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FRANZ DEUBZER
Sprachkritik als Sprachskepsis

Moralisierende Sprachkritik
Ideologische Sprachkritik
Die hermeneutische Methode
Die Fiktion des Faktischen
"Der Sprachkritiker entzieht seiner Arbeit bzw. seinem Sprechen alle Grundlagen, wenn er die Sprache nur als Quelle umfassender "Täuschungen" begreift, und er eliminiert sich schließlich selbst, wenn er auf Grund dieser Erkenntnis auch sein "Ichgefühl", seine Individualität als "Lebenstäuschung" versteht."

Mehr in den Bereich eines Individualpsychologen fiele die Beurteilung des Phänomens Sprachskepsis, wenn man der "eigentlichen Grund der Krise" herausfinden wollte, den L. WITTMANN im Falle HUGO von HOFMANNSTHALs "in der gewandelten Struktur des Ichs selbst" gelegen sieht.(1) Um das linguistische Interesse an der Sprachskepsis zu begründen, soll deshalb im Folgenden nicht der  eigentliche Grund,  sondern ein anderer wesentlicher Vorgang im Vordergrund stehen: die Verwerfung der illusorischen Koinzidenz von Wirklichkeit und Sprache, die genau das andere Extrem zur Folge hat, nämlich die strikte Trennung zwischen einer  wirklichen Wirklichkeit  und einem Phantom, das zwangsläufig durch nichts Wirkliches mehr kontrolliert werden kann.

Diese Trennung wird - in unterschiedlichem Grad und mehr oder weniger bewußt - von allen Sprachskeptikern vollzogen. Dabei fällt auf, daß Sprachskepsis und Sprachmystik häufig miteinander korrespondieren, daß mit dem Zweifel an der Sprahce auch der Glaube an die Abhängigkeit der Sprecher wächst. Der Sprachmystik liegt also nicht grundsätzlich eine sprachrealistische Auffassung zu Grunde.(2)

In diesem Abschnitt soll von den radikalen Sprachskeptikern die Rede sein. Ihre Sprachauffassung, die von der unzulänglichen Abbildungsfunktion der Sprache ausgeht, führt in letzter Konsequenz zu einem totalen Sprachrelativismus, der nur dadurch überwunden werden kann, daß man verstummt: "Die Kritik der Sprache muß Befreiung von der Sprache als höchstes Ziel der Selbstbefreiung lehren."

Die Befreiung von der Sprache bedeutet damit einen anderen Seinszustand; so hofft Hofmannsthals Lord Chandons auf eine Sprache, "von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist, eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde. Dieser Zustand ist in diesem Leben nicht zu erreichen. Es ist aber auffällig, daß dem Lord bei aller Sprachlosigkeit doch nicht "alles in Teile" zerfällt; der entsprechende Passus (mit dem Kommentar Pestalozzis) lautet:
"Der Lord berichtet von einem kleinen Sektor seines Daseins, wo die Sprachskepsis nicht hinreicht:

 Ich baue einen Flügel meines Hauses um und bringe es zustande, mich mit dem Architekten hie und da über die Fortschritte seiner Arbeit zu unterhalten. 

Eine sinnvolle, weil notwendige Tätigkeit vermag in diesem Falle das Sprechen zu legitimieren".
Das ist richtig erkannt: die  notwendige Tätigkeit  ist vergleichbar jenem  Handeln  bei MAUTHNER. Sie ist nicht nur die Legitimation, sondern sogar das Fundament des Sprechens: Die Fortschritte der Arbeit des Architekten sind augenfällig, können also intuitiv erfaßt werden. Bei der Umsetzung der sinnlichen Wahrnehmungen in Sprache ist der anschauende Verstand das Kontrollorgan, nach dessen Vorgabe die reflektierende Vernunft aus ihrem Medium, der Sprache, auswählt. Wegen jenes Kontrollorgans ist sprachlich  nicht mehr alles möglich. 

So wie ein Kausalzusammenhang zwischen dem Architekten, seiner Arbeit und deren Fortschreiten sinnfällig ist, so wird sich auch das Sprechen darüber nicht in unbegründeten, endlosen Zirkeln bewegen, sondern jene Sinnfälligkeit ins Bewußtsein heben, d.h. sprachlich fixieren. Abstrahiert man jedoch das Sprechen von der Anschauung, von der intuitiven Erfahrung soweit, daß man diese seine Grundlagen regelrecht vergißt, dann muß man es als "zufällige Erscheinung" betrachten, ohne jede Verbindlichkeit, ohne weiteren Erkenntniswert als den, daß es eben zufällig ist.(3)

MAUTHNERs Absichten, auch seine  Kritik der Sprache  werde "am Ende... nur wollen, was alle Sprachwissenschaft von jeher wollte: die Erscheinung der Sprache klären, weist in ihrer ausschließlichen Sprach-Bezogenheit schon auf diesen Ausgang hin. Der Sprachkritiker und Sprachwissenschaftler, nicht anders alsjeder  gewöhnliche  Sprecher, entzieht seiner Arbeit bzw. seinem Sprechen alle Grundlagen, wenn er die Sprache nur als Quelle umfassender "Täuschungen" begreift, und er eliminiert sich schließlich selbst, wenn er auf Grund dieser Erkenntnis auch sein "Ichgefühl", seine Individualität als "Lebenstäuschung" versteht. Wenn er der Sprache nicht auf den Grund, also auf die Sache kommt, dann "bebt der Boden, auf welchem wir stehen, oder es zerfällt "alles in Teile, die Teile wieder in Teile".(4)

Als eine Schutzvorrichtung vor dieser agnostizistischen Selbstauflösung können LUDWIG WITTGENSTEINs  Sprachspiele  verstanden werden. Auch WITTGENSTEIN mußte seine grundlegende These des  Tractatus,  wonach jede Aussage einen definitiven Sinn habe, revidieren. G. PITCHER hat die "unerfüllbaren Forderungen", die WITTGENSTEIN im  Tractatus  an die Sprache gestellt hatte, so resümiert:
"Aussagen sind zu nichts nütze, sind in Wahrheit gar keine Aussagen, wenn sie keinen Sinn haben - absolut bestimmten Sinn. Aussagen dürfen keinen Platz für Mehrdeutigkeit lassen; es darf kein Raum für irgendeinen möglichen Zweifel, irgendeine Ungewißheit bleiben. Alles, was sie sagen, muß genau bestimmt sein".
Wie WITTGENSTEIN im  Tractatus  zerlegt der Sprachskeptiker, dem Mythos der Authentizität allen Sprechens auf der Spur, jede Aussage, jeden Satz über die Wirklichkeit. Anders als WITTGENSTEIN will er damit aber nur zeigen, daß es letztlich unmöglich ist, die Essenz der Aussagen und so die "Lösung der Welträtsel"(5) zu finden. Der drohenden Verwirrung kommt WITTGENSTEIN durch seine Theorie vom Sprachspiel zuvor, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen folgt für ihn aus der Erkenntnis, daß die Sprache die Wirklichkeit nicht vollkommen exakt abbildet, daß dies gar nicht notwendig ist, solange sie ein "brauchbares" Medium darstellt und trotz aller Vagheit zwischen den Sprechern funktioniert; solange sie ihnen die Möglichkeit gibt, ihre Gedanken und Absichten anderen zu erklären: "Der Wegweiser ist in Ordnung, - wenn er, unter normalen Verhältnissen, seinen Zweck erfüllt".

Zum anderen ist ein  Sprachspiel  nicht nur durch sprachliches Verhalten definiert: "Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das "Sprachspiel nennen. Die Verwirrungen entstehen, wenn man die "Heimat" der Wörter vergißt, "wenn die Sprache leerläuft, nicht wenn sie arbeitet". Sprachskepsis und Sprachverwirrungen entstehen, wenn sich die Vernunft vermittels ihres Mediums selbst prüfen oder regeln will. Denn sie bedarf dazu einer von ihr unabhängigen Instanz, der Wirklichkeit.
LITERATUR - Franz Deubzer, Methoden der Sprachkritik, Münchner Germanistische Beiträge,
München 1980
    Anmerkungen
    1) WITTMANN und KÜHN sehen den eigentlichen Grund in den "Nervenkrisen" HOFMANNSTAHLs. Aus der vagen Bezeichnung der Ursache - "veränderte Struktur des Ich" - wird deutlich, daß der  eigentliche Grund  kaum klar zu bestimmen sein dürfte, und darum auch nicht, ob die Trennung zwischen Wirklichkeit und Sprache als Ursache, Bedingung oder Folge der veränderten Ich-Struktur anzusehen ist, oder als keines von allen, oder als alles zusammen.
    2) Vgl. MAUTHNER: "Aber nicht einmal denken können wir, wie wir wollen. Wir können nur denken, was die Sprache uns gestattet, was die Sprache und ihr individueller Gebrauch uns denken läßt."
    Vgl. auch HANDKE: "Wenn du zu  sprechen  anfängst, wirst du zu  denken  anfangen, was du  sprichst,  auch wenn du etwas anderes  denken willst.  Die Verträglichkeit von Sprachskepsis und Sprachmystik ist aber unverständlich. Denn wer einerseits die Sprache als nutzloses, irreführendes Instrument entlarvt hat, andererseits aber erlebt, wie sie dennoch auf irgendeine Weise zwischen Sprechern funktioniert, der muß zu dem Schluß kommen, daß diese einer Täuschung aufsitzen und daß sie, weil ihrer unbewußt, deren vermeintlichem Urheber auch vollkommen ausgeliefert sind.
    Vgl. auch ESCHENBACHER: "MAUTHNERs Argumentation ... geriet immer wieder in die Gefahr eines neuaufkommenden Wortaberglaubens, weil sie die verschiedenen Phänomene, die sicherlich sehr eng zusammenhängen - Ich, Bewußtsein, Denken, Sprache - einfach per definitionem gleichsetzte und damit die komplizierten und vielschichtigen Zwischenbereiche und Querverbindungen zugunsten einer radikalen Identifikation ausklammerte."
    Der grundlegende Irrtum MAUTHNERs scheint mir in seiner Absicht zu liegen, "die Menschen von der Unwirklichkeit, von der Wertlosigkeit dieser dreieinigen Göttinnen (Denken, Logik, Grammatik) überzeugen" zu wollen. Daß sein Vorhaben auf diese abstrakten, sekundären Erscheinungen als solche abzielt und nicht auch auf die sinnliche Anschauung als das Fundament, worauf sie sich gründen und wodurch die überhaupt erst verstehbar sind, das wird auch durch MAUTHNERs Einschränkung bestätigt, daß dort, "wo  die Sprache  uns eine Bezeichnung werden wird für eine wirkliche Art des Handelns, da werden wir es niemals nötig haben, auf Denken, auf Logik oder Grammatik als den Ursprung (!) zurückzugehen." Danach hätte MAUTHNER nicht eigentlich die Sprache, sondern die Theorie der Sprache kritisiert, und seine Beziehung zur Sprache erscheint ganz ähnlich derjenigen, die KANT nach dem Urteil SCHOPENHAUERs zum  Schönen  gehabt habe: "Er geht immer nur von den Aussagen anderer aus, vom Urteil über das Schöne, nicht vom Schönen selbst. Es ist daher, als ob er es ganz und gar nur vom Hörensagen, nicht unmittelbar kennte."
    3) Besonders wird die Aussichtslosigkeit dieses Denkens an Mauthners Reflexionen über die  Subjektivität:  "So subjektiv ist unser Weltbild, daß auch der Einteilungsgrund in die Begriffe  subjektiv  und  objektiv  selbst wieder subjektiv ist." Es gibt eigentlich keinen Grund, den Gedankenkreisel gerade hier abzubrechen; denn wenn es ein Subjekt gibt, das nach diesem Einteilungsgrund eingeteilt wird. Gibt es kein solches Objekt, dann stimmt MAUTHNERs These nicht. Gibt es eines, ist man wieder am Anfang.
    4) Vgl. auch KÜHN: "FRITZ MAUTHNER mußte ... einsehen, daß er im Begriffe war, mit seiner Sprachkritik auch sich selbst zu zerstören."
    5) Fritz Mauthner: "Wie weit entfernt eine solche idealen Geschichte der Menschheit, eine solche ideale Geschichte der Sprache dennoch von einer Erkenntnis, von einer Lösung der Welträtsel wäre, das fällt erdrückend über uns, wenn wir in diesem dunklen Schacht, der das Denken heißt, noch eine Stufe weiterzugraben suchen."