen zwischen schon vorhandenen Gliedern geschaffen habe oder in einer bereits fixierten Richtung über ihr gegebenes Endglied hinausgegangen sei. Angesichts der angeführten Beispiele kann es, wie uns dünkt, keinem Zweifel unterliegen, daß der Phantasie auf dem Gebiet der Gestaltqualitäten ein weitaus größeres Feld für relativ freie Betätigung offen liege, als auf dem der Elementarvorstellungen. Doch ist dagegen keineswegs anzunehmen, daß die Erfindung neuer Gestaltqualitäten ohne Widerstand, gleichsam spielend vor sieh gehe. Im Gegenteil bedarf es auch hier nicht geringer Kraft, sich vom Gewohnten zu emanzipieren und wahrhaft Neues, Eigenartiges hervorzubringen. Was wir künstlerisches Genie nennen, dürfte nicht zum kleinsten Teil in derartiger Schöpferkraft seinen Sitz haben.

Das Problem bezüglich der Erfindung von Gestaltqualitäten bringt uns das zu Eingang dieser Untersuchung hinausgeschobene bezüglich ihrer vermittelten oder unmittelbaren Entstehung bei gegebener Grundlage wieder nahe. MACH spricht, wie erwähnt die Ansicht aus, daß die Raumgestalt, die Melodie ohne Zutun der Intelligenz, (8). also wohl ohne eine hierauf gerichtete geistige Tätigkeit, vorhanden seien und "empfunden" werden, sobald nur ihre Grundlage dem Bewußtsein gegeben sei. Als Begründung weist er auf. die Erscheinungen selbst hin, auf das Sehen einer Gestalt, das Hören einer Melodie. Und es kann auch nicht geleugnet werden, , daß wir uns hierbei in zahlreichen Fällen keinerlei Tätigkeit bewußt werden können. Fomuliert man aber die Behauptung streng und allgemein zu dem Satz: "Wo und wann immer sich im Bewußtsein ein Komplex zusammenfindet, welcher die Grundlage für eine Gestaltqualität abgeben kann, ist dieselbe eo ipso [selbstverständlich - wp] und ohne unser Zutun im Bewußtsein mitgegeben," - so wird vielleicht mancher in Erinnerung an eine deutlich bewußte Anstrengung, welche er auf die Auffassung von räumlichen Gestalten oder Melodien verwendet, hiergegen Einsprache erheben zu müssen glauben. Und in der Tat; - sind die Fälle nicht ebenso zahlreich, sind sie nicht sprichwörtlich geworden, in denen jemand, Farben sieht, aber kein Bild, Bäume, aber keinen Wald, in denen er Töne hört, aber keine Musik? - Jedenfalls müssen diese wirklichen oder scheinbaren Gegeninstanzen näher betrachtet werden. - Da würde sich denn, sie zu entkräften, zunächst ein Mittel darbieten, welches in vielen analogen Fällen angewendet wird. - Wenn wir von der Vorstellung einer Gestalt, einer Melodie nichts auszusagen wissen, und dieselbe in keiner Weise psychisch zu verarbeiten vermögen, so ist hiermit noch keineswegs bewiesen, daß wir diese Vorstellungen nicht besitzen. Sie könnten darum doch recht wohl in unserem Bewußtsein vorliegen, und nur wir außerstande sein, unsere Aufmerksamkeit auf sie zu richten und sie von ihrer Umgebung loszulösen. - Dieser zum Missbrauch so sehr verlockende Ausweg ist in der Psychologie mitunter umgänglich. Hier aber würde er wenig frommen, da er ja doch nur die Möglichkeit des Vorhandenseins von Gestaltqualitäten, nicht ihr tatsächlich allgemeines Gegebensein mit der Grundlage statuieren würde. Dagegen lässt sich im Einzelnen erkennen, daß wir diejenige Anstrengung, welche die Auffassung einer Gestalt, einer Melodie bei schon vorhandener Grundlage zu erfordern scheint, vielmehr auf die Ergänzung jener Grundlage selbst verwenden. Bei der Betrachtung eines Bildes ist dies vielleicht am auffälligsten. Was nämlich hier durch die Empfindung gegeben wird, ist keineswegs jene Vorstellung des Gesichtssinnes, welche der Maler durch das Bild zu vermitteln suchte, sondern nur ein ärmliches Skelett, um welches sich jene durch Phantasiethätigkeit erst heranbilden muß. Die relativ geringen Unterschiede in Licht und Farbe, sowie die perspektivischen Verkürzungen in der Bildfläche als Assoziationszeichen für die Verwirklichung einer dritten Dimension und voller Leuchtkraft in der Vorstellung zu verwenden, erfordert eine bedeutende Kraftleistung. Zu dem muss der Blick bei allen grösseren Bildern über - die Bildfläche wandern und die so aufgelesenen Einzelheiten in den indirekt gesehenen Teilen des Ganzen durch Illusion festhalten. Erst, wenn alles dies getan ist, besitzt man im Bewußtsein jenen Vorstellungskomplex, welcher der durch das Bild zu vermittelnden Gestaltqualität zur Grundlage dient. Erst bei demjenigen, welcher diese Arbeit vollzogen hat, kann sich auch das ästhetische Gefallen einfinden. Nun ergibt sich hieraus einerseits ein sehr einfacher Erklärungsgrund für die Verschiedenheit des ästhetischen Urteils, - andererseits aber wird man bezüglich der uns beschäftigenden Frage wohl kaum noch behaupten wollen, daß, wer, die Grundlage zur Gestaltqualität auf solche Art im Bewußtsein ausgebildet habe, nun diese selbst erst durch einen weiteren Akt zu ergänzen genötigt sei, - sondern vielmehr zugeben, daß diese dann gleichsam von selbst mitgegeben sei. - Eine ähnliche Arbeit wie beim Ansehen eines Bildes hat man aber auch bei der Auffassung von Gestalten plastischer Gegenstände zu verrichten, indem selbst bei der Ansicht von einer Seite ebenso wie dort das Wandern des Blickes unerläßlich ist, und überdies zu wahrhaft plastischer Auffassung einer Gestalt der malerische Eindruck von einer Seite keineswegs genügt, sondern vielmehr ein auf vielseitigen Ansichten beruhendes Phantasiebild des gesamten Körpers erzeugt werden muß.

Bei Melodien aber genügt es, wie schon erwähnt, keineswegs, die eben erklingenden Töne zu hören; man muss, um nur die Grundlage der zeitlichen Tongestalt im Bewußtsein heranzubilden, sich an die bereits verklungenen Töne bis auf weite Zeitstrecken zurückerinnern. Daß dies häufig nicht ohne Anstrengung geschehen kann, ist ebenso einleuchtend, als es wohl auch hier zuzugeben sein wird, daß derjenige, welcher auf solche Art die Grundlage einer Melodie in der Phantasie zusammengefasst hat, nun auch ohne weiteres Zutun die Vorstellung der Melodie besitze, und nicht, um diese zu gewinnen, einer neuerlichen Auffassungstätigkeit bedürfe. - Zusammenfassend können wir also wohl behaupten, daß wir in zahlreichen Fällen der Auffassung von Gestaltqualitäten von einer eigenen Tätigkeit überhaupt nichts erfahren, in anderen eine solche Tätigkeit sich als Ergänzung der Grundlage der Gestaltqualität und nicht als Erzeugung dieser aus jener erweist. Letztere Tätigkeit könnte sich aber, wenn überhaupt erforderlich, bei der grossen Rolle, welche die Gestaltqualitäten im psychischen Leben spielen, unserer Aufmerksamkeit unmöglich entziehen.

Wir gelangen somit zu dem Schluß, daß die Gestaltqualitäten ohne speziell auf sie gerichtete Thätigkeit mit ihrer Grundlage zugleich psychisch gegeben sind. Hierbei drängt sich ein Bedenken auf, welches wir am besten an einem konkreten Beispiel zu charakterisieren vermögen: Gesetzt, wir hätten im Gesichtsfeld nichts anderes, als ein weißes Viereck auf schwarzem Grund, so folgt aus dem vorhergehenden, daß die Vorstellung der betreffenden Gestalten (des Vierecks einerseits und des nach dem Sehfeld geformten schwarzen Ovales mit der viereckigen inneren Begrenzung andererseits) eo ipso im Bewußtsein enthalten sind. Nun kann man sich aber das Viereck durch eine Diagonale in zwei Dreiecke, durch zwei Diagonalen in vier Dreiecke zerlegt denken, man kann in jedes dieser Dreiecke jede beliebige Figur eingezeichnet denken, ebenso in die schwarze umliegende Fläche an jeder beliebigen Stelle. Alle diese Gestalten besitzen zur Grundlage nichts, was nicht schon in der ursprünglichen schwarzen Fläche mit dem weissen Viereck enthalten gewesen wäre. Gilt also der Satz, daß mit jeder Grundlage auch die ihr zugehörige Gestaltqualität psychisch gegeben sei, so müßte anscheinend mit dem kleinsten Flächenkontinuum die unendliche Menge aller denkbarer Flächengestalten vorliegen. Wollte man aber selbst vor dieser Konsequenz nicht zurückschrecken , so müßte man doch fragen, weshalb aus dieser unendlichen Menge gerade ganz bestimmte Gestalten (hier das Viereck und sein Untergrund) als die ursprünglichen, gleichsam priviligierten hervortreten. Offenbar beruth dies in unserem Beispiel darauf, daß das Viereck von seiner Umgebung durch verschiedene Färbung absticht. Erwägt man diesen Umstand, so erkennt man leicht, daß die Annahme aller übrigen Gestaltqualitäten überflüssig, und unser früher allgemein ausgesprochener Satz dahin einzuschränken ist, daß bei einem im Bewußtsein gegebenen Komplex von Vorstellungsinhalten nur die Gestaltqualitäten derjenigen Grundlagen mit vorhanden sind, welche sich von ihrer Umgebung merklich abheben. - Übereinstimmend hiermit wird man auch beobachten können, daß, so oft man sich etwa zwingt, das weisse Viereck als zwei Dreiecke aufzufassen, oder in demselben eingeschlossen sich einen Kreis zu denken, man mit der Phantasie in die gleichförmig gefärbte Fläche Linien konstruiert (streng genommen gefärbte Streifen), welche die geforderte Farbengrenze herstellen. So kann man bekanntlich auch eine Reihe gleich starker und in gleichen Zeitabschnitten erfolgender Schläge beliebig als drei-, vier- oder sechsteiligen Rhythmus auffassen, je nachdem man sich jeden dritten, vierten oder sechsten Schlag als stärker vorstellt, wie die übrigen. Nur scheinbar ist hier der gleiche Vorstellungsinhalt gegeben, welcher verschiedenen Gestaltqualitäten zur Grundlage dienen könnte; tatsächlich sind an gleiche Grundlagen immer gleiche Gestaltqualitäten gebunden. Der illusionierenden Kraft der Phantasie aber gelingt es, bei gleichem äußeren Empfindungsreiz die Grundlagen selbst und durch sie mittelbar auch die Gestaltqualitäten zu verändern. Vermag das Gesagte ein - wenn auch in sehr allgemeinen Zügen gehaltenes - Bild von der Stellung und Bedeutung der betrachteten Phänomene im psychischen Leben zu entwerfen, so soll nun noch auf den Umstand hingewiesen werden , daß die Theorie von den Gestaltqualitäten geeignet wäre, möglicherweise die Kluft zwischen den verschiedenen Sinnesgebieten, ja den verschiedenen Kategorien des Vorstellbaren überhaupt zu überbrücken und die anscheinend disparatesten Erscheinungen unter ein einheitliches System zusammenzufassen.

JOHN STUART MILL zeigt in seiner induktiven Logik, daß den Einheitsbestrebungen in der Naturerklärung durch die Mannigfaltigkeit der auf einander nicht zurückführbaren psychischen Qualitäten eine natürliche Schranke gezogen sei. Und niemand wird - jene Unzurückführbarkeit einmal zugegeben - hiergegen etwas einzuwenden vermögen. Denn gesetzt, es wäre das Ideal der Naturwissenschaft erreicht und alles physische Geschehen auf Mechanik der Atome zurückgeführt, so müßte eine vollständige, auch die psychische Welt umfassende Naturerklärung noch angeben, in welcher Weise die psychischen Erscheinungen an das physische Geschehen gebunden sind. Nehmen wir nun an, diese Forderung wäre etwa bezüglich der Tonvorstellungen erfüllt. Einer Schwingung von bestimmter Schwingungsform, -dauer und -weite in gewissen Partien des Gehirnes entspräche die Vorstellung eines einfachen Tones von bestimmter Höhe und Stärke, und hiernach in gesetzmäßiger Analogie die Vorstellung, von tieferen und höheren, stärkeren und schwächeren Tönen, Schwingungen von größerer oder geringerer Schwingungsdauer- und weite. Man könnte sich dieses Verhältniss präzisiert denken; sein Ausdruck würde dann ein Naturgesetz statuieren. In ähnlicher Weise könnte das Verhältnis aller übrigen psychischen Qualitäten zu den mechanischen Hirnvorgängen festgestellt sein. Offenbar wären hierzu ebenso viele neue und von einander unabhängige Naturgesetze erforderlich, als es unzurückführbare psychische Kategorien gibt. Denn durch das Verhältnis zwischen Tonvorstellungen und Bewegungen im Gehirn wäre noch gar nichts über das Verhältnis von Farbenvorstellungen und mechanischen Hirnvorgängen festgesetzt, aus dem einen könnte das andere nicht abgeleitet werden ; wir besäßen mindestens ebenso viele letzte Naturgesetze, als getrennte psychische Qualitäten. - So ist es denn von hohem Wert, den Ausblick wenn auch nur auf die Möglichkeit einer Ableitung des scheinbar Inkommensurablen aus gemeinsamer Grundlage zu gewinnen.

Betrachten wir zunächst das Gebiet der Schallvorstellungen. Es kann nicht mehr bezweifelt werden, daß alle Schallvorstellungen, auch diejenigen von Geräuschen aller Art, insofern sie nicht selbst die Vorstellungen einfacher Töne sind, durch die Vereinigung solcher im vorstellenden Bewußtsein erzeugt werden. Die musikalisch wohl und übel, klingenden Tonverbindungen unterscheiden sich von unmusikalischen Geräuschen dadurch, daß es uns bei ersteren bis zu gewissem Grade gelingt, den Eindruck zu analysieren, d. h. Grundlage und Gestaltqualität von einander zu sondern und auch einzelne Teile der Grundlage auseinander zu halten, bei letzteren aber Grundlage und die zugehörige Gestaltqualität zu einem Ganzen verschmelzen, aus welchem wir die Teile noch nicht durch die Aufmerksamkeit herauszuheben vermögen. Dieses Unvermögen ist jedoch kein absolutes und scharf begrenztes. Ein ungeübtes Ohr hört den Akkord häufig nur als Klang, ein geübtes vermag auch im sogenannten Klang noch die Patrialtöne zu unterscheiden und ihn mithin als Akkord zu hören; und es ist recht wohl denkbar, daß jemand dahin gelangen könnte jedes Geräusch durch die Tätigkeit der Aufmerksamkeit in seine Bestandteile aufzulösen. - Wenn aber etwas anscheinend so einfaches wie ein Knall tatsächlich aus verschiedenen Elementen besteht, - wer verbürgt uns, daß dies nicht auch bei den von uns noch nicht zerlegten sogenannten einfachen Tönen der Fall ist? - Könnten sie nicht etwa als Verschmelzung einer Summe noch ursprünglicherer Elemente mit der ihnen zugehörigen Gestaltqualität anzusehen sein? - In der Tat lässt sich hiergegen kein stichhaltiger Grund vorbringen.

Denken wir uns aber die Töne hervorgegangen aus der Vereinigung irgendwelcher Abstufungen einer Urqualität, so müssen wir dieselbe Möglichkeit bei Farben, Gerüchen, Geschmäcken usw., kurz bei allen vorstellbaren Kategorien zugeben. Und auch dagegen lässt sich kein triftiger Einwand geltend machen, daß wir, auf solche Art immer tiefer hinabsteigend, zuletzt nicht bei einer einzigen Urqualität oder mindestens bei einem einzigen Qualitätenkontinuum angelangen könnten, aus welchem durch verschiedene Kombinationen mit den dazu gehörigen Gestaltqualitäten zuletzt so verschiedene Inhalte, wie etwa Farbe und Ton sich erzeugten. Vergleicht man etwa den Akkord einer Aeolsharfe mit dem Knall einer Büchse und bedenkt, wie relativ einfach sich diese beiden Eindrücke als Verschmelzungen von Gleichartigem darstellen, so kann man vor dem Gedanken, daß sich durch viel höhere Komplikationen eines uns unbekannten Urelementes Töne und Farben darstellen ließen, nicht mehr zurückschrecken.

Es könnte vielleicht eingewendet werden, daß wir selbst einen essentiellen Unterschied zwischen Gestalt- und einfachen Sinnesqualitäten statuierten, als wir die Gültigkeit des Assoziationsgesetzes nach dem Prinzip der Ähnlichkeit auf die ersteren beschränkten. - Allein zur Rechtfertigung einer solchen Verschiedenheit im psychischen Leben würde vollkommen der nicht zu leugnende Unterschied genügen, daß wir die Gestaltqualitäten von ihrer Grundlage zu trennen vermögen, bei den einfachen psychischen Elementen aber dergleichen noch nicht gelungen ist.

Wie wunderlich sich der ausgesprochene Gedanke auch darstellen mag, - ich kann keinen triftigen Grund gegen die Möglichkeit der durch ihn postulierten Zurückführung auffinden, wenn auch niemand so kühn sein wird, zu hoffen, menschlicher Scharfsinn werde sie jemals verwirklichen. Die Folge davon wäre eine Befriedigung aller ordnenden Erkenntnisstriebe. Da unsere Kenntniss von Realitäten nie grösser sein kann, als die Menge des Vorstellbaren, so würde mit der Ableitung sämtlicher Vorstellungsinhalte aus einem gemeinsamen Urelement die Möglichkeit geboten sein, die ganze bekannte Welt unter einer einzigen mathematischen Formel zu begreifen.

Man kann in diesen Einheitsbestrebungen, welche unsere Theorie ermöglicht, ein Gegengewicht gegen individualistische Tendenzen erblicken, welche sie ohne Zweifel in anderer Richtung begünstigt. Denn wer sich die Überzeugung wahrhaftig zu eigen macht, daß mit allen Kombinationen psychischer Elemente Neues geschaffen wird, der wird jener eine ungleich höhere Bedeutung beilegen, als wer sie nur für Verschiebungen ewig wiederkehrender Bestandteile ansieht. - Niemals wiederholen sich psychische Kombinationen mit vollkommener Genauigkeit. Jeder Zeitpunkt einer jeden der unzähligen Bewußtseinseinheiten besitzt daher seine eigentümliche Qualität, seine Individualität, welche unnachahmlich und unwiederbringlich in den Schoß der Vergangenheit untertaucht, wenn zugleich die neuen Schöpfungen der Gegenwart an ihre Stelle treten.
LITERATUR - Christian von Ehrenfels, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Jahrgang 13, Leipzig 1890
    Anmerkungen
    1) ERNST MACH, "Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886, Seite 114, 119, 131f (Polemik gegen die HELMHOLTZsche Auffassung.)
    2) Solche Reflexionen wurden mir durch die Vorträge des Herrn Professor FRANZ BRENTANO nahe gelegt, dessen noch nicht publizierter Sinnestheorie - welche freilich die berührten Verhältnisse erklären würde - ich nicht vorgreifen will.
    3) ALEXIUS MEINONG, Hume-Studien 11. Zur Relationstheorie, Seite 43, wo selbst auch die bezüglichen Zitate aus LOTZE angeführt sind, a.a.O. Seite 89f.
    4) MEINONG, a. a.O. Seite 86f.
    5) MEINONGs ("Phantasie-Vorstellung und Phantasie", Zeitschrift für Philosophie u. philos. Kritik, Bd. 95) versuchte Definition (S. 213): ,Anschaulich ist eine complexe Vorstellung, sofern sie frei von Unverträglichkeit ist" - scheint mir unzulässig, da der Begriff der Unverträglichkeit nur mittelst der Unterscheidung zwischen angezeigter und ausgeführter Vorstellungsverbindung, welche MEINONG (a. a. 0. S. 209) mit unanschaulich und anschaulich identifiziert, gedacht werden kann, und somit den zu definierenden Begriff der Anschaulichkeit bereits voraussetzt.
    6) Man betrachte etwa den Orchestersatz während des Sonnenaufgangs im Vorspiele zur "Götterdämmerung" von RICHARD WAGNER dessen Werke überhaupt wegen des in denselben verwirklichten Parallelismus zwischen musikalischen und dramatischen Vorgängen den reichsten Stoff zur Vergleichung von Gestaltqualitäten aller Art darbieten.
    7) Vgl. die trefflichen Ausführungen über "Spontaneität" in MEINONGs (Anmerkung Seite 276) zitiertem Aufsatz, welcher indessen die Eventualität, daß man in den zusammengesetzten Vorstellungsgebilden mehr als bloße Summen oder "Komplexionen" erblicken könnte, nicht in Betracht zieht.
    8) ERNST MACH, "Beiträge zur Analyse der Empfindungen", (Jena 1886), Seite 117