p-4ra-2Hochstetter-PreyerBrentanoWundtRehmkeF. E. O. Schultze    
 
HERMANN EBBINGHAUS
Über erklärende und
beschreibende Psychologie

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"Die Unsicherheiten der Psychologie beginnen gar nicht erst mit ihren Erklärungen und hypothetischen Konstruktionen, sondern bereits mit der einfachen Feststellung des Tatbestandes."

"Was ist ein Willensakt? Eine eigenartige, nicht weiter analysierbare psychische Realität  neben  Empfindungen, Vorstellungen Gefühlen, oder nur eine eigenartige Kombination dieser Elemente? Die Frage appelliert lediglich an die unmittelbar innere Erfahrung und deren Analyse, aber eine einstimmige Antwort hat sie noch keineswegs gefunden."


II.

Daß die erste Form der modernen wissenschaftlichen Psychologie, die sogenannte Assoziationspsychologie, nicht gleich mit allen wünschenswerten Vollkommenheiten in die Welt trat, sondern an gewissen fundamentalen Mängeln litt, ist gewiß. Man kann diese auf zwei Wurzeln zurückführen: sie traute ihren Kräften in der theoretischen Bewältigung psychischer Tatsachen zu viel zu und sie folgte zu sehr physikalisch-chemischen Analogien. Beides ist begreiflich. Der Fortschritt, den sie selbst machte gegenüber dem in Geltung Befindlichen, gegenüber den unehrlichen Demonstrationen, den sterilen Distinktionen und dem ganzen kindlichen Anthropomorphismus der psychologischen Betrachtung überhaupt, war ein so ungeheurer, daß der allbezwingenden Kraft der an vielen Stellen so glücklich gehandhabten neuen Prinzipien nichts mehr spotten zu können schien. Und wo andererseits hätte sie sich mit einer konkreten Anschauung vom Verfahren echter und fruchtbarer Wissenschaft erfüllen sollen, als an der Physik und Chemie, da eine nennenswerte Biologie noch nicht ausgebildet war? Jedoch begreiflich oder nicht begreiflich, die Mängel sind jedenfalls vorhanden. Sie bestehen, nicht ausschließlich, aber wesentlich, in der ungenügenden Würdigung der eigentümlichen Einheiten oder Ganzheiten, wenn der Ausdruck gestattet ist, zu denen innerhalb des Seelenlebens das unterscheidbare Viele zusammengefaßt und vereinigt erscheint.

Das Bewußtsein eines Akkords ist etwas anderes, als das Bewußtsein zweier Töne. Allerdings enthält es auch die beiden Töne in sich, aber nicht nur sie, sondern noch etwas dazu, nämlich eben das Bewußtsein eines Ganzen, dessen Teile sie bilden. Der Eindruck einer Verschiedenheit zweier Farben besteht nicht bloß im Nebeneinandersein dieser Farbenempfindungen. Ich kann unter Umständen mit vollkommenerer Deutlichkeit zwei Farben sehen, ohne mir gerade ihrer Verschiedenheit bewußt zu werden. Wo auch dies geschieht, ist noch etwas mehr vorhanden, eine eigentümliche Zusammenfassung jener beiden zu einem Ganzen, bei der doch ihre Selbständigkeit nicht aufgehoben wird. Das sind Einheiten sozusagen geringsten Umfangs; die Anschauungen von Raum, Zeit, Bewegung und anderes gehören hierher.

Über ihnen erheben sich umfassendere Einheiten, an denen ich vorübergehe, so die Einheit des Sinns in einem Satz, den ich durch eine Mehrheit von aufeinanderfolgnden Worten zu Bewußtsein bringe, sowie die berühmte Einheit des Ichs und die Einheit des Bewußtseins.

Zu oberst endlich kann man von einer alles umfassenden Einheit des Seelenlebens reden, die allerdings nicht als solche ins Bewußtsein fällt, aber doch mit Sicherheit als objektiv vorhanden erschlossen werden kann. Das ist die Einheit des Zwecks, dem das ganze seelische Getriebe mit allen seinen Einzelbildungen und Einzelregungen dient (die eben erwähnte Einheit der Struktur bei DILTHEY): Erhaltung und freie Betätigung der gesamten geistigen Eigenart, Verwirklichung und Aneignung dessen, was ihr zusagt, Abstoßung und Verhütung dessen, was ihr widrig ist.

Hätte die Assoziationspsychologie sich an biologischen Analogien orientiert, so wäre ihr der Blick für diese Dinge geradezu geschärft worden. Denn im lebendigen Organismus verhält es sich ganz ähnlich. Ein Muskel besteht aus einer Menge von Fasern. Aber es ist nicht bloß die Mehrheit dieser Fasern, die ihn charakterisiert, sondern zugleich die Form, die Anordnung, die jene zusammenhält und er ist unbeschadet jener Vielheit doch zugleich ein einheitliches Gebilde. Das Leben eines Organismus besteht in einer Vielheit von Prozessen, zirkulatorischen, respiratorischen, sekretorischen usw. Aber diese verlaufen nicht einfach nebeneinander, wie etwa das Spiel des Herdfeuers, der Wasserleitung und Gasleitung in einer Küche, sondern in jedem Moment und ununterbrochen greifen sie alle ineinander, jeder Vorgang der einen Sphäre klingt irgendwie wieder in allen allen anderen, sie bilden ein innig verbundenes Ganzes, unbeschadet wiederum ihrer Vielheit. Endlich haben wir auch hier die allumfassende Einheit eines höchsten Zweckes: Erhaltung des individuellen Lebens und Erhaltung der Art, das ist sichtlich das letzte Ziel, das alle Organe und das ganze Spiel ihrer Funktionen beherrscht.

Allein nun wurde jene Assoziationspsychologie nicht von biologischen, sondern von physikalisch-chemischen Anschauungen geleitet. Aggregat und chemische Verbindung waren daher die naheliegenden Kategorien, mit denen sie den psychischen EInheitsbildungen gegenüber operierte und von denen beherrscht sie sie, im Vollbewußtseins ihres Könnens, assoziativ zu konstruieren unternahm. So machte sie gleichsam eine räumliche Anschauung aus der Assoziation von Muskelempfindungen mit Farben- oder Tasteindrücken; die Wahrnehmung einer Verschiedenheit identifizierte sie schlechtweg mit dem bloßen Zugleichsein verschiedener Empfindungen; das Ich war ihr ein Bündel von Vorstellungen und Gefühlen, weiter nichts. Kein Zweifel, daß damit den Tatsachen mehr oder minder große Gewalt angetan wurde.

In einem lebhaften Gefühl für diese Gewalttätigkeiten an den seelischen Einheiten und in der Reaktion gegen sie wurzelt die Polemik DILTHEYs; sie ist somit in ihrem allgemeinen Charakter eine durchaus berechtigte Regung. Freilich eine etwas verspätete Regung, wenn man den gegenwärtigen Stand der Psychologie in Betracht zieht. Denn wer unter denen, die sich eingehender mit psychologischen Dingen befassen, sollte sich wohl über jene Mängel der Assoziationspsychologie noch im unklaren befinden? Sieht man von der Revolution ab, die durch die Einführung von Experiment und Messung begonnen hat und die ihre tiefergreifenden Folgen erst allmählich entfalten kann, so besteht ja doch die Entwicklung der Psychologie in den letzten 40 - 50 Jahren wesentlich in der Arbeit an der Beseitigung jener Mängel. Im Eintreten für die eben erwähnten Einheiten niederster Ordnung besteht das Wesen der verschiedenen nativistischen Theorien. Solche Dinge, zeigen sie, wie räumliches Ausgedehntsein, zeitliches Dauern, Bewegung, Verschiedenheit, Zahl, sind nicht assoziative Aggregate, noch eine Art chemischer Verbindungen, sondern eigenartige, in ihrer primitivsten Gestalt ganz ursprüngliche seelische Inhalte, die freilich mehrere andere Inhalte in sich befassen und vereinigen können, aber deshalb nicht einfach aus diesen zusammengesetzt sind. Die energische Hervorhebung jener umfassendsten seelischen Einheit, der Einheit des Zwecks, bestehend in fundamentalen Wollungen, ist ein Hauptgedanke SCHOPENHAUERs, der für die Psychologie von erheblicher Bedeutung geworden ist. Derselbe Gedanke, in biologischem Gewand, erscheint bei HERBERT SPENCER; neuerdings bildet er innerhalb mancher unhaltbarer Einzelausführungen den gesunden und echten Kern der WUNDTschen Apperzeptionslehre. Die sozusagen mittleren Einheiten aber, die Einheit des Ichs, die Einheit des Bewußtseins, sind zu keiner Zeit von der Bündeltheorie der Assoziationspsychologen ganz verdunkelt worden, da man ihrer zu den bekannten Folgerungen auf wahrhaft substantielle und einfache Seelen immer bedurfte.

Man wird sagen, daß diese Bewegung zur besseren Würdigung der psychischen Einheiten innerhalb des sonstigen Rahmens der Assoziationspsychologie noch keineswegs abgeschlossen sei. Das ist sie freilich nicht. Der eine neigt stärker zu nativistischen, der andere stärker zu empiristischen Anschauungen; es kann sogar bei ein und demselben Forscher das eine in gewisser Hinsicht und das andere in anderer Hinsicht der Fall sein. Bei WUNDT z. B. fristet neben dem Apperzeptionsprozeß, der da keineswegs ein Resultat von Assoziationen sein soll, sondern in der letzten Anlage des Bewußtseins seine Wurzeln hat, noch die den Anschauungen THOMAS BROWNs und der beiden MILL entstammende Kategorie der chemischen Verbindung ein einsames Dasein. Aber nicht abgeschlossen ist doch etwas anderes, als noch nicht begonnen. Und bei DILTHEY sieht es aus, als ob eine solche Arbeit noch gar nicht begonnen hätte, oder doch höchstens in allerjüngster Zeit. SIGWART und JAMES, von denen er selbst in der Tat vielfach abhängt, nennt er neben sich als Verfechter ähnlicher Anschauungen. Aber im ganzen muß der Fernerstehende den Eindruck gewinnen, als ob es sich hier nicht um längst bekannte und erwogene Dinge, sondern um ganz neue Einsichten und Aufklärungen handelte, durch die nun mit einem Mal eine totale Umwandlung der Psychologie bedingt würde. Das ist der erste Vorwurf, den ich der Darstellung DILTHEYs machen muß: von der Arbeit, die in der Psychologie  eben in der Richtung, auf die er selbst hinaus will,  seit lange geschieht, nimmt er keine Notiz; er zeichnet daher von der Psychologie der Gegenwart, der er die Wege weisen will, ein durchaus inadäquates Bild.


III.

Von größerer Bedeutung ist jedoch ein zweiter Punkt. Ebensowenig, wie von der erklärenden Psychologie der Gegenwart, liefert DILTHEY von der Vergangenheit  eine ihrer Wirklichkeit zu irgendeiner Zeit angemessene Darstellung.  Er nennt als ihre Vertreter, wie billig, eine größere Anzahl von Männern, Deutsche, Engländer, Franzosen. Man sollte daher erwarten, daß er in der Charakteristik, die er vom Wollen dieser Männer gibt, ihnen allen einigermaßen gleichmäßig gerecht würde; daß er also entweder nur die allen gemeinsamen Züge ihres Tuns berücksichtigte oder aber, wenn er einmal die besonderen Eigentümlichkeiten eines einzelnen verwertete, dann auch die prinzipiellen Abweichungen der anderen je nach dem Maß ihrer Bedeutung würdigte und danach die einen so, die anderen anders beurteilte. Indessen geschieht es keineswegs, sondern, indem durchgehend von  "der"  erklärenden Psychologie als einer im ganzen gleichartigen Erscheinung die Rede ist, werden zu ihrer näheren Charakterisierung Merkmale benutzt,  die großenteils nur auf einen einzigen jener Vertreter einigermaßen passen,  nämlich auf HERBART. Auf die zu  jeder Zeit daneben existierende  Assoziationspsychologie im engeren Sinne fällt dadurch ein ganz schiefes Licht. Denn da nach der ganzen Haltung der Darstellung die gegebene Charakterisierung auf sie mitbezogen werden muß, scheinen ihr Eigentümlichkeiten zuzukommen, die sie gar nicht hat, während anderes, was für sie sehr wichtig ist, ungebührlich zurücktritt. Nun hat HERBART innerhalb Deutschlands gewiß seine Bedeutung gehabt. Aber seine metaphysischen Spitzfindigkeiten, seine unfundierten Fiktionen, seine Mythologeme haben ihm das Ausland stets verschlossen. Die englische Assoziationspsychologie dagegen ist international geworden. Außerdem: wenn man die lebendige psychologische  Forschung der Gegenwart im großen und weiten  überblickt, so wird man finden, daß sie niemandem geistig ferner gerückt ist, als eben HERBART. Von allen seinen  spezifischen  Eigentümlichkeiten will sie nichts mehr wissen; sofern er noch lebt, lebt er, weil er in mancher Hinsicht allerdings dasselbe will, wie die Assoziationspsychologen und sich in anderer so hat umformen lassen, daß er jenen angegliedert werden kann. Aus der Vergangenheit der Psychologie gerade HERBART herauszugreifen, um etwas von aktueller Bedeutung zu sagen, erscheint somit im ganzen der Sache wenig angemessen. Geschieht es aber einmal, so muß jedenfalls dafür gesorgt sein, daß die wesentlich nur auf HERBART passenden Züge des Bildes auch nur auf ihn bezogen werden können. Sonst wird die Darstellung für den minder Unterrichteten irreleitend und die an sie geknüpfte Kritik unbillig. Beides muß ich von der DILTHEYschen Arbeit behaupten.

Zum Beleg führe ich dreierlei an.

Überall, wo DILTHEY die erklärende Psychologie näher charakterisiert, nennt er ganz allgemein als wesentliches Merkmal, daß sie das Seelenleben aus einer  "begrenzten Zahl von Elementen"  ableiten wolle. Ich weiß nicht, wer von den sämtlichen Assoziationspsychologen sich in so unverständiger Weise die Hände gebundenn haben sollte. Sie haben die gegebene Wirklichkeit des Seelenlebens auf die letzten in ihr unterscheidbaren Gebilde und die einfachsten darin waltenden Prozesse zurückführen wollen, aber ob die Zahl dieser Elemente begrenzt oder unbegrenzt, groß oder klein sein müsse, darüber haben sie sich keine Vorschriften gemacht. Darüber haben sie die Tatsachen entscheiden lassen und sich dem in ihnen liegenden Zwänge prinzipiell unterworfen: möglichste Reduktion, aber "without doing violence to facts", wie der jüngere MILL ausdrücklich sagt. Sie sind verfahren, wie wenn sie die DILTHEYsche Abhandlung gelesen hätten, denn auch diese gebietet: "Man gehe in dieser Zergliederung soweit als möglich." Bei jener Betrachtung der Tatsachen haben sie nun freilich gefunden, daß man im ganzen gar nicht so außerordentlich viele letzte Elemente und letzte Prozesse anzusetzen brauche, wie man nach dem unermeßlichen Reichtum des entwickelten Seelenlebens vielleicht voraussetzen sollte. Sie sind darüber sehr glücklich gewesen, wie sich jede Wissenschaft, auch jede Geisteswissenschaft freut, wenn ihr eine Reduktion der Prinzipien gelingt. Aber eine besondere Ängstlichkeit um eine Begrenzung der Zahl dieser Prinzipien zeigen sie nicht. Stellenweise haben sie sie gegen die Tradition ganz beträchtlich vermehrt; so in der Zerschlagung des großen Sammelgefäßes des fünften Sinnes, aus dem sie eine Menge von Elementen in ihrem Sinne, wie Druckempfindungen, Temperaturempfindungen, Muskelempfindungen und zahlreiche Arten von Organempfindungen herausgezogen haben. Und man wird behaupten dürfen: wenn der Zwang der Tatsachen dazu geführt haben sollte, zehnmal oder hundertmal soviel letzte Elemente des Seelenlebens anzusetzen, als ihnen nun wirklich erforderlich schien, so wäre an ihrer Wissenschaft  prinzipiell  nichts geändert worden, nur hätte sich die Durchführung ihrer Idee verwickelter und schwieriger gestaltet.

Allgemein ausgedrückt, besteht das Schiefe und Irreleitende der DILTHEYschen Angabe darin, daß in eine Charakteristik,  die in allem übrigen die Intention der Leute betrifft,  ein Zug aufgenommen wird, der mit ihren Intentionen nichts zu tun hat, sondern einen rein äußerlichen Effekt ihres Wollens bildet und daß dagegen der durchaus richtige Gedanke, dessen Durchführung eben zu jenem Effekt führte, keine Berücksichtigung findet. Rückt man die Sache zurecht, so verschwindet sogleich ein Stück der DILTHEYschen Kritik. DILTHEY beklagt (a. a. O. Seite 166 und 167), daß die erklärende Psychologie, natürliche eben wegen der begrenzten Zahl ihrer Elemente, nicht dem ganzen Umfang des Seelenlebens gerecht geworden sei, daß sie Tatsachen außer acht gelassen habe, "deren Härte bisher keine überzeugende Zergliederung aufzulösen vermocht habe." Unter anderen Übelständen soll auch diesem durch die Ausbildung seiner beschreibenden Psychologie abgeholfen werden. Die Antwort ist einfach. Sowie solche Tatsachen mit genügender Sicherheit aufgezeigt werden, sowie der Beweis geliefert wird, daß man sie bisher irrtümlich übersehen oder irrtümlich für ableitbar gehalten habe, gehören sie nach der eigenen Idee der Assoziationspsychologen zu ihren Elementen oder Grundtatsachen. Einer erst auszubildenden Wissenschaft für sie bedarf es nicht, die Wissenschaft besteht; und was die neue Wissenschaft - nach DILTHEY - hinsichtlich dieser Tatsachen wollen soll, eben das will die alte. Auf irgendeine Zahl ihrer Prinzipien ist sie in keiner Weise festgenagelt. Was die nativistischen Theorien hinsichtlich der Raum- und Zeitanschauung, hinsichtlich Bewegung, Ganzheit usw. behaupten, findet zwanglos in ihrem Rahmen Platz. Daß es Psychologen geben könnte, die, wie DILTHEY, auch den Charakter von Notwendigkeit in gewissen Sätzen und im Umkreis unserer Willenshandlungen das Sollen oder die absolut im Bewußtsein auftretenden Normen" für irreduzible Dinge halten, ist mir äußerst zweifelhaft, aber, selbst wenn es wäre, prinzipiell erwüchsen der erklärenden Psychologie daraus keinerlei Schwierigkeiten.

Eine andere Verzeichnung ihres Bildes erblicke ich in Folgendem. Woher entnahmen die erklärende Psychologen, ihrer Intention nach, die Prinzipien, mit deren Hilfe sie dann das übrige Seelenleben zu begreifen suchten? Die DILTHEYschen Charakterisierungen sagen darüber mehrfach nichts. An anderen Stellen lassen sie jene Elemente auf rein hypothetischen Annahmen oder auch auf deduktiven Ableitungen beruhen. "Die beschreibende und zergliedernde Psychologie endet mit Hypothesen, während die erklärende mit ihnen beginnt." (Seite 37). "So treten von neuem in die erklärende Psychologie deduktiv bestimmte Erklärungselemente ein." (Seite 23) Wieder an zwei anderen Stellen (Seite 20 und 21) steht, wie ich ausdrücklich hervorhebe, das hinsichtlich der Assoziationspsychologen Richtige, leider nur etwas beiläufig. Aber es ziemt sich, daß dieses Richtige nicht gelegentlich einmal, sondern recht an erster Stelle gesagt werde, denn es charakterisiert die Leute ganz ebensosehr, wie ihre Tendenz, zu erklären und zu begreifen. Sie gewannen ihre Prinzipien aus der Beobachtung der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, indem sie einerseits analysierend zu den letzten unterscheidbaren Elementen und andererseits induzierend zu allgemeinen Regeln ihres Zusammenhangs zu gelangen suchten. Mit anderen Worten, sie verfuhrn zunächst genau so, wie es DILTHEY für seine in Gegensatz gegen sie gesetzte beschreibende Psychologie fordert; sie übten Beobachtung, Analyse, Induktion.

"Analysis of the Phenomena of the Human Mind"  heißt die Psychologie des älteren MILL, und der Verfasser wird doch auf den Titel wohl gesetzt haben, was ihm als wesentlich an seiner Arbeit erschien. Sein unmittelbarer Vorgänger, THOMAS BROWN, äußert sich: "The science of mind is in its most important respects a science of analysis or of a process which I have said to be virtually the same as analysis: and it is only as it is in this virtual sense analytical that any discovery, at least any important discovery, can be expected to be made in it." Den erklärenden Teilen der SPENCERschen Psychologie geht ein Abschnitt voraus: The inductions of Psychology. Er ist nur kurz im Vergleich zum Umfang des ganzen Werkes, aber nicht, weil der Autor etwa seine sachliche Bedeutung geringschätzte, sonder weil er hier, für seine gegenwärtigen Zwecke, einer größeren Ausführlichkeit nicht bedarf. Er will die fernere Tragweite der  durch Beobachtung und Verallgemeinerung gewonnenen  Prinzipien nach einer gewissen Richtung hin dartun; dazu genügt es, wenn er das Ergebnis seiner Analysen und Induktionen nur kurz vorlegt. Mit den biologischen Gesichtspunkten, von denen er sich leiten läßt, verhält es sich ebenso. Vielleicht sind die zugrunde liegenden Beobachtungen vielfach irrig, die Generalisationen voreilig, vielleicht gibt auch die weitere Verwendung der Prinzipien zu Bedenken Anlaß; darum handelt es sich zunächst nicht, sondern um die leitenden Gedanken der Methode. Diese aber stimmen überein mit den von DILTHEY als richtig behaupteten. Einzig HERBART ist es mit seinen nächsten Anhängern, zu dem sich DILTHEY in einem wirklichen und prinzipiellen Gegensatz befindet. Hier haben wir, zum Teil wenigstens, hypothetische Fiktionen der Elemente und deduktive Ableitungen aus metaphysischen Prämissen, aber eben nur hier.

Soweit die von DILTHEY unter erklärender Psychologie immer mitverstandene Assoziationspsychologie in Frage kommt, gelangen wir also hier zum selben Ergebnis, wie vorhin. Gewisse, tatsächlich vorhandene Mängel der älteren Psychologie führt DILTHEY zurück auf Vorurteile und irrige Methode. Um ihnen abzuhelfen, verlangt er etwas bisher angeblich nur Angedeutetes, aber noch nicht Ausgeführtes, eine Art Reform der Wissenschaft. Allein was er nun selbst als Inhalt und Methode dieser auszubildenden Wissenschaft angibt, gehört durchaus in den Rahmen der getadelten, nach den eigenen Ideen ihrer Vertreter, hinein und bildet durchaus die Prinzipien ihres eigenen Verfahrens. Sie wollen weiterhin noch mehr, als DILTHEY zuzulassen geneigt ist, davon wird sogleich die Rede sein, zunächst aber wollen sie ebendasselbe wie er. Sie haben bei der Durchführung dieses ihres Wollens in manchen Stücken geirrt, das wurde ja von vornherein zugestanden. Aber nicht, weil sie sich in methodologischer Hinsicht gröblich in der Irre befanden, wie es DILTHEY darstellt, sondern weil der Besitz richtiger allgemeinster Gesichtspunkte und die Kenntnis der richtigen allgemeinen Verfahrensweisen hier so wenig wie anderswo schon die Erlangung wahrer Resultate verbürgt. Und zur Korrektur ihrer Irrtümer bedarf es nicht prinzipieller Reformen oder allgemeiner Reformpläne, sondern der einfachen Fortarbeit auf dem gesunden Boden, auf dem sie stehen.

Die dritte Ausstellung, die ich zu machen habe, betrifft den Kausalbegriff, den DILTHEY der erklärenden Psychologie zuschreibt. Zu den Konstruktionselementen, mit denen er sie operieren läßt, gehöft auch "der Kausalzusammenhang der seelischen Vorgänge nach dem Prinhzip: causa aequat effectum" [Ursache gleich Wirkung - wp]. (Seite 20) Wie das zu verstehen ist, geht aus zwei weiteren Stellen hervor. An der einen (Seite 57) bemerkt er, das Naturerkennen sei eine Wissenschaft geworden, "als es im Gebiet der Bewegungsvorgänge Gleichungen zwischen Ursachen und Effekten herstellte". Im weiteren Zusammenhang ist dann noch mehrfach von Kausal gleichungen  die Rede. An der anderen Stelle (Seite 75) folgert er als Resultat seiner eigenen Darlegung des seelischen Zusammenhangs: die Glieder seien darin so miteinander verbunden, "daß nicht eines aus dem anderen nach dem Gesetz der in der äußeren Natur herrschenden Kausalität, nämlich dem Gesetz der quantitativen und qualitativen Gleichheit von Ursache und Wirkung, folgt. In Vorstellungen liegt kein zureichender Grund, überzugehen in Gefühle; ... in den Gefühlen liegt kein zureichender Grund, sich umzusetzen in Willensprozesse". Offenbar ist die Meinung DILTHEYs, die erklärenden Psychologen betrachteten Dinge, die sie als Ursachen und Wirkungen zueinander in Beziehung setzten, als etwas  quantitativ und qualitativ Gleiches,  sie glaubten, zeigen zu können, wie der Effekt  seiner Beschaffenheit nach  eigentlich gar nichts anderes sei, als die Ursache und wie er, in der gleichen Einheit ausgemessen, auch  der Größe nach  vollkommen mit dieser übereinstimme, sie fänden somit im Hervorghen eines Effekts aus seinen Ursachen nichts weiter Verwunderliches, sondern einen ganz verständlichen und durchsichtigen Vorgang. Aus der Physik ist diese Vorstellung jedermann geläufig; es ist die Hypothese einer mechanischen Konstruierbarkeit aller Vorgänge der Außenwelt. Der gewöhnliche Mensch sieht Wärme sich umsetzen in die Bewegung eines Kolbens; ein qualitativ eigenartiges Agens verwandelt, metamorphosiert sich vor seinen Augen in ein qualitativ ganz andersartiges. Er kann die beiden Agentien in beliebigen Einheiten, die je ihrer Eigenart entsprechen, numerisch bestimmen; vielleicht findet er so die Äquivalenz der Werte, die die Umsetzungen beherrscht. Aber da die beiden Glieder des Vorgangs für ihn nichts Vergleichbares haben, so besteht auch zwischen diesen Äquivalenzzahlen kein  verständlicher  Zusammenhang. Nun belehrt ihn der Physiker. Jene Wärme besteht in Wahrheit aus nichts als Bewegungen kleinster Teilchen, die nur aus den und den Gründen unsichtbar sind. Du hast also nicht mit einer qualitativen Metamorphose zu tun, sondern nur mit einem Übergang einer gewissen Anordnung bewegter Teilchen in eine andere Anordnung, nicht mit einem Rätsel, sondern mit einer relative verständlichen Sache. Und wenn du nun ferner das beiderseits der Qualität nach Gleiche in der gleichen Einheit ausmißt und seinen Energiegehalt bestimmst, so findest du, daß jene Äquivalenzzahlen der Umsetzung einander völlig gleich werden.

Eine derartige Vorstellung vom Verhältnis der Ursachen zu den Wirkungen soll also nach DILTHEY auch die erklärenden Psychologen beherrschen. Vielleicht ist es in der Tat bei HERBART der Fall. Nicht explizit, aber implizit kann man solche Gedanken seiner Statik und Mechanik des Geistes zugrunde liegend finden. Aber abgesehen von diesem rein fiktiven Komplex von Formeln und Gleichungen - der, beiläufig bemerkt, längst tot und begraben ist, gegen den sich selbst die Herbartianer überwiegend ablehnend verhalten haben - abgesehen von dieser einzigen Ausnahme, frage ich mich vergeblich, auf wen die DILTHEYsche Behauptung passen könnte; hinsichtlich der Assoziationspsychologen steht sie vollkommen in der Luft. Der Gedankengang, aus dem sie entstand, ist vermutlich dieser: die Wissenschaftlichkeit der Physik beruth auf der Vorstellung der mehrerwähnten quantitativen und qualitativen Gleichheit von Ursachen und Wirkungen, die erklärende Psychologie folgt einem physikalischen Ideal von Wissenschaftlichkeit, also muß sie auch diese Vorstellung haben. Gleich der erste Satz dieser Argumentation ist unrichtig. Die Naturforscher vertreten, vielleicht in ihrer Mehrzahl, die Hypothese einer mechanischen Erklärbarkeit der Außenwelt, aber die Wissenschaftlichkeit ihres Tuns fängt nicht erst mit dieser Vorstellung an, sie ist ganz unabhängig davon. Man erinnere sich der Schriften ERNST MACHs, der nicht müde wird, diesen Gedanken auszuführen. Mechanische Erklärung der Dinge ist kein  notwendiges  Bestandstück einer echten und wahrhaft wissenschaftlichen Naturforschung, sondern, wenn sie gelingt, ist sie ein Opus superogationis [mehr als seine Pflicht tun - wp] sozusagen. Aber wie dem für die Physik auch sein möge, die Psychologen erheben auf eine solche überverdienstliche Leistung keinerlei Anspruch. Es genügt, an das Nächstliegende, das Assoziationsgesetz, zu erinnern, um es einzusehen. Das Zusammensein zweier Empfindungen betrachten sie als Ursache davon, daß späterhin eine Wiedererzeugung der einen Empfindung eine Vorstellung der anderen herbeiführt. Aber von einem Enthaltensein der Wirkung in der Ursache und gar von einer quantitativen Gleichheit der beiden wird man nirgendwo etwas behauptet finden; ja, wie man den Vorgang auch auffassen möge, es ist kaum verständlich, was mit einer solchen Behauptung gemeint sein könnte. Vielleicht ergeben sich später einmal sachliche Handhaben, dergleichen Gedanken nachzugehen. Dann wird es Zeit sein, ihre Unterlagen und ihre Fruchtbarkeit kritisch zu beleuchten. Aber einstweilen muß es als unbillig bezeichnet werden, die Psychologie wegen des Mißlingens von etwas zu tadeln, was ihr nicht in den Sinn kommt, und ihr eine so triviale Sache als angeblich neue Einsicht vorzuhalten, wie daß in den Gefühlen für unser Wissen kein zureichender Grund liegt, sich in Willensprozesse umzusetzen.


IV.

Doch jetzt zum eigentlichen Kern der Argumentationen DILTHEYs. Herbartianer und Assoziationspsychologen stimmen jedenfalls darin überein, daß sie mit Hilfe der irgendwoher gewonnenen Prinzipien nun nocht etwas weiteres wollen. Das übrige Seelenleben, soweit es nicht ein Letztes und Ursprüngliches zu sein scheint, wollen sie womöglich als ein gesetzmäßig Zustandegekommenes und als ein gesetzmäßig Zusammenhängendes begreifen, sie wollen es erklären.

Weshalb sie das wollen, braucht hier nicht näher erörtert zu werden: um gewissen starken Bedürfnissen unseres Denkens, populär ausgedrückt, unserem Kausalitätsbedürfnis Befriedigung zu verschaffen. Und hiergegen wendet sich nun, wie wir sahen, DILTHEY. Die erklärende Psychologie verkennt die Eigenart des seelischen Tatbestandes. In diesem ist Zusammenhang, auch Kausalzusammenhang, das ursprünglich Gegebene, er braucht daher nicht erst durch Erklärungen hergestellt zu werden. Selbst die etwaigen Lücken des Gegebenen sind nicht durch Erklärungen und Konstruktionen, sondern auf andere Weise auszufüllen.

In diesen Lücken und ihrer Ausfüllung steckt der Kern der Frage; mit ihnen müssen wir uns daher etwas näher beschäftigen. In den allgemeinen Ausführungen der DILTHEYschen Arbeit sind sie zwar mehrfach erwähnt, wie ja auch unser Bericht erkennen ließ, allein im ganzen treten sie doch in den Hintergrund. Der Nachdruck liegt darauf, daß der Zusammenhang des Seelenlebens etwas Ursprüngliches sei, und es sieht aus, als ob mit Beschreibung und Analyse dieses  unmittelbar  Gegebenen die Aufgabe der Psychologie im wesentlichen zu lösen wäre. In den Proben spezieller Ausführung dagegen, die den Schluß der Arbeit bilden, verhält es sich nahezu umgekehrt. Beschreibung und Analyse des unmittelbar Gegebenen präludieren und die ganze Kraft des Autors nimmt sich dann zusammen in verschiedenen Versuchen, das nicht direkt Gegebene aufzuhellen. Beim Herantreten an ihre konkrete Behandlung erzwingt sich eben die Sache ihr Recht. Denn offenbar verhält es sich so: Zusammenhänge und Einheiten sind zwar innerhalb des psychischen Lebens mannigfach ursprünglich gegeben, und es ist von großer Wichtigkeit, sie, wie alle anderen letzten Daten des Bewußtseins, in ihren Eigentümlichkeiten richtig und deutlich zu erkennen. Aber die größten und wichtigsten Zusammenhänge, die wir aus bestimmten Gründen für das Seelenleben als wirksam behaupten, liegen uns nicht direkt als letzte Tatsachen vor, sondern werden von uns erst hergestellt.

In welchem Zusammenhang stand der plötzlich in mir auftauchende Gedanke, heute nachmittag eine Ruderpartie zu unternehmen, mit andern Gedanken, Wahrnehmungen usw.? Warum kam mir gerade ein  solcher  Gedanke? warum gerade jetzt? Das kann ich bei gewissenhaftester Analyse meiner Bewußtseinslage kaum angeben, gleichwohl bin ich vollkommen überzeugt, daß jenes Wollen nicht aus nichts, sondern aus einem fest bestimmten  Zusammenhang  von Ursachen entsprang. Der  Zusammenhang der Entwicklung  des geistigen Lebens von der Kindheit zum Mannesalter gehört eben hierher, desgleichen der weiter oben schon berührte  Zusammenhang eines einheitlichen Zwecks,  der das gesamte geistige Leben umfassend beherrscht. DILTHEY beschäftigt sich, wie wir sahen in mehreren Kapiteln seiner Abhandlung mit diesen drei großen Zusammenhängen; es fragt sich, wie gelangt er dazu, von ihnen, die direkt in keiner Weise gegeben sind, also nicht einfach beschrieben und analysiert werden können, gleichwohl etwas auszusagen.

Dafür ist die folgende Stelle charakteristisch (Seite 66 und 67). Es handelt sich darum, den soeben genannten Zusammenhang des Zweckes im Seelenleben aufzuklären, die Einheit, die alles Denken und Wollen im Dienst der Erlangung größter Befriedigung zusammenschließt. "Eine Aufgabe von außerordentlicher Schwierigkeit. Denn eben das, was zwischen diesen beiden Gliedern die Verbindung herstellt und ihren Lebenswert erst aufschließt, bildet den dunkelsten Teil der ganzen Psychologie ... Das Leben selbst läßt uns erst allmählich einigermaßen erraten, von welchen Kräften es unaufhaltsam vorwärts getrieben wird." Dann beginnt die Lösung der Aufgabe: "Durch alle Formen des tierischen Daseins geht ein Verhältnis zwischen Reiz und Bewegung. In diesem vollzieht sich die Anpassung der tierischen Lebenseinheit an ihre Umgebung. Ich sehe eine Eidechse die sonnenbestrahlte Mauer entlang gleiten und nun an der am stärksten bestrahlten Stelle die Gliederchen strecken; ein Laut von mir: und sie ist verschwunden. Durch die Eindrücke von Licht und Wärme wurde dieses Spiel in ihr angeregt. Durch die Wahrnehmung, welche eine Gefahr anzeigt, wird es unterbrochen. Mit außerordentlicher Geschwindigkeit reagiert hier auf die Wahrnehmung der Schutztrieb des waffenlosen Geschöpfs durch zweckmäßig, von einem Reflexmechanismus unterstützte Bewegungen. Eindruck, Reaktion und Reflexmechanismus sind also zweckmäßig verbunden." Diese Verbindung aber, wird dann weiter geschlossen, ist nur möglich, wenn die durch äußere Reize geweckten Wahrnehmungen zugleich als etwas seelisch Wertvolles empfunden werden, wie es in den mit ihnen verbundenen Gefühlen geschieht. Es ist nun nämlich jedesmal die Erreichung eines solchen Wertes, die Erlangung von Lust, "was das Spiel unserer Wahrnehmungen und Gedanken mit unseren willkürlichen Handlungen zu  einem  Strukturzusammenhang verbindet".

Was geschieht in diesem Verfahren? Die beschreibende Psychologie vermutet aus gewissen Gründen irgendwo einen Zusammenhang. Direkt gegeben ist dieser nicht; er läßt sich nur einigermaßen  "erraten".  Um richtig zu raten, orientiert sich die beschreibende Psychologie - am tierischen Dasein, an einer Eidechse. Natürlich ist das, was sie hier zu sehen bekommt, direkt nichts Psychisches; die am Tier zu beobachtenden Tatsachen sind Kombinationen von Bewegungen, weiter nichts. Indessen diese Bewegungen lassen sich interpretieren. Ich habe an anderen Stellen, an mir selbst nämlich, die Erfahrung gemacht, daß sich ähnliche Bewegungen, wie sie jetzt die Eidechse zeigt, mit gewissen Eindrücken, Gefühlen, Strebungen verbanden. Diese anderswo wirklich erlebten Realitäten trage ich jetzt gedanklich in die Eidechse hinein, ich vermute, daß es sich bei ihr ähnlich verhält. Ich vollziehe diese Übertragung nicht etwa beliebig und willkürlich, so daß ich sie ebensogut auch unterlassen könnte, sondern sie drängt sich mir auf, ich kann mich ihr kaum entziehen; immerhin läßt sich ihre Richtigkeit nicht durch unmittelbare Erfahrung und mit absoluter Sicherheit konstatieren, es bleibt nur eine naheliegende Vermutung. Indem ich nun aber so verfahre, gewinnt das in die Eidechse hineingedachte geistige Leben einen Zusammenhang. Denn jene der unmittelbaren Beobachtung zugänglichen äußeren Bewegungen zeigen bei genauerem Zusehen augenscheinlich das, was ich,  wieder aus gewissen Erfahrungen an mir selbst,  als zweckmäßig kenne, sie sind sichtlich in ihrer Gesamtheit der Verwirklichung eines bestimmten Resultates angepaßt. Was aber von ihnen gilt, überträgt sich natürlich sogleich auch auf die geistigen Realitäten, die ich mit ihnen verbunden dachte; auch sie müssen einem einheitlichen Zweck dienen. Geistige Zweckmäßigkeit aber, das weiß ich abermals aus meinen unmittelbaren Erlebnissen, besteht in der Erlangung von Lust im allgemeinsten Sinne. Und so habe ich mithin den gesuchten Zusammenhang zwischen Eindrücken und Willensakten aufgefunden: sie stehen insgesamt im Dienst eines einheitlichen Zwecks, der da ist Verwirklichung größtmöglicher Befriedigungn. Denn das zunächst an der Eidechse Gefundene kann natürlich nicht auf diese beschränkt bleiben; es überträgt sich ohne weiteres auf alle Seelen, unter anderen auch auf meine eigene Seele. Ein solcher direkt nicht wahrnehmbarer tieferer Zusammenhang aller seelischen Betätigungen, so werde ich anzunehmen gedräöngt, besteht auch hier, ganz ähnlich, wie ich es dort wahrscheinlich fand.

Durch eine Anzahl mehr oder minder vermittelter und mehr oder minder naheliegender Übertragungen also von Inhalten und Beziehungen, die an gewissen Stellen des Seelenlebens unmittelbar und wahrhaft erlebt werden, an andere Stellen, wo sie nicht erlebt werden, gelangt die beschreibende Psychologie dazu, jene wichtigen Lücken des Gegebenen auszufüllen. Und wie ist die Richtigkeit dieses Verfahrens zu beurteilen? Nicht das mindeste ist dagegen einzuwenden; es ist in bester Ordnung. So in der Tat muß man es anfangen, um die nicht gegebenen Zusammenhänge aufzuklären. Auch der Zusammenhang eines Gedankens mit seinen unbewußt bleibenden nächsten Ursachen, namentlich auch die Entwicklung des Seelenlebens, kann nur in solcher Weise durch hineindeutende Übertragung des anderswo Erlebten erraten werden.

Ich frage nur mit großer Verwunderung, worin unterscheidet sich denn dieses Verfahren im Prinzip von dem der erklärenden Psychologen, oder doch, um HERBART wieder aus dem Spiel zu lassen, von dem der Assoziationspsychologen? Eben das wollen sie ja auch, und ebenso verfahren sie daher auch. Darin besteht doch das ihnen eigentümliche Erklären seinem Wesen nach, in der Ergänzung von Erfahrungslücken mit Hilfe und nach Analogie des anderswo der gegebenen Wirklichkeit Entnommenen, zugleich mit dem Nebengedanken, nur durch die bekannten Eigenschaften des Hinzuergänzten die sonst rätselhaften Eigenschaften des lückenhaft Gegebenen verständlich zu machen. Ob sie das Tiefensehen "erklären", oder das allmähliche Zustandekommen zweckmäßigen Wollens, oder das Sprechenlernen der Kinder, überall ist das die allgemeinste Charakterstik ihres Tuns. Indem sie sich an solchen Erklärungen versuchen, verfahren sie freilich so, wie Physik und Chemie, wie DILTHEY hervorhebt. Aber doch nicht nur wie diese, sondern so, wie überhaupt jede Wissenschaft außer der Mathematik, auch so, wie jedes Geisteswissenschaft. Wenn der Historiker eine tatsächlich angeordnete Maßregel NAPOLEONs durch Motive erklärt, von denen in seinen Quellen nichts berichtet wird, die aber nach seinen sonstigen Erfahrungen bei Königen und Feldherren vorzukommen pflegen, tut er prinzipiell ebendasselbe, was der Psychologe anstrebt.

In seinen allgemeinen Ausführungen verneint DILTHEY die Möglichkeit eines solchen Tuns für die Psychologie (Seite 56): "Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selbst kommen." ... "Will es (nämlich das Denken) hinter dieser letzten uns gegebenen Wirklichkeit einen rationalen Zusammenhang konstruieren, so kann dieser nur aus den Teilinhalten zusammengesetzt sein, die in dieser Wirklichkeit selber vorkommen." Eine solche Konstruktion jedoch, wird weiterhin behauptet, bleibt dann der lebendigen Wirklichkeit des Seelenlebens fern. Indem aber derselbe DILTHEY eine konkrete Darstellung der Dinge zu liefern unternimmt, tut er der Sache nach genau das, was er vorher bekämpft hatte: er führt das Bewußtsein unbedenklich hinter sich selbst zurück und konstruiert aus Teilinhalten, die der Wirklichkeit entnommen sind, einen Zusammenhang, der zugestandenermaßen als solcher in dieser Wirklichkeit nicht vorkommt, der nur "erraten" werden kann. Natürlich fehlt ihm auch jener eben erwähnte Nebengedanke nicht, durch das Hinzukonstruierte das unmittelbar Gegebene faßbar zu machen, durch die Einsicht z. B. in den Strukturzusammenhang das sonstige Verständnis des Seelenlebens zu fördern, und somit verfährt er der Sache nach ganz wie die erklärenden Assoziationspsychologen.

Daß sich dieses Verhältnis seinem Bewußtsein entzieht und er etwas völlig anderes zu tun glaubt, als jene, liegt, soviel ich sehe, an zwei Umständen. Einmal daran, daß die, wie oben erwähnt, im Grund nur auf HERBART einigermaßen passende Polemik ohne weiteres verallgemeinert ist. DILTHEY ist sich bewußt, anders zu verfahren, als jener. Er entnimmt die Teilinhalte, mit denen er einen gesuchten Zusammenhang herstellt, die Erklärungsmittel also anders ausgedrückt, nicht metaphysischen Postulaten und fiktiven Hypothesen, sondern der unmittelbaren Erfahrung. Dieser Gegensatz verallgemeinert sich ihm, und er glaubt, anders zu verfahren, als die erklärende Psychologie überhaupt, während zu den Assoziationspsychologen doch gar kein Gegensatz besteht. Dazu aber kommt ein anderer Irrtum: DILTHEY hält die der Wirklichkeit entnommenen Teilinhalte und den daraus durch hypothetische Übertragungen gewonnenen Zusammenhang (die Erklärungsmittel und den Erklärungsgegenstand) nicht scharf genug auseinander. Wo er an seine Ergänzungsprobleme herantritt, sagt er überall ausdrücklich, daß hier die unmittelbare Erfahrung, das direkte Erlebnis fehlee; wir hörten, wie eindringlich er die Schwierigkeiten schildert, den dunklen Zweckzusammenhang des Seelenlebens aufzuklären. Indem er nun seinerseits die Ergänzung gibt, betont er unablässig und mit Recht, daß alle hierbei verwandten Begriffe, Vorgänge usw. der lebendigen inneren Erfahrung entnommen seien. Dann aber springt er mit einem Mal, als ob das ein legitimes Ergebnis dieses eben Betonten wäre, zu der Behauptung, daß auch der aufgefundene Zusammenhang lebendige Erfahrung und nicht nur Vermutung sei, und indem er diese Behauptung nachher festhält, ist er überzeugt, in den Resultaten seiner Ergänzungen etwas ganz Andersartiges zu besitzen, als andere in den ihrigen. Sehr deutlich zeigt sich dieser Gang Seite 68. "Das ist nun für das Studium dieses seelischen Strukturzusammenhanges das Entscheidende: die Übergänge eines Zustandes in den anderen, das Erwirken, das vom einen zum andern führt,  fallen in die innere Erfahrung. Der Strukturzusammenhang wird erlebt."  ... "An solchen oder anderen konkreten Zusammenhängen werden wir einzelne Übergänge, einzelnes Erwirken inne, jetzt eine Verknüpfung, dann eine andere, diese inneren Erfahrungen wiederholen sich, bald diese, bald jene innere Verbindung wird im Erleben wiederholt, bis dann der ganz Strukturzusammenhang in unserem inneren Bewußtsein zu einer gesicherten Erfahrung geworden ist." Und vier Seiten später die erneute Fixierung des Resultates: "Und zwar wird diese Verbindung so ungleichartiger Vorgänge zu einer Einheit nicht durch Schlüsse festgestellt, sondern sie ist die lebendigste Erfahrung, deren wir überhaupt fähig sind." Offenbar besteht in diesem Gedankengang ein großer und unerlaubter Sprung. Die Übergänge eines Zustandes in den anderen und alle möglichen Einzelerlebnisse mögen in die innere Erfahrung fallen; der Strukturzusammenhang selbst wird  nicht  erlebt, er ist  nicht  lebendigste Erfahrung; DILTHEY selbst hat ja vorher zugestanden, daß er das Dunkelste der ganzen Psychologie sei. Vorstellungen und Wollungen, Lust und Unlust, Einheit, Zweckmäßigkeit, Wirksamkeit, das alles sind wahrhafte und wirkliche innere Erlebnisse. Aber daß nun das gesamte Vorstellen und Wollen dem einheitlichen Zweck der Bewirkung größter Lust dient, dieser eigenartige  Zusammenhang  jener Erlebnisse findet sich als solcher niemals in der inneren Wahrnehmung; er wird erraten, rückwärts erschlossen, hinzukonstruiert, oder wie man es nennen will. Wir haben die besten Gründe für die Richtigkeit des Rückschlusses im gegenwärtigen Fall, so daß er sich uns als durchaus zwingend darstellt. Darum ist es doch sehr notwendig, zwischen dem Zwang einer wohlbegründeten Annahme und dem Zwang einer unmittelbar erlebten Tatsache zu unterscheiden. Und DILTHEY liefert uns nun in seinen Ergänzungen des Gegebenen, trotz aller gegenteiligen Versicherungen, nicht unmittelbare und lebendige Erfahrungen, sondern Rückschlüsse und hinzugedachte Konstruktionen, kurz Erklärungen, ganz wie die übrigen Psychologen auch. Daran ist schlechterdings nichts zu ändern.

Begreiflich, daß die Gleichheit des Verfahrens auch mehrfach Gleichheit der Resultate mit sich führt. DILTHEY wird schwerlich der Meinung sein, daß die von ihm bloßgelegte "Struktur" des Seelenlebens den erklärenden Psychologen etwas irgendwie Neues sei. Vielleicht ist er in der Tat der Meinung, in einer anderen Ergänzung des Gegebenen von ihnen zu differieren, nämlich hinsichtlich der unbewußten Vorstellungen; aber der Sache nach wiederholt er auch hier nur, was den von ihm Angegriffenen überaus geläufig ist. Im großen Hypothesenverzeichnis der erklärenden Psychologie werden an letzter Stelle ihre Vermutungen getadelt über die Beziehungen zwischen dem Bewußtsein und dem erworbenen seelischen Zusammenhang. An einer späteren Stelle (Seite 41) erfahren wir aufs neue, daß jede Entscheidung darüber, ob das unbewußt Gewordene "psychisch, physisch oder psychophysisch sei", Hypothese ist, und daß mithin "von unbewußten Vorstellungen, von physiologischen Spuren ohne Äquivalente" "ganz abzusehen" ist. Wenige Seiten später dagegen (Seite 52) werden wir vermöge "sorgfältiger Analyse der einzelnen Willenshandlungen" viel positiver belehrt. "In jedem von den Kulturbeziehungen getragenen Bewußtsein" durchkreuzen einander "verschiedene Zweckzusammenhänge". Sie können niemals gleichzeitig im Bewußtsein sein. Jeder von ihnen braucht, um zu wirken, gar nicht im Bewußtsein zu sein. Aber sie sind nicht hinzugedachte fiktive Essenzen. Sie sind "psychische Wirklichkeiten". Also psychische Wirklichkeiten, die nicht im Bewußtsein sind, aber doch in diesem wirken! Ja, was ist denn eigentlich mit unbewußten Vorstellungen, von denen nach DILTHEY ganz abgesehen werden sollte, anderes gemeint? Das ist doch eben die Behauptung ihrer Vertreter, sofern sie nicht in die Physiologie abschweifen, daß dergleichen Dinge zur Ergänzung des Gegebenen und zu seinem Verständnis hinzugedacht werden müssen. Es besteht keine Spur von Unterschied zwischen ihnen und DILTHEY, nur das Wort fehlt bei diesem und dazu die Klarheit, daß er hinterher genau das behauptet, was er vorher angegriffen hat. Die verpönte Entscheidung aber, ob das Unbewußte psychisch oder physisch oder sonstwie zu denken sei, trifft DILTHEY selbst dahin, daß es  psychische  Realität habe.

Aber nun sind doch die Annahmen der erklärenden Psychologie unsichere Hypothesen, während die Ergänzungen DILTHEYs ganz sicher sein sollten. Das ist freilich seine Meinung, aber eine Meinung, die wieder durchaus in einer Selbsttäuschung befangen ist. Die DILTHEYschen Ergänzungen der Erfahrungslücken sind genau soviel und sowenig hypothetisch, wie die entsprechenden Annahmen der anderen Psychologen; auch in diesem wichtigen Punkt besteht nicht der mindeste Unterschied. Die Ausfüllung jener Lücken muß "erraten" werden, so sahen wir wiederholt. Aber wo geraten wird, kann auch falsch geraten werden; ein Privilegium des Richtigratens hat niemand. Man kann die gefundene Lösung vielleicht stützen durch empirische Verifikation ihrer Konsequenzen, dann wird sie unter Umständen sehr glaubhaft, aber die Sicherheit des unmittelbaren Erlebnisses erlangt sie niemals. Sie bleibt dauernd hypothetisch, jederzeit sind Beobachtungen möglich, die da lehren, daß es sich in Wahrheit ganz anders verhält. Von der besonderen Sicherheit also, die DILTHEY seinen Aufstellungen vindiziert, wolle man sich nicht gefangen nehmen lassen, sie ist ein Ausfluß der subjektiven Zuversicht, die auch sonst wohl die Menschen zu ihren eigenen Meinungen und deren Gründen zu haben pflegen; objektive Berechtigung hat sie nicht.

Seltsame Polemik somit, alles in allem genommen. Die Psychologie geht in die Irre, behauptet DILTHEY, denn sie liefert hypothetische Erklärungen und Konstruktionen des Zusammenhanges der psychischen Dinge hinter dem Gegebenen. Das entspricht nicht der Natur dieser Dinge, ist unnötig und unmöglich. An ihrer Stelle ist eine Psychologie auszubildungen, die beschreibt, zergliedert, verallgemeinert, Konstruktionen des Hinterwirklichen aber sorgfältig vermeidet. Allein auf jeder Seite dieses Gegensatzes ist ein Glied unbeachtet geblieben. Die erklärende Psychologie erklärt und konstruiert nicht nur etwa aus bloßen hypothetischen Annahmen heraus, sondern in der überwiegenden Mehrzahl ihrer Vertreter in der Vergangenheit und in der Gesamtheit ihrer selbständigen Vertreter in der Gegenwart bereitet sie sich die Mittel für ihre Erklärungen erst durch das sorgfältigste Studium des Gegebenen. Sie übt seit langem eben das Verfahren, das DILTHEY ihr als empfehlenswert vorhält, und zwar nicht etwa nur beiläufig und gelegentlich, sondern mit vollem Bewußtsein, daß es die Unterlage ihres ganzen Tuns bildet. Und die beschreibende Psychologie andererseits begnügt sich nicht mit dem Beschreiben, Zergliedern und Verallgemeinern des Gegebenen, sondern sie erkennt an, daß das Gegebene klaffend Lücken aufweist, deren Ausfüllung dringende Bedürfnisse des Denkens gebieten. Indem sie aber die Ausfüllung unternimmt, verfährt sie ganz wie die erklärende Psychologie: sie legt sich das Unerfahrbare zurecht mit Hilfe und nach Analogie des der Erfahrung Gebotenen, sie konstruiert hypothetische Zusammenhänge, die der unmittelbaren Erfahrung ganz entrückt sind. Fügt man auf jeder Seite des Gegensatzes das noch dahingehörige Glied hinzu, so resultiert beiderseits völlige Gleichheit: die einen tun und wollen, was der andere empfiehlt und tut, und -  die DILTHEYsche Polemik erweist sich als durchaus gegenstandslos.  Ein sachlicher Gegensatz hinsichtlich der Prinzipien des Verfahrens besteht gar nicht; nur der Schein eines Gegensatzes ist vorhanden. Und wodurch kommt es zu diesem Schein? Ich muß zu meinem Bedauern sagen, lediglich dadurch, daß sich der Autor über die Dinge nach beiden Seiten hin im Unklaren befindet, im Unklaren über das fremde Wollen und im Unklaren über das eigene Tun. (1)


V.

In den Prinzipien des Verfahrens, sagte ich vorhin, bestehe zwischen der erklärenden Psychologie und der Psychologie DILTHEYs keinerlei wirklicher, sondern nur ein scheinbarer Gegensatz. Damit ist geleugnet, daß in der Ausführung eine etwaige DILTHEYsche Psychologie in mancher Hinsicht ein anderes Gesicht zeigen würde, als die Mehrzahl anderer Psychologien. Namentlich in  einer  Beziehung würde ein Unterschied bestehen, durch den wir zugleich zum zweiten DILTHEYschen Gegengrund gegen die erklärende Psychologie hinübergeführt werden, zur Erörterung ihrer Unsicherheit.

Die DILTHEYschen Ergänzungen der Erfahrungslücken sind der Natur der Sache nach da, wo sie versucht werden, ganz ebenso hypothetisch, wie die Konstruktionen der Erklärungspsychologen. Allein zweifellos hat DILTHEY durchgängig die Tendenz, mit solchen Hypothesen zurückhaltender zu sein, als jene. Er will vorsichtiger sein, als sie, zunächst nur genau beschreiben, die verschiedenen Formen des Seins und Geschehens zu sondern bestrebt sein, "die möglichen Hypothesen jedoch recht bescheiden einfügen". So vertritt er zwar z. B. die Annahme unbewußter und doch wahrhaft geistiger Realitäten hinter dem Bewußtsein, aber ob für dieses unbewußt Geistige auch die Assoziationsgesetze uneingeschränkt gelten, oder ob es ein freies Aufsteigen von Vorstellungen ohne jede Vermittlung von Assoziationen gibt, will er nicht entscheiden (Seite 40). Er konstruiert die der direkten Erfahrung unzugängliche Entwicklung des Seelenlebens durch eine Kette hypothetischer Übertragungen, aber diese geistige Entwicklungen in einen Zusammenhang zu bringen mit der Entwicklung der organischen Welt, erscheint ihm gar zu problematisch (Seite 85). Namentlich hinsichtlich des großen Problems der Beziehungen zwischen geistigen und nervösen Vorgängen würde DILTHEY sich augenscheinlich einer bestimmten Stellungnahme enthalten. Der Theorie des sogenannten psychologischen Parallelismus hängt er offenbar nicht an; da aber die sonstigen Theorien über dieses Verhältnis für unsere gegenwärtige Einsicht noch hypothetischer sind, als jene, würde er sich ihnen wohl auch nicht anschließen. Die Unsicherheiten der erklärenden Psychologie bilden eben eins seiner Hauptargumente gegen sie, und die beschreibende Psychologie hat daher ihre Existenzberechtigung wesentlich durch die große Sicherheit ihrer Aufstellungen zu erweisen. Es fragt sich, inwiefern jener Angriff begründet ist, und inwiefern dieses Streben gelingt.

Daß die beschreibende Psychologie keineswegs ganz ohne Hypothesen ist, wurde mehrfach hervorgehoben. Abgesehen von denen, die DILTHEY ihr mit Bewußtsein als solche recht bescheiden einfügen will, besteht der Inhalt der drei Kapitel ihres allgemeinen Teils aus großen hypothetischen Konstruktionen. Die Resultate dieser Konstruktionen haben nichtsdestoweniger für ihn beinahe die Sicherheit unmittelbarer Erfahrungserlebnisse, und damit ist ohne weiteres erwiesen, daß seine allgemeine Klage über die Unsicherheit psychologischer Hypothesen auf rhetorischer Übertreibung beruth. Manche von ihnen lassen sich plausibel machen und sind so gut in ihren Konsequenzen verifizierbar, wie gute naturwissenschaftliche Hypothesen auch. Und daß die Möglichkeit exakter Verifikationen durch Experiment und Messung eine ungeheure Steigerung erfahren hat, bedarf für den Unbefangenen keines Wortes.

Indessen bleibt zahlreiches Unsicheres, für absehbare Zeit nicht zu Entscheidendes, zweifellos. Und indem nun die beschreibende Psychologie sich in vielen schwierigen Fragen einer Antwort enthält, wird sie ebensoviele Unsicherheiten los, gewinnt sie an Sicherheit, wenn man so will. Allein, ob das so schlechthin als ein Gewinn proklamiert werden kann, als ein Gewinn, der seines Preises wert ist? Ich muß die Frage entschieden verneinen. Vorsicht und Bescheidenheit sind vortreffliche Betätigungen in der Welt und der Wissenschaft, es ist höchst notwendig, daß sie geschätzt und gepflegt werden; aber unter Umständen gilt es Wagemut und Kühnheit, sonst stagnieren die Dinge. Die DARWINsche Entwicklungshypothese war, mit Sicherheitsmaßen gemessen, eine äußerst fragwürdige Sache; sie ist es noch bis auf diesen Tag, denn wo sind die empirischen Verifikationen, die sie durchschlagend beweisen und andere Möglichkeiten zwingend beseitigen? Aber will man die ungeheure Förderung, die sie der Biologie, die sie fast allen Wissenschaften gebracht hat, aus diesen herausstreichen? Oder ihren Vertretern empfehlen, doch nicht so stürmisch und ungebärdig zu sein, sondern recht bescheiden von ihrer Vermutung zu reden? Sorgfältige Beschreibung und Sonderung haben ihre Stätte in der Wissenschaft, aber die kühn das Unbeschriebene überspringende und mit Energie und Enthusiasmus den Zweiflern und Ängstlichen entgegengehaltene Hypothese hat die ihrige auch; sie ist die befruchtende und treibende Kraft, ohne die jene ersten in der Regel zu sterilem und ziellosem Tun herabsinken. Das gilt für die Psychologie, die mit der Ergänzung klaffender Erfahrungslücken zu tun hat, ganz ebenso, wie für alle anderen Wissenschaften. Fernhaltung der Unsicherheit um jeden Preis bedeutet auch für sie Fernhaltung des Lebens und der treibenden Momente des Fortschritts. Ja, diesem positiven Verlust steht im Grunde ein positiver Gewinn überhaupt nicht gegenüber. Denn was ist doch eigentlich gewonnen, welches Mehr erlangt der Mensch, wenn er die tiefergehenden Fragen, die sich ihm aufdrängen, nicht auch nur vermutungsweise beantwortet, sondern sich ihnen entzieht?

Aber nun soll man doch Hypothesen nicht mit unzulänglichen Mitteln konstruieren, sondern sich erst eine genügend breite Unterlage tatsächlichen Materials zu verschaffen suchen. Das ist ganz meine Meinung. Aber ich meine auch, das sei nur die eine Seite der Sache. Denn wie erfahre ich, ob die Mittel ausreichen oder nicht, und wie bringe ich heraus, wo sie etwa noch er Ergänzung bedürfen, und wo ich also suchen muß, um nicht ziellos herumzutappen? Doch nicht anders, als indem ich den Versuch einer zusammenhängenden Konstruktion der Dinge wirklich unternehme. Fängt man die Sache nicht mit den jeweilig verfügbaren Mitteln einmal an und versucht sie nach nennenswerten Bereicherungen der Mittel immer wieder aufs Neue, so kommt man sicherlich nie dazu, sie mit zureichenden Mitteln jemals zu vollenden.

Unzählige solcher Versuche hat der einzelne für sich abzumachen. Er probiert und verwirft, probiert einmal wieder und verwirft abermals. Denn freilich soll er nicht jeden windigen Einfall, gestützt vielleicht durch einige saloppe Versuche, gleich vor das Publikum zu bringen. Aber unter Umständen kommt er wohl einmal zu einem Punkt, wo er für sich mit einer Konstruktion dauernd im reinen ist. Dann gehört die Sache zur weiteren Beurteilung vor die Gesamtheit. Und wenn diese nun zu einer endgültigen Entscheidung nicht sogleich in der Lage ist, weder im Sinne rückhaltloser Zustimmung, noch im Sinne rückhaltloser Verwerfung, dann ist die Wissenschaft um eine unsichere Hypothese reicher geworden. Und waren gar mehrere einzelne zu jener standhaltenden subjektiven Zuversicht gelangt, so gibt es auch wohl mehrere Hypothesen hinsichtlich desselben Problems, die miteinander im Widerspruch stehen. Vielleicht lassen sie für lange Zeit eine Möglichkeit der Entscheidung nicht erkennen, dennoch aber wird man ihnen während dieser Zeit nicht dadurch gerecht, daß man sie, um nur nicht schwankenden Boden zu betreten, einfach beiseite schiebt. Denn diese Dinge sind nicht Symptome eines unrichtigen Verfahrens und einer tieferen Reformbedürftigkeit, sondern vielmehr einer gesunden und normalen Entwicklung, die im weiteren Fortschreiten eben durch die Beachtung des Zweifelhaften allmählich auch das Sichere gebiert.

Ich betone noch einmal, daß der Psychologie hinsichtlich der Ergänzung der Erfahrungslücken durchaus keine anderen Verfahrensweisen zur Verfügung stehen, als allen anderen Wissenschaften, und frage, wie steht es denn anderswo mit der Sicherheit? z. B. in der ihr so vielfach ähnlichen Physiologie? Statt runder und kategorischer Antworten, wie wir sie freilich wohl haben möchten, auch hier überall widerstreitende Hypothesen. Hypothesen über Vererbung, Hypothesen über Zeugung, über Ernährung, Nervenprozesse, Fettresorption, Herzinnervation [Nervenimpulse - wp] usw. usw. Hypothesen im Großen, Hypothesen im Kleinen, und die meisten auch hier, ohne daß man absehen kann, wann und woher des Rätsels Lösung wohl kommen mag. Aber niemand nimmt daran Anstoß, die Physiologie blüht und gedeiht, und so ist es auch für die Psychologie ein schiefes Verlangen, daß sie von ihren Hypothesen gereinigt werden müsse.

Dazu kommt nun aber noch ein weiteres Moment, das trotz seiner Wichtigkeit für die Sicherheit psychologischen Wissens von DILTHEY nicht einmal erwähnt wird.  Die  Unsicherheiten der Psychologie beginnen gar nicht erst mit ihren Erklärungen und hypothetischen Konstruktionen, sondern bereits mit der einfachen Feststellung des Tatbestandes. Eben das Beschreiben und Zergliedern, das bei DILTHEY gleichsam von der Garantie allgemeingültiger Gewißheit der Resultate getragen erscheint, bringt schon Zweifel und widerstreitende Resultate in Fülle mit sich. Die gewissenhafteste Befragung der inneren Erfahrung liefert gleichwohl dem einen dieses, dem anderen ein anderes Ergebnis; und trotz vielfacher und sorgfältiger Nachprüfung gelingt es oft nicht, die Sache zu zweifelsfreier Klarheit zu bringen. Unter Umständen kann erst von einer einleuchtenden Hypothese aus die Entscheidung einer reinen Tatsachenfrage gewonnen werden; man wird das als richtigste Charakterisierung eines Tatbestandes ansehen, was auch im übrigen in einen zu vermutenden Zusammenhang der Dinge am besten hineinpaßt. Zu durchgängiger Sicherheit ist also die Psychologie selbst bei Vermeidung aller Hypothesen auf keine Weise zu erheben; auch einer bloß beschreibenden Psychologie ist sie nicht beschieden.

Was ist z. B. Aufmerksamkeit? Eine starke Erhebung von Vorstellungen über die Bewußtseinsschwelle, sagt FECHNER. Nach STUMPF ist sie ein Gefühl, näher bestimmt ein Lustgefühl am Bemerken eines Inhalts. Nach WUNDT vielmehr ein inneres Wollen; der primitive Willensakt, der bei den gewöhnlich sogenannten äußeren Willenshandlungen stets vorausgesetzt wird. DILTHEY, der wiederholt die erklärenden Psychologen tadelt wegen der eindeutigen Bestimmtheit ihrer Elemente, gibt, vielleicht mit Rücksicht hierauf, eine zweideutige Charakterisierung. Auf Seite 39 und 74 nennt er, wie FECHNER, Aufmerksamkeit eine "verstärkte Bewußtseinserregung", auf Seite 66, wie WUNDT, "ein willentliches Verhalten". Aber welche von diesen eindeutigen und zweideutigen Bestimmungen ist denn nun die richtige? Das auszumachen, ist nicht Sache hypothetischer Ableitungen und Konstruktionen, sondern der einfachen Beachtung des jedermann bekannten inneren Erlebnisses. Dennoch solche Verschiedenheit und Unsicherheit der Antworten! Oder was ist ein Willensakt? Eine eigenartige, nicht weiter analysierbare psychische Realität  neben  Empfindungen, Vorstellungen Gefühlen, oder nur eine eigenartige Kombination dieser Elemente? Die Frage appelliert lediglich an die unmittelbar innere Erfahrung und deren Analyse, aber eine einstimmige Antwort hat sie noch keineswegs gefunden.

Durchmustert man unter diesem Gesichtspunkt die von DILTHEY der erklärenden Psychologie an verschiedenen Stellen vorgehaltenen Hypothesen, so wird man erstaunt sein, wie ihre Zahl zusammenschrumpft. Das oben erwähnte große Verzeichnis z. B. enthält fünf bestimmte Hypothesen. Die letzte von diesen, betreffend das Verhältnis des Bewußten zum Unbewußten, bleibt billig außer Betracht, da DILTHEY hier, wie gezeigt, selbst eine bestimmte Ansicht vertritt und damit das hypothetische Vermuten in dieser Sache als berechtigt anerkennt. Die vorangehenden beiden, Nr. 3 und 4, Wesen des Wollens und des Selbstbewußtseins, gehören durchaus nicht hierher. Es sind eben gar nicht Unsicherheiten des Erklärens und Ableitens, um die es sich hier handelt, sondern der Beobachtung und der Analyse. Was findest Du in Dir, wenn Du Dein Wollen oder Dein Selbstbewußtsein sorgfältig beobachtest und zergliederst? Das ist die Frage. Bleiben also aus dem ganzen Katalog nur die Hypothesen 1 und 2, psychophysischer Parallelismus und atomistisch-mechanische Konstruktion des Seelenlebens, von denen noch dazu 1 zur Hälfte der Physilogie angehört und von dieser der Psychologie aufgedrängt wird. Der "Nebel von Hypothesen", wie DILTHEY es nennt, in den die Psychologie vermöge ihrer Tendenz, die Dinge zu erklären und zu verstehen, gebannt sein soll, ist ansich nicht so dicht. Wenn es nur möglich wäre, sie von allen anderen Nebeln frei zu halten!

Die Haltlosigkeit der DILTHEYschen Polemik auch in dieser Hinsicht muß somit einleuchten. Wo es sich nicht bloß um das einfache Registrieren und Beschreiben eines unmittelbar Gegebenen handelt - und auch die DILTHEYsche Psychologie steckt sich erheblich höhere Ziele -, da sind konstruierende Hypothesen mit ihren Unsicherheiten und unter Umständen mit ihrem Widerstreit schlechterdings nicht zu vermeiden; außerdem aber ist in der Psychologie bereits die bloße Gewinnung und Charakterisierung des als gegeben anzuerkennenden Tatbestandes durchweg mit Zweifeln und Unsicherheiten besetzt.

Wie oben gleich zu Eingang der Kritik anerkannt wurde, bildet die eigentliche Grundlage der DILTHEYschen "Ideen" ein berechtigter Gedanke, die lebhafte Reaktion gegen die mangelhafte Behandlung der psychischen Einheitsbildungen seitens der älteren Psychologie. Wäre dieser Gedanke in den Mittelpunkt des Ganzen gerückt worden und nach den verschiedenen Seiten, die er bietet, konkret durchgeführt, so hätte die Psychologie durch einen, wenn auch nicht gerade in den Grundgedanken neuen, so doch durch seine Zusammenfassung förderlichen Beitrag in ihrer gegenwärtigen Arbeit gestärkt werden können. DILTHEY jedoch sucht die Sache recht tief, an der Wurzel zu fassen und hat sich hierin gänzlich vergriffen. Er führt jene Mängel auf fundamentale methodologische Irrtümer zurück, insbesondere auf das Erklärungsbedürfnis der Psychologen, und indem er nun hiergegen vorgeht, setzt er seinen Angriff von vornherein in einer völlig schiefen Richtung an. Methodologische Irrungen sind dagewesen, gewiß; aber sie sind nie zu allgemeinerer Geltung durchgedrungen, und sie dürfen gegenwärtig als durchaus überwunden gelten. Das Verfahren der Psychologie in seinen allgemeinen Zügen ist in bester Ordnung. Der DILTHEYsche Angriff verläuft somit begreiflicherweise als ein Stoß in die Luft; eine Kette von schiefen Darstellungen, Unklarheiten, Unbilligkeiten bringt er, nicht neue und ersprießliche Resultate. Was empfohlen wird, ist in den Psychologen bestens bekannt und wird allseitig geübt. Was getadelt wird, wird entweder von niemandem erstrebt, oder beruth auf Forderungen der Sache, die sich gegen den Willen des Autors auch bei seiner eigenen Behandlung ihr Recht erzwingen. Für die in den Dingen darin Stehenden ist ein solcher Angriff ohne großen Belang. Indessen bei den der Psychologie Fernerstehenden kann er leicht unbestimmte falsche Vorstellungen von ihr erwecken, vielleicht auch die an sie Herantretenden vorübergehend in die Irre leiten, und um beides womöglich zu verhüten, schien mir eine etwas eingehendere Kritik wohl gerechtfertigt.

Vielleicht ist zum Schluß noch ein Wort gestattet über die von DILTHEY behaupteten "außerordnetlich nachteiligen Folgen" der Herrschaft er erklärenden Psychologie für die Entwicklung der Geisteswissenschaften. Die Unsicherheit der psychologischen Hypothesen teilt sich diesen, da sie einer psychologischen Grundlegung bedürfen, nach DILTHEY notwendig mit und träg auch in sie Streitigkeiten ohne Aussicht auf Entscheidung hinein. Folgen sie gar den einseitigen Theorien einzelner Psychologen, so entstehen Irrungen, wie die Geschichtsschreibung BUCKLEs, die deterministische Richtung des Strafrechts, der Materialismus der Nationalökonomie usw. "Daher ist in weiten Kreisen die gegenwärtige Tendenz" dieser Wissenschaften, "psychologische Grundlegungen gänzlich auszuscheiden", womit sie aber freilich sachlich auch nicht gebessert sind, sondern einer öden Empirie verfallen.

Ob mit der letzten Behauptung, von einer gegenwärtig weit verbreiteten Abneigung gegen psychologische Grundlegungen, die Zeichen der Zeit richtig gedeutet sind, will ich dahingestellt sein lassen. Man kann in Hinblick auf manche Erscheinungen auch der Ansicht sein, daß das, was DILTHEY als  gegenwärtige  Tendenz bezeichnet, vielmehr der Vergangenheit angehöre, und daß für die Gegenwart eher eine zunehmende Annäherung von Sozialwissenschaft, Religionswissenschaft usw. an die Psychologie charakteristisch sei. Indessen sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls muß man fragen, mit welchem Recht denn die Geisteswissenschaften von der Psychologie, die sie in Anspruch nehmen, etwas Andersartiges verlangen sollen, als sie selbst zu bieten imstande sind. Ist etwa der Mensch, mit dem Geschichte, Staatswissenschaft, Nationalökonmie zu tun haben, ein anderer, als der Mensch der Psychologie? Oder sind die Erscheinungen des individuellen Seelenlebens so viel einfacher und durchsichtiger, als diejenigen der menschlichen Gemeinschaft? In manchen Dingen vielleicht, aber in anderen ist doch auch die Meinung PLATOs berechtigt, daß in den sozialen Institutionen mit Lapidarschrift geschrieben sei, was die Einzelseele nur in kleinen Buchstaben und von weiten erkennen lasse. Wie steht es denn nun mit der Sicherheit der Erklärungen und der Ausschließlichkeit der Hypothesen in den Geisteswissenschaften? Offenbar ganz ebenso, wie in der von DILTHEY getadelten Psychologie; die Gleichheit der menschlichen Seele, deren Betätigungen nach verschiedenen Richtungen hin sie untersuchen, bedingt auch eine durchgängige Gleichartigkeit des wissenschaftlichen Charakters. Daß nun also eine Geisteswissenschaft, die allgemein-psychologische Analysen, Sätze, Theorien zur Förderung ihrer Zwecke heranzieht, in diesen nicht lauter ausgemachte Wahrheiten, sondern zum Teil dem Zweifel und der Abänderung unterliegende Dinge besitzt, ist freilich richtig, und es ist notwendig, daß sie sich dessen bewußt sei. Aber etwas besonders Betrübendes oder Nachteiliges für jene Wissenschaften finde ich darin gar nicht; sie behalten damit nur den Charakter, den sie auch sonst schon haben und den sie der Natur der Sache nach allein haben können. Und ihren Vertretern, meine ich, müßte jemand, der die Psychologie wegen ihrer Unsicherheit und ihrer Theorien tadelt und an deren Stelle etwas ganz Sicheres zu setzen verspricht, eher verdächtig als willkommen erscheinen. Nach der Kenntnis des menschlichen Seelenlebens, die sie von ihrer eigenen Beschäftigung her bereits besitzen, müssen sie jenen Tadel und die ihnen selbst zugedachte verbesserte Unterstützung so beurteilen können, wie oben geschehen.

Inwiefern sodann die einseitige Ausschlachtung einzelner psychologischer Sätze durch BUCKLE, MARX, LOMBROSO usw. gegen die Psychologie und ihre Theorien im Ganzen zeugen soll, ist mir vollends unverständlich. Ist die Elektrizitätslehre der Physik zu tadeln, weil die Physiologen zeitweilig mit einer elektrischen Theorie der Nervenerregung in die Irre gingen? Daß Unvollkommenheit und Unfertigkeit des Wissens, zumal im Dienst von Parteiinteressen, unter Umständen Irrungen hervorrufen, ist bekannt. Aber wer wird deshalb jenem Wissen die Schuld beimessen, das allerdings Ursache des Schadens ward, und etwa die Ausbildung von Anschauungen und Theorien, die vielleicht einmal mißbraucht werden können, lieber zu unterlassen empfehlen? Steht denn nicht ein anderes und würdigeres Mittel der Abhilfe zur Verfügung? Man fahre auf dem eingeschlagenen Weg doch nur fort, bereichere und vervollkommne das Wissen durch seine Erweiterung und Vertiefung, und Irrtümer und Mißbräuche schwinden von selbst.

Etwas anderes wird sich wohl auch den Geisteswissenschaften nicht empfehlen lassen, sofern sie Beziehungen zur Psychologie haben. Nicht jeder von ihren Vertretern braucht, nach der besonderen Richtung seines Tuns innerhalb eines umfassenderen Gebietes, jener nahe zu treten. Aber wer es zu tun Veranlassung hat, tue es ganz und voll und unbekümmert um die Schlagworte von Interessenkämpfen. Dann ist nicht zu besorgen, daß er von so einfachen Dingen, wie dem psychologischen Determinismus, nachteilige Wirkungen verspüre, noch auch, daß ihm die Theorie des psychophysischen Parallelismus zu einer "Gefahr" werde.
LITERATUR - Hermann Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie, Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 9, Leipzig 1896
    Anmerkungen
    1) Daß die Unklarheit im Großen von mannigfachen Unklarheiten im Kleinen begleitet wird, ist begreiflich. Ich kann nicht umhin, eine besonders charakteristische dieser Kleinigkeiten beiläufig hervorzuheben. DILTHEY bespricht die Hilfsmittel der beschreibenden Psychologie und bemerkt abschließend (Seite 62), daß der Versuch entscheiden müsse, ob ihre Aufgabe mit diesen Mitteln gelöst werden könne. Dann fährt er fort: "Viele einzelne Zusammenhänge hat die psychische Analyse ganz sicher hergestellt. Wir können sehr wohl den Vorgängen nachgehen, welche von einer äußeren Einwirkung bis zur Entstehung eines *Wahrnehmungsbildes führen; wir können die Umformung desselben in eine erinnerte Vorstellung verfolgen" usw. Man überlese die beiden Behauptungen von unserem Können mit Aufmerksamkeit, und man wird in der größten Verlegenheit sein, anzugeben, was gemeint ist. Die Vorgänge zwischen der äußeren Einwirkung und - wohlgemerkt - der  Entstehung  eines Wahrnehmungsbildes, sowie die  Umformung  dieses Wahrnehmungsbildes in eine *Erinnerung, das sind ganz sichergestellte Dinge! Und diese Sicherstellung sind - abermals wohlgemerkt - Errungenschaften der beschreibenden Psychologie, der psychischen Analyse! Wenn DILTHEY das direkte Gegenteil gesagt hätte, daß nämlich die beiden erwähnten Vorgänge in allem Wesentlichen überaus dunkel sind, obschon sich hie und da einiges spärliche Licht über sie ergossen hat, daß ferner ihre Aufhellung mit psychischer Analyse nichts zu tun hat, sondern zum Teil vielleicht von psychologischer Hypothesenbildung erwartet werden kann, zum weitaus größeren Teil aber Sache der Physiologie ist, so hätte er eine jedermann bekannte Wahrheit ausgesprochen. Die gegenwärtige Formulierung zeigt nur, wie sehr sich ihm selbst einfache Dinge verschoben haben.