p-3
 
FRANZ DEUBZER
Ideologische Sprachkritik

Moralisierende Sprachkritik
Sprachkritik als Sprachskepsis
Die hermeneutische Methode
Die Fiktion des Faktischen
"Propaganda hat Erfolg, wenn alle Informationskanäle vollständig unter der Kontrolle des Propagandisten stehen und keine Gegenargumente jemals in irgendeinem Medium laut werden."

Sprachkritik ist heute nicht nur für Linguisten, sondern auch für den Politiker und Publizisten von Interesse. Linguisten wiederum rechtfertigen dieses Interesse etwa durch die Feststellung daß "Sprache ... heute zum Kampffeld geworden (ist) und Sprachkritik als Waffe im Kampf". An anderer Stelle beruft man sich auf NIETZSCHEs Prophezeiung, daß Machthaber künftig der sein werde, "der neue Sprachregelungen verbindlich durchzusetzen verstehe". Dabei bringt es die Formulierung schon an den Tag: die Möglichkeit, Sprachregelungen verbindlich durchzusetzen, muß auf bereits verfügbarer Macht beruhen bzw. auf der Kontrolle der Einrichtungen, durch die allein Sprachregelungen in der Öffentlichkeit wirksam werden können.

Die Macht der Nationalsozialisten, Sprachregelungen verbindlich durchzusetzen, beruhte ausschließlich darauf, daß sie jede Kritik an ihrer Politik gewaltsam verhinderten. G.K. KALTENBRUNNERs Behauptung, daß "HITLER ... nicht nur mit SS und Gestapo, sondern auch aufgrund seiner rednerischen Fähigkeiten (herrschte)", ist aus diesem Grund falsch: HITLER herrschte deshalb auch aufgrund seiner rednerischen Fähigkeiten, weil er die rednerischen Fähigkeiten seiner politischen Gegner durch SS und Gestapo - nicht durch seine Rhetorik - ausschaltete.

Zur Unterstützung zitiert KALTENBRUNNER H. SCHELSKY, dessen "aktuelle Einsichten und Erfahrungen" er auf das Diktum konzentriert: "Wer die Sprache beherrscht, der beherrscht auch die Menschen, hat H. SCHELSKY vor kurzem festgestellt. Auch diese Behauptung ist falsch, weil sie die Voraussetzungen der Macht über die Sprache ignoriert und damit Ursache und Wirkung verwechselt.

Einige weitere Zitate aus KALTENBRUNNERs Vorwort sollen diese verkehrte Sicht verdeutlichen. Das "Verhältnis von Sprache und Politik" sei "in demokratisch- liberalen Gesellschaften" besonders eng, "da ihre Legitimationsgrundlage der freie Wettbewerb der Meinungen ... ist". Es gebe "Systemstürmer", die nicht mit "revolutionärer Gewalt", sondern "rational" die "bestehenden Institutionen umwälzen" bzw. die Macht über die Medien "erobern" wollten. An diese These, die weniger eine Kritik an den Systemstürmern als eine nüchterne, wenn auch an die Generalstabslexik angelehnte Beschreibung des gefahrlosesten Vollzugs politischen Machtwechsels ist, schließt sich die Überlegung an:
"Kleinen, aber entschlossenen Minderheiten ist es mit Hilfe dieser Strategie (der Eroberung der Medien) gelungen, auf gleichsam kapillarische Weise bestimmten Wörtern eine neue Bedeutung zu verleihen, andere Wörter aus dem Verkehr zu ziehen und auch noch dem Gegner ihre Sprachregelungen aufzuzwingen ... Die entscheidende Schlacht ist völlig unblutig gewonnen, wenn es gelingt, dem Gegner eine Sprache aufzuzwingen, die ihn daran hindert, seine Interessen und eine eigene geistig-politische Position zu artikulieren."
An diesem Passus wird die Fragwürdigkeit des ideologischen Sprachkampfes offensichtlich: es wird behauptet, daß dem politischen Gegner eine Sprache aufgezwungen werden könne, daß er - auf Grund der Macht der Sprache seines politischen Gegners - ins Hintertreffen gerate, gleichsam wehrlos diesem Zwang ausgesetzt sei, und daß zwischen der Sprache, die er spricht, und den Interessen, die er hat, eine Diskrepanz bestehe. Denn die Sprache sei die des Gegners, die Interessen dagegen seine eigenen.

Dabei wird gar nicht berücksichtigt, daß von "Interessen" und vor allem von einer "geistig-politischen Position" erst die Rede sein kann, wenn von ihnen auch tatsächlich die Rede ist. Die Äußerung von Interessen findet nur dann nicht statt, wenn sie gewaltsam unterdrückt wird oder wenn überhaupt keine Interessen vorhanden sind.

Der Fortschritt dieses Denkens gegenüber der unreflektierten Meinung, Politik sei wesentlich von politischem Handeln,  von Taten  bestimmt (wie sie noch in fast jedem Geschichtsbuch ausgewiesen ist), soll dabei nicht übersehen werden. Doch hebt er sich sofort wieder auf, weil er in das andere Extrem fällt: Politik sei wesentlich durch Sprache bestimmt. SCHELSKY sagt ganz in diesem Sinne: " Unüberwindbare  Herrschaftsmittel gewinnt, wer die Schlüsselworte für die großen Sehnsüchte der Zeiten oder auch nur der Generation zu finden und auszubeuten vermag".

Diese extreme Auffassung muß zu extremen Konsequenzen führen. Da kein Gedanke war, daß die Veränderungen zugunsten des politischen Gegners nicht nur über die Sprache, sondern auch über die Wirklichkeit, über die bestehenden Verhältnisse sich vollzogen haben könnten, ist auch kein Gedanke, daß sich der gewünschte Machtwechsel nicht nur über die Sprache vollziehen könnte. Da für den umworbenen Wähler die Entscheidung aber unmöglich wird, wenn lediglich Sprache gegen Sprache steht, beruft man sich auf sprachimmanente Kriterien, die zugunsten sprachextramanenter Interessen, nämlich denen der eigenen politischen Überzeugung, ausschlagen sollen:
"Er (der vorliegende Taschenbuchband) zeigt aber auch, daß es sinnvoll ist, von einer dem Menschen übergeordneten, sich beliebiger Manipulation entziehenden Eigenmacht des Wortes auszugehen. Denn hier liegen die Quellen, aus denen sich aller Widerstand gegen die Tyrannei politischer Schlagworte ebenso speist wie der Mut zur Offenheit, ohne den es keine belangvolle Kommunikation mit der Wirklichkeit und unseresgleichen gibt".
Bei der genannten "Eigenmacht des Wortes" handelt es sich um die "natürliche Vorgabe der Kommunikation", die zerstört wird, "wenn das Übereinkommen über den traditionellen Sinn eines Schlüsselbegriffs nicht eingehalten wird". Daß diese natürliche Vorgabe bisweilen konsequent ignoriert wird, daß sich Gruppen zum Zweck der Solidarisierung, einer geschlossenene Opposition, sprachlich isolieren, ist unbestritten.

Doch solche äußerliche Disziplinierung führt nur zu einem politisch unerheblichen Sektierertum; politisch-gesellschaftliche Veränderungen, sofern sie nicht diktatorisch verordnet werden, unterliegen nicht dem Diktat der Rhetorik ihrer Protagonisten, sondern dem der zwangsläufig sprachlich vermittelten, nicht aber sprachlich existenten Wirklichkeit. Wer ungeachtet dessen nur die Rede führt von der Sprache, die die Politik, nicht aber von der Politik, die die Sprache beeinflußt, wer also einer "mystischen" Sprachtheorie huldigt, der muß zu einer entsprechend sprachmystischen Lösung kommen.

In diesem Zusammenhang soll kurz auf die Vision jener total sprachgelenkten Gesellschaft eingegangen werden, die G. ORWELL in seiner Utopie "1984" entwickelt hat. Aufschlußreich sind hierzu folgende Überlegungen DIECKMANNs:
"Der kritische Punkt bei den Meinungsverschiedenheiten in der Forschung sind die Prädispositionen. Die besprochenen Untersuchungen ... setzen einen Menschen voraus, der durch Einflüsse (Umwelt, Erziehung, Interessen) prädisponiert ist, die vor der Propaganda schon da waren. Diese trifft nun auf ein schon ausgebildetes Wertsystem und erweist sich normalerweise als schwächer. Was geschieht aber, wenn der Propagandist die Prädisposition langfristig beeinflußt oder überhaupt erst schafft, so daß die kurzfristig einsetzende propagandistische Beeinflußung auf keinen Widerstand trifft, weil sie mit den Prädispositionen übereinstimmt?

Rein rhetorisch lassen sich die Verhältnisse, unter denen dieser Effekt eintritt, einfach formulieren. Sie sind ablesbar an ORWELLs Roman "1984", in dem die Propaganda unter idealen Bedingungen arbeitet, und sie sind festgehalten ... in dem Zitat von MILLER, wo er sagt, Propaganda habe Erfolg, wenn  alle  Informationskanäle  vollständig  unter der Kontrolle des Propagandisten stehen und  keine  Gegenargumente  jemals  in  irgendeinem  Medium laut werden".
Solche Verhältnisse können tatsächlich nur "rein theoretisch" besprochen werden. Die Perspektive der totalen Unfreiheit in ORWELLs Roman ist nämlich deshalb so eindeutig und irreversibel, weil ihr Ursprung unangreifbar ist: die fiktive Figur des Staatspropagandisten, des "Big Brother", repräsentiert die vollkommen über der Sache und über den Menschen stehende omnipotente und omnipräsente Gewalt, die auch eine perfekte Sprachstrategie entwickelt hat, die also die Sprache souverän beherrscht.

Man wird kaum übersehen können, daß in allen jemals real existierenden Diktaturen nicht von un-bedingten Machthabern wie dem unsichtbaren unfehlbaren Big Brother regiert worden ist, sondern von Menschen, deren Tyrannei durchschaubar war. Diese realen Machthaber waren niemals frei von jeglicher Befangenheit, konnten ihre Sprache auch nicht nach Gutdünken verwenden, sondern standen selbst unter dem Zwang deren Konventionen.

Man kann sogar annehmen, daß der Versuch, einer Sprachlenkung, der ja auch bedeutet, daß die Beherrschten angesprochen werden, die Schwäche der Herrscher gerade sichtbar macht; daß die Gewalt, indem sie sich nicht als schweigende offenbart. sondern sich mit rabulistischen Mitteln zu beschönigen und rechtfertigen sucht, greifbar und damit angreifbar wird. Diese Erkenntnis hat sehr schlicht und überzeugend HEINRICH HEINE ausgedrückt.
"Von dem Augenblick an, wo eine Religion bei der Philosophie Hilfe begehrt, ist ihr Untergang unabwendlich. Sie such sich zu verteidigen und schwatzt sich immer tiefer ins Verderben hinein. Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt. Ja, ÄSCHYLUS läßt die personifizierte Gewalt kein einziges Wort reden. Sie muß stumm sein. Sobald die Religion einen räsonierenden Katechismus drucken läßt, sobald der politische Absolutismus eine offizielle Staatszeitung herausgibt, haben beide ein Ende. Aber das ist eben unser Triumph, wir haben unsere Gegner zum Sprechen gebracht und sie müssen uns Rede stehen.

Es ist freilich nicht zu leugnen, daß der religiöse Absolutismus, ebenso wie der politische, sehr gewaltige Organe seines Wortes gefunden hat. Doch laßt uns darob nicht bange sein. Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrecht erhalten".
Damit keine Mißverständnisse entstehen: es wird nicht behauptet, daß Sprachlenkung als Instrument politischer Macht nicht effektiv sein könne oder gar unmöglich sei. Doch es wird behauptet, daß sie durchschaut und damit gegen den Propagandisten gekehrt werden kann, die Unmöglichkeit der totalen Beeinflußung oben genannter Prädispositionen vorausgesetzt.

Der Versuch einer Sprachlenkung oder einer gruppeninternen Sprachregelung ebenso wie die ideologische Sprachkritik lassen sich auf eine Wurzel zurückführen: auf den "Mythos der Monosemie", den sprachrealistischen Mythos der Identität von Wort und Ding: "Wo ein Wort ist, ist in jedem Fall auch ein "Begriff", eine "Idee", ein "Ding" vorhanden... Was keinen Namen hat, gibt es nicht ... Was mit dem gleichen Wort bezeichnet wird, ist gleich ... Vorstellungen und Dinge, die verschiedene Namen haben, sind verschieden...". Diese Vorurteile, die Dieckmann bei den propagandistisch beeinflußten Hörern/Lesern annimmt, werden von den Progagandisten in gleichem Maße gehabt.

Der demagogische Sprachsouverän ist eine Fiktion, und nur in Bereichen, die die Menschen nicht unmittelbar angehen und über die sie darum auch nicht viel Bescheid wissen, kann man sie für das Eine wie für das Andere nach Belieben interessieren. Hingegen wird "der Verstand des stumpfesten Menschen ... scharf, wenn es sehr angelegenen Objekten seines Wollens gilt: er merkt, beachtet und unterscheidet jetzt mit großer Feinheit auch die kleinsten Umstände, welche auf sein Wünschen oder Fürchten Bezug haben. Dies trägt viel bei zu der oft mit Überraschung bemerkten Schlauheit der Dummen".

Wer die "Eigenmacht des Wortes" oder den "traditionellen Sinn eines Schlüsselbegriffs" für die eigenen politischen Zwecke reklamiert, wer pedantisch auf das Wort anstatt auf das Wesen der Sache sieht, der unterläuft zudem ständig den Dialog. Er unterstellt demjenigen, der eine Sache aus seiner Sicht, also sprachlich entsprechend anders artikuliert, daß er nur verbal kritisiere, daß er sprachliche Konventionen ignoriere, daß sachlich nur argumentiert werden könne, wenn diese Konventionen beachtet würden.

Die Kritik an der Kritik des politischen Gegners wird so zu einer Kritik an dessen sprachlicher "Waffenkammer". Man läßt sich nur auf seine Sprache ein, nicht auf die inhaltlichen Einwände, wobei man davon ausgeht, daß diese Sprache ideologisch, von Schlagwörtern bestimmt und daher irreführend sei. A.V. WEISS z.B. geht es genau in diesem Sinn nicht um geistige Auseinandersetzung als vielmehr um die Mittel der geistigen Auseinandersetzung: "Wir hoffen, damit all denen, die sich mit den Wortführern und Anhängern der Neuen Linken auseinandersetzen müssen oder wollen, ein brauchbares  Handwerkszeug  liefern zu können.

Indem man sich aber über die Sprache, anstatt über die Sache für den Dialog präpariert, geht man - ohne sich dessen bewußt zu sein - auf dogmatische Abstraktionen ein, die auf der angestrebten Diskussionsebene niemals aufzulösen sind, sondern nur tautologisch und kontradiktorisch zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Unter diesem Aspekt scheint KALTENBRUNNERs Befürchtung, daß man sich die Sprache des politischen Gegners aufzwingen lasse, begründet.

Doch die Ursache dieser Überrumpelung ist dann nur in den übertriebenen Vorkehrungen des Überrumpelten zu suchen: weil er die Möglichkeiten eines Polit-Jargons überschätzt, sucht er ihm gut, d.h. mit den selben Wörtern gerüstet, zu begegnen und läuft ihm dabei geradewegs in die Arme: "Will man also eine Diskussion mit der Neuen Linken führen, ist es daher unerläßlich, daß man sich vorher hinreichende Kenntnisse der marxistischen bzw. neomarxistischen Theorie sowie der entsprechenden Fachsprache in ihren Grundzügen verschafft".

Die ideologische Sprachkritik, als die Kritik an der Sprache des politischen Gegners, die sich äußert entweder im Beharren auf dem traditionellen Sinn von Schlüsselbegriffen, in sektiererischer Ablehnung bestehender Sprachkonventionen oder in definitorischen Palavern, hat somit nur den Effekt, daß die politischen Fronten, die in der Wirklichkeit vorhanden sind und darum entsprechend kontrovers artikuliert werden müßten, verschwimmen, und der eine schließlich hüben oder drüben mit seiner Meinung steht, ohne daß man mehr genau weiß,  warum. 
LITERATUR - Franz Deubzer, Methoden der Sprachkritik, Münchner Germanistische Beiträge,
München 1980