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HERMANN COHEN
Logik der reinen Erkenntnis
(2/5)

 - Vorrede / Einleitung und Disposition
1. Die vierfache Bedeutung von Erkenntnis
2. Die Geschichte des Begriffs der reinen Erkenntnis
3. Das Verhältnis der Logik der reinen Erkenntnis zur Kritik
4. Das Problem der Psychologie
5. Das Denken der Wissenschaft
6. Das Denken der Wissenschaft und die Psychologie
7. Die Terminologie des Denkens
8. Die Logik des Ursprungs
9. Umfang der Logik
10. Das Urteil und die Kategorien
11. Das Urteil und das Denken
12. Die Arten des Urteils und die Einheit der Erkenntnis
Erste Klasse: DIE URTEILE DER DENKGESETZE
Erstes Urteil: Das Urteil des Ursprungs
Zweites Urteil: Das Urteil der Identität
Drittes Urteil: Das Urteil des Widerspruchs
   
"Die Idee dagegen ist das  Selbstbewußtsein des Begriffs.  Sie ist der Logos des Begriffs, denn sie gibt Rechenschaft vom Begriff."

"  Was ist?  Diese Frage sollte zugleich die Antwort sein. In der Tat ist das Wesen und der Wert des Begriffs dadurch getroffen. In den höchsten und kompliziertesten Gestaltungen selbst muß der Begriff immer doch Frage sein und Frage bleiben."

"Die Infinitesimal-Analysis ist das legitime Instrument der mathematischen Naturwissenschaft. Auf ihr beruhen alle ihre Methoden. In ihrer Gewißheit ruht die Gewißheit der Wissenschaft, das Problematische auch, das ihr noch anhaftet."

"Der Stoff des Denkens ist nicht der Urstoff des Bewußtseins. Nicht um den psychologischen Inhalt handelt es sich und nicht um den psychologischen Vorgang. Das reine Denken ist nicht Vorstellungen, ist nicht Bewußtseinsvorgang. So ist auch der Inhalt des Denkens überhaupt nicht Stoff, sondern eben Einheit."
   

1. Die vierfache Bedeutung von Erkenntnis

Erkenntnis, das wichtigste Wort der Sprache, hat trotzdem nicht eine einzige, jede Zweideutigkeit ausschließende Bedeutung im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Es dürften sich  vier Bedeutungen  des Wortes unterscheiden lassen. Und diesen vier Bedeutungen dürften  vier  Standpunkte entsprechen, welche dem Problem der Erkenntnis gegenüber von der philosophierenden Vernunft eingenommen werden.

Die Erkenntnis bedeutet  erstens  den  einzelnen Erwerb der Forschung,  wie im gewöhnlichen Leben den der Wahrnehmung und der Kenntnisnahme. Erkenntnis ist hier seinem faktischen Wert nach gleichbedeutend mit  Kenntnis,  wenngleich die Vorsilbe die Ermittlung des Inhalts anzeigt. Erkenntnis bedeutet hier den Inhalt des Wissens, ohne den das Wissen ohne Gehalt und ohne Wert wäre. Es ist daher der Standpunkt der  Induktion,  der in dieser Bedeutung der Erkenntnis sich ausprägt. Alles Wissen und alle Wissenschaft beruhe auf dem selbständigen, unentbehrlichen und unersetzlichen Wert der einzelnen Erkenntnis. Das Allgemeine könne sich erst auf dem Grunde des Einzelnen erheben. Alles Wissen sei grundlos und alles Forschen eitel, wenn es nicht durch die Kenntnis des Einzelnen, der daher auch diesem ihrem Wert nach die Bedeutung der Erkenntnis zustehe, begründet und gesichert wäre.

Eine Nebenart unter dieser Bedeutung bildet der  juristische  Sprachgebrauch des Wortes. In diesem heißt das richterliche Urteil Erkenntnis; gewiß nicht ausschließlich in dem Sinne, daß dadurch die methodische und ordnungsmäßige Ermittlung des Urteils, sondern vielmehr in dem, daß dadurch die reife, gültige Lösung der obschwebenden Streitfrage bezeichnet werde. Man möchte einen Fortschritt in dem Bewußtsein wissenschaftlicher Verantwortlichkeit vermuten dürfen in dem Wandel des juristischen Sprachgebrauchs von Urteil zu Erkenntnis.

Die Erkenntnis bedeutet  zweitens  im Unterschied vom Einzelnen das  Allgemein des Wissens. Und wie das Allgemeine häufig für gleichbedeutend genommen wird mit dem Ganzen, so bedeutet Erkenntnis auch das Ganze oder den  Inbegriff des wissenschaftlichen Gutes  oder überhaupt des menschlichen Wissens. Der Standpunkt der Induktion wird hier weit überstiegen. Denn es muß schon fraglich werden, ob im Gebiet und auf dem Arbeitsfeld des Geistes das Ganze gleich der Summe seiner Teile ist.  Das Allgemeine ist daher nicht schlechthin gleich dem Ganzen.  Und der Inbegriff des wissenschaftlichen Besitzes ist mehr als die Summe der einzelnen Tatsachen des Wissens. Dieses Mehr deutet die Erkenntnis, als die Gesamtheit des Wissens, an.  Die Gesamtheit wird zur Einheit. 

In dieser Bestimmung wird der idealische Charakter der Erkenntnis noch unverkennbarer. Wenn schon der Inbegriff nicht die bloße Summe der Summanden sein kann, so kann man umsoweniger verstehen, woher die Einheit kommen soll. Sie kann sich nicht von selbst ergeben. Somit weist die Bedeutung der Erkenntnis,  als Inbegriff und als Einheit des Wissens,  auf eine Aufgabe hin, welche versteckt im Wort liegt. Weil aber diese höhere Aufgabe im Wort nicht zum deutlichen Ausdruck gelangt, so ist es verständlich, daß erst eine andere Bedeutung des Wortes dieselbe zur Erklärung und zur Klarheit bringen muß. Da es sich aber hierbei um das höchste Ideal und um das tiefste Problem handelt, so wird es ebenso verständlich, daß sich noch eine andere Bedeutung des Wortes um diese Aufgabe bewirbt.

Die Erkenntnis bedeutet  drittens das Erkennen.  Der Inbegriff lenkt zum Vorgang ab. Wenn das Wissen in der Einheit eines Inbegriffs sich soll zusammenfassen lassen, so meint man an die Einheitlichkeit des Vorgangs, in welchem das Erkennen sich vollzieht, am sichersten sich halten zu dürfen. Wenn alles Wissen eine Einheit haben soll, so glaubt man die Wurzel derselben im  Bewußtseinsvorgang  des Erkennens bestimmen zu können. Und man nimmt diese Bestimmung im Hochgefühl des Psychologismus als Beschränkung; denn nur soweit sich die Wurzel erstreckt, nur soweit dürfe man verständiger Weise auch die Einheit des Wissens annehmen und fordern.  Der Einheitswert der Erkenntnis erschöpft sich für diese Ansicht in der Einheitlichkeit des Vorgangs des Erkennens.  Gibt es denn aber eine solche Einheitlichkeit des Erkenntnisvorganges? Darüber befinde die  Psychologie.  Und so wird das Schicksal des Wissens der Psychologie überwiesen. Die Erkenntnis aber verliert somit alle eigentliche Bedeutung eines Inhalts, einer einzelnen Kenntnis, wie vollends des Inbegriffs aller. Aus einem Objekt wird sie zum Verbum. Kann aber die Tätigkeit dem Ertrage die Einheit sichern, oder auch nur geben?

 Die Tätigkeit des Erkennens ist keineswegs eine einfache.  Zuerst sind körperliche  Gemeingefühle  zu beachten, welche sich in die abstraktesten Vorgänge eindrängen. Sodann sind die Vorgänge des Bewußtseins, welche zu jenem Zweck zusammenwirken, sehr unterschiedlicher Art. Wie sehr man auch den Unterschied verengen mag zwischen der  Einwirkung,  die von Außen kommt und der  Vorstellung,  die von Innen aufsteigt, gänzlich aufgehoben kann er doch nicht werden. Und so kann die angenommene Einheitlichkeit des Erkenntnisvorgangs doch nur bestehen in einer angenommenen Unveränderlichkeit der Mehrheit und Mannigfaltigkeit von Vorgängen, welche bei der Erkenntnis zusammenwirken. Der Wert dieser Art von Einheit, bei welcher die mitwirkenden Elemente verschiedenartig bleiben, muß doch wohl fraglich erscheinen. Nur wenn die Untersuchung über das Erkennen es vermöchte, die zum Ganzen des Erkennens beitragenden Bewußtseinsvorgänge  gleichartig  zu machen, so daß keine Verschiedenheit bliebe zwischen der sogenannten Empfindung und der sogenannten Vorstellung, nur dann könnte ihr zugestanden werden, eine Einheit der Erkenntnis zu erschließen. Aber auch andere Bedenken erheben sich gegen diese Bedeutung und ihren Anspruch.

Es ist nicht nur eine unreinliche Komplikation, welche das Erkennen mit elementaren Gefühlen in Verbindung bringt, sondern es entsteht zugleich auf diesem Weg eine wichtige und eigenartige Weise des Bewußtseins: die  ästhetische  Vorstellung der Phantasie. Wie unterscheidet sich diese vom Erkennen? Wo liegt das Kriterium des Unterschieds? Was unterscheidet die Wahrheit von der Schönheit? Kann die Psychologie etwa die Kriterien entdecken oder muß sie dieselben anderswoher entlehnen? Und ferner: Das Erkennen verbindet sich auch mit Strebungen und Begehrungen und kompliziert sich zum  Willen.  Es hat nicht an Schulen gefehlt, welche den Intellekt und den Willen gleichsetzten. Wo liegt das Kriterium für die Möglichkeit der Unterscheidung beider? Welche Instanz unterscheidet Wahrheit und Freiheit oder Sittlichkeit?

Man sieht, die Inhalte, auf welche das Erkennen sich bezieht und mit denen es in Verbindung tritt oder aber in Kollision gerät, sind so mannigfach und so verwickelt, daß von diesem Gesichtspunkt aus die Einheit der Erkenntnis nicht leicht, nicht sicher hervortreten dürfte. Der Bewußtseinsvorgang des Erkennens als solcher läßt sich nicht so isolieren, daß er die Einheit des Inhalts der Erkenntnis darstellen und verbürgen könnte. Die Einheit aber ist Mittel zur Herstellung des Inbegriffs. Wie anders sollte das Ganze, die Gesamtheit, der Inbegriff der Erkenntnis zustande gebracht werden können, wenn nicht durch den Kunstgriff der Einheit? Kann also der Bewußtseinsvorgang die Einheit nicht durchsichtig machen, so bleibt ihm auch der Inbegriff versagt. Die Bedeutung der Erkenntnis kann daher nicht in der des Erkennens aufgehen.

Die Erkenntnis bedeutet  viertens  die  reine  Erkenntnis. Der Ausdruck "rein" ist von denjenigen in Griechenland gebraucht worden, welche die Philosophie zugleich mit der Mathematik gepflegt haben. Die pythagoreischen Kreise gegünstigen ihn und PLATO bringt ihn in den Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Terminologie. Fern bleibe der profane Verdacht, als ob das Reine des Inhalts entledigt wäre. Nur der unreine Inhalt, der kein wahrhafter Inhalt ist, bildet den Gegensatz zum Reinen; aber auch nur in dem Sinn, daß das Reine auf den unreinen Inhalt bezogen werden, um ihn in reinen Inhalt zu verwandeln. Das ist die unweigerliche Beziehung, die das Reine auf den Inhalt hat. Ohne diese wird das Reine sinnlos.

In den Anfängen der griechischen Kultur regt sich diese Tendenz zum Reinen. Die plastische Natur der Griechen nimmt dennoch Anstoß an der Alleinherrschaft der  Empfindung.  Zugleich mit dem Sinn für die Einheit erwacht das Interesse an der Eigenart und daher am eigenen Wert des  Denkens.  Und während einerseits das Denken mit der Sprache in etymologischer Verknüpfung gedacht und auf dieser Bahn zur Vernunft, zum Logos wird, rankt sich eine andere Richtung an den anderen sprachlichen Vertreter der Vernunft an, den der  Nus  bildet. PLATO operiert mit diesen beiden Wortbildungen und er verschärft die Gefahr, indem er die mancherlei Wendungen für das abstrakte Denken doch wieder mit den mancherlei Ausdrücken für  Sehen  und  Schauen  in Verbindung setzt. Er ermöglicht diese Verbindung selbst durch den umfassenden und genauen Gebraucht, den er vom Reinen macht. Die Sinne werden nicht so verworfen, daß sie der Reinheit entrückt, der Kompetenz der Reinheit entblößt werden.

Diese kühne Ausdehnung des Reinen auf die Sinnlichkeit selbst konnte PLATO wagen und sie konnte ihm gelingen, weil er die Erkenntnis durch den Begriff des Reinen zu einer plastischen Bestimmtheit gebracht hat. Diese liegt im Terminus der  Idee Idee ist der Wurzel nach auch mit dem Sehen verwandt. Dennoch bezeichnet und bedeutet sie und nur sie, das wahrhafte  Sein,  den wahrhaften Inhalt der Erkenntnis. Gewiß, die Idee wird im reinen Schauen gewonnen. Und dieses reine Schauen ist das reine Denken. Aber es ist doch also auch umgekehrt wahr, daß das reine Denken das reine Schauen sei.  Wo liegt nun das Kriterium der Reinheit?  Und wo demgemäß das des wahrhaften Seins?

Oder soll man, um die Reinheit zu erhärten, zu einem anderen Wortstamm übergehen und in der Rede, die die Seele in sich selbst und zu sich selbst hält, die Reinheit erlauschen? Von allem anderen abgesehen, geht so der Zusammenhang mit der Idee verloren. Und es läßt sich ein bedeutsamer Gegensatz in der Geschichte verfolgen zwischen den  Spiritualisten,  die den  Logos  vertreten und den  Kritizisten,  die für die Ideen und vorallem für die  Idee  kämpfen.  Die Idee, nicht ihre Mehrheit, charakterisiert den Idealismus.  Der Wert der Ideen, so viele ihrer sind, liegt im Wert der Idee.  Durch die Idee erst erlangt das Reine seinen methodischen Wert. 


2. Die Geschichte des Begriffs der reinen Erkenntnis

Also bestimmt die Idee durch die Reinheit den Wert der Erkenntnis.  Die Idee ist die Erkenntnis.  Worauf beruht diese Identität? Welches Moment in der Idee bewirkt diese Gleichheit? Die Antwort auf diese Frage muß man in der Geschichte suchen, welche die Art und die Fruchtbarkeit weltgeschichtlicher Begriffe, als weltgeschichtlicher Mächte, enthüllt. Die Wirksamkeit der Platonischen Idee ist nicht auf die Platonische Schule beschränkt, in der sie ohnehin durch ARISTOTELES durchkreuzt wurde, noch auch auf das Altertum überhaupt, obschon alle wissenschaftlichen Faktoren desseleben in einem intimen Zusammenhang mit ihr stehen. Die Renaissance ist vorzugsweise die Renaissance PLATONs. In der Renaissance der Mathematik und der Mechanik bewährt sich die treibende Kraft der Platonischen Idee.

Das Tiefste und das fruchtbarste methodische Mittel, mit dem die Astronomen des neuen Weltbildes arbeiten, ist die  Hypothese.  Und wie sehr sie alle, von KOPERNIKUS bis zu NEWTON, gegen den verdächtigen Nebensinn des Wortes sich wehren, es bleibt doch beim genialen Verständnis, welches KEPLER von der Platonischen Idee, als  Hypothesis,  besessen hat. Sie ist die Grundlage, vielmehr die  Grundlegung,  welche der Instruktion einer jeden exakten Untersuchung vorausgehen muß. Solcher  notwendigen Voraussetzungen  sind sich alle die großen Führer der Renaissance bewußt und verschieden in dem Grad der Überwindung ihrer genialen Naivität, lassen sie alle diese Voraussetzungen nachdrücklich zu Wort kommen. "Mente concipio", sagt GALILEI. Der Triangel sei ein "Idée innée", sagt DESCARTES. LEIBNIZ hat das fundamentale Werkzeug des Infinitesimalen geschaffen, den Prototyp einer  Raison a priori,  wie er jene Hypothesis vorzugsweise benannte. Und NEWTON endlich, der den Hypothesenmachern sein  Hypotheses non fingo  entgegengeschleudert, hat nichtsdestoweniger die Hypothese zum  Prinzip  gemacht und als solche sie in sein Werk nicht nur aufgenommen, sondern zum Titelbegriff seines Werkes gemacht.

 Prinzip  war einer der Ausdrücke, unter denen das Problem der Hypothesis in seinem Zeitalter verhandelt wurde. Wie sich die Prinzipien der Metaphysik zu den Prinzipien der Mechanik verhalten, das ist eine der Grundfragen in LEIBNIZens Briefwechsel. NEWTON beschränkt zwar scheinbar im Titel die Prinzipien auf die Mathematik; aber durch die Beziehung derselben auf die Philosophia naturalis erledigt sich diese Beschränkung von selbst. Ohnehin wird sie durch seine Definitionen aufgehoben und vollends durch seine  Gesetze der Bewegung.  Wir pflegen heute nicht allein diese drei Bewegungsgesetze, welche NEWTON dem Planetensysten zugrunde legt, als Prinzipien zu denken; dennoch darf man gegenüber dem schwankenden Sprachgebrauch für den Begriff des Prinzips sie vornehmlich als die Prinzipien, als die reinen Erkenntnisse der neuen, der mathematischen Naturwissenschaft in Anspruch nehmen. So hat die Idee, als Hypothesis oder als Prinzip, in dessen Wortsinn die Reinheit unmittelbar hervortritt, den neuen Begriff der Erkenntnis geschaffen.

Von der Tatsache dieser Prinzipien ist KANT ausgegangen. Wie er von seiner Jugend an seine ganze Entwicklung hindurch es als die Aufgabe der Philosophie erklärt, "die Methode Newtons" auf die Metaphysik zu übertragen, so vollzieht sich seine Reife in der Festsetzung dieses Verhältnisses zwischen der Metaphysik und der Methode NEWTONs. Die Methode NEWTONs hat zum System NEWTONs geführt. Aber dieses System ist nicht in erster Linie das Planetensystem, sondern das System der Prinzipien, als das System der Methoden reiner Naturwissenschaft. Das ist der Vorteil, den die geschichtliche Situation KANT darbot und darin beruht der Vorzug seiner Disposition. Wie die Methode NEWTONs als das System der Methoden und dadurch als das System der Welt ihm klar wurde, so änderte sich ihm der schwankende Sinn des Wortes  Metaphysik.  Sie wurde zur  Kritik  und zwar zuvörderst zur Kritik des Systems der Methoden, der Prinzipien NEWTONs.

Auch KANT faßte zwar die reinen Erkenntnisse aller Art unter dem Namen der  Vernunft  zusammen; hierin folgt er dem Sprachgebrauch der rationalistischen Klassiker; denn auch DESCARTES und LEIBNIZ bezogen die eingeborenen Ideen und die ewigen Wahrheiten auf den Triangel und die mechanischen Prinzipien ebenso, wie auf Seele und Gott und sie fassen beide Arten unter der Vernunft zusammen.  Aber Kant sonderte trotzdem streng und scharf jene verschiedenartigen Interessen und Probleme der Metaphysik.  Er sah zunächst von aller Moralphilosophie und Theologie ab und somit auch von aller rationalen Psychologie und konzentrierte die Metaphysik zunächst ausschließlich auf das Problem von NEWTONs System der Prinzipien. Kraft dieser Beschränkung, dieser Präzisierung und Isolierung der Aufgabe  wurde die Metaphysik ihm zur Kritik. 

Diese Bedeutung der Kritik, die Festlegung der Beziehung zwischen Metaphysik und mathematischer Naturwissenschaft, sie ist die entscheidende Tat KANTs, durch welche nach langer Entwicklung, in welcher er von seinen Jugendjahren an das Desiderat der Methode NEWTONs für die Metaphysik nur allgemein, wenngleich dringend und energisch fühlte, er endlich zum Systematiker gereift war. Das System der Natur brachte ihn zum System der Metaphysik. Aber das Mittel lag in der Kritik, der Kritik der Prinzipien. So wurde das System der Metaphysik zum System der Kritik.

Die Prinzipien, die  Grundsätze,  sie bilden fortan das Problem; die synthetischen Grundsätze, wie KANT gemäß der Bedeutung, die er dem Wort "synthetisch" gab, sie benannte, sie werden der mathematischen Naturwissenschaft zugrunde gelegt in offener, klarer, methodischer Auseinandersetzung. Diese Prinzipien machen diese Wissenschaft zur Wissenschaft und erklären den stetigen Fortgang derselben. Sie sind die reinen Erkenntnisse, deren Recht und deren Besitz die spekulierende Vernunft von altersher geahnt, behauptet und verteidigt hat. Sie lagen nunmehr in einem geschlossenen System als fruchtbare Voraussetzungen vor. Die Arbeit der Metaphysik war jetzt nicht etwa getan, aber sie konnte auf einem klaren Boden anfangen. Die Philosophie konnte und sollte, als Kritik, einen neuen Anfang nehmen.

Die Kritik war nicht nur die entscheidende Tat in der persönlichen Entwicklung KANTs: sie ist die weltgeschichtliche Tat KANTs. In ihrer Entdeckung, in der Ausgestaltung der Methode der Kritik besteht der bleibende Wert der Kantischen Gedankenwelt. Es soll hiermit nicht die Meinung vorgetragen sein, daß dieser Wert in der Methodologie der Kritik sich schlechterdings erschöpfe. Aber es kommt für den gesunden Fortgang der philosophischen Forschung auf die offene und klare Unterscheidung an zwischen dieser Bedeutung der Kritik, die in der Festlegung des Verhältnisses zwischen Metaphysik und mathematischer Naturwissenschaft besteht und allem noch so wichtigen Einzelinhalt der Kantischen Gedanken selbst. Über diese mag Streit sein und muß freie Bahn offen sein; über jene darf kein Streit sein, sofern der Kompass der Wissenschaft nicht verrückt werden soll. Die mächtigen, die schöpferischen Geister haben von den Griechen ab zu allen Zeiten nach diesem Kompass gesteuert; nur war die Fahrt häufig durch Nebel gekreuzt, welche die Verschiedenartigkeit der metaphyisischen Probleme zusammenballte. Das 18. Jahrhundert hat endlich die Aufrichtigkeit heraufgeführt, welche in der Einsicht und dem Eingeständnis sich Luft machte, daß die moralische Gewißheit von anderer Art sei, als die mathematisch-naturwissenschaftliche.

Man möchte sagen dürfen, diese Bedeutung der Kritik sei nicht nur ein Grenzstein der wissenschaftlichen Arbeit, sondern zugleich ein Scheidepunkt der Gesinnung. Diejenigen, welche sich dieser Grenzlinie entziehen, sind nicht nur die "Vornehmen", als welche KANT sie entlarvt hat, die nicht arbeiten wollen; man darf vielleicht bescheidener und richtiger noch sagen, die nicht lernen wollen; sie sind von KANT zugleich auch als die Feinde der Aufklärung gekennzeichnet worden, die "Genieschwüngen" nachgehen und Erleuchtungen, anstatt die Wissenschaft als die alleinige Quelle der Wahrheit anzusehen. Mephisto verrät den tiefen Spruch, daß man in der Wissenschaft zugleich die Vernunft verachte.

Darin vor allem besteht der Abfall von KANT, der einen kurzen Aufschwung, aber einen jähen Absturz des philosophischen Betriebes zur Folge hatte: daß sie die Scheidewand wieder einrissen zwischen den  verschiedenartigen  Problemen der Metaphysik. Und diese Verschmähung der Aufklärung und ihrer Ehrlichkeit, die sie pietätlos verspotteten, hatte freilich ihren moralischen Grund oder wenigstens einen religiösen, um nicht zu sagen einen kirchenpolitischen. Aber der wissenschaftliche Vorwand lag in der  Auflehnung gegen Newton. Die Idee sollte wieder Gott und die Natur zugleich bedeuten,  und zwar nicht, wie DESCARTES allenfalls diese Einheit erstrebte, sondern SPINOZA suchte man hervor, der die Metaphysik in Ethik aufhob und der außerhalb der Linie steht, die von GALILEI ausgeht und durch DESCARTES und LEIBNIZ zu NEWTON führt. Die Philosophie sollte wieder  Religionsphilosophie  werden. Auch in der Philosophie ging die Romantik wieder zum Mittelalter zurück.

Was auch an universeller und an künstlerischer Auffassung der  Geschichte  durch die philosophische Romantik der Identitäts-Systeme gewonnen sein mag - NIEBUHR übrigens, der Methodiker der Geschichte, geht ihnen voraus und ist ein Jünger KANTs - durch das Verlassen und Verwerfen von NEWTONs System der Prinzipien hat die Philosophie mit dem ehrlichen Herzen zugleich den klaren Kopf verloren. Die neuen Wahrheiten wurden Begriffe der genialen Intuition und intellektuale Anschauungen, aber der strenge Begriff der reinen Erkenntnisse, der sich auf die Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaften beschränkte, für ihn gab es keinen Rang und keinen Halt mehr; seine Spur verwischte sich. Diese Prinzipien aber gehen durch die Weltgeschichte der Vernunft. Ihre Formulierung wandelt sich, jedoch die Motive bleiben dieselben; sie sind gleichsam das ABC der Vernunft. Indem jene Romantiker die reinen Erkenntnisse in dieser präzisen Einschränkung preisgaben, verleugneten sie den sichersten Besitz und das höchste Recht der Vernunft.


3. Das Verhältnis der Logik der reinen
Erkenntnis zur Kritik und Metaphysik

Wir fangen hier wieder von vorn an. Das will sagen, wir stellen uns wieder auf den Boden der Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft. Sie sollen von Neuem als die reinen Erkenntnisse nachgewiesen, im Zusammenhang der Vernunft wieder entdeckt werden. Wie verhält es sich mit der Aufgabe solcher Nachweisung, mit dem Anspruch solcher Entdeckun? Bleibt es auch hier bei der Kritik, deren methodische Bedeutung doch auf die Abgrenzung der Aufgaben und auf die Festlegung der Beziehung von Metaphysik auf mathematische Naturwissenschaft beschränkt wurde? Wir streiten nicht um den Namen; es handelt sich dabei aber um eine wichtige Sache.

Die Kritik KANTs zerfiel in Logik und Dialektik. Die Dialektik enthielt den negativen Teil der Kritik; sie betraf die Psychologie, die Kosmologie samt der Freiheitslehre und die Theologie in den Beweisen vom Dasein Gottes. Die Logik brachte den positiven Teil: die Begründung der mathematischen Naturwissenschaft. Dieser Logik aber ging eine Ästhetik voraus, als Lehre von der reinen Sinnlichkeit. Geschichtlich ist diese Parteinahme KANTs für die Sinnlichkeit durchaus verständlich. Sie erklärt sich nicht nur aus seinem Opportunismus gegen die englischen Verfechter der Sinnlichkeit, sondern aus den Schwächen und Blößen, die in der Position LEIBNIZens lagen und die für uns heute deutlich genug mit seinen Stärken zusammenhängen. Wie sehr aber die reine Anschauung KANTs mit dem reinen Denken bei DESCARTES und bei LEIBNIZ innerlich sich deckt; KANT dringt doch darauf, die reine Anschauung vom reinen Denken zu unterscheiden. Nicht, daß sie getrennt bleiben sollten, sondern vielmehr damit sie sich verbinden und zur Verbindung geeignet weden. Durch diesen Plan seiner methodischen Terminologie ist aber, von der Anschauung abgesehen, dem Denken ein innerlicher Schaden zugefügt worden.

 Dem Denken ging so eine Anschauung voraus.  Auch diese ist rein, also ist sie dem Denken verwandt. Aber das Denken hat doch seinen Anfang in Etwas außerhalb seiner selbst. Hier liegt die Schwäche der Grundlegung KANTs. Hier liegt der Grund für den Abfall, der alsbald in seiner Schule hereinbrach. Indem wir uns wieder auf den Boden der Kritik stellen, lehnen wir es ab, der Logik eine Lehre von der Sinnlichkeit vorausgehen zu lassen.  Wir fangen mit dem Denken an.  Das Denken darf keinen Ursprung haben außerhalb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß. Das reine Denken in sich selbst und ausschließlich muß die reinen Erkenntnisse zur Erzeugung bringen. Mithin muß die Lehre vom Denken die Lehre von der Erkenntnis werden.  Als solche Lehre vom Denken, welche an sich Lehre von der Erkenntnis ist, suchen wir hier die Logik aufzubauen. 

Wie verschieden ist das Ansehen und wie verschieden allerdings auch der Gehalt der Logik im Wechsel der Jahrhunderte. Bei PLATON scheint sie noch so latent, daß man ARISTOTELES als ihren Begründer ansehen konnte. Und doch ist PLATO, abgesehen von allem Einzelnen, was er für die Logik geleistet hat, der  Urheber der Idee:  gehört die Idee etwa nicht in die Logik? Das tiefe Mißverständnis der Idee besteht darinu, daß man für sie eine  Metaphysik  annahm. Freilich ist PLATO nicht ohne Schuld an dieser zweifelhaften Heimat seiner Idee, insofern sie auch in der Ethik ihr natürliches Gebiet hat. Es ist aber später nicht sowohl zum Unterschied zwischen Ethik und Logik gekommen - dann hätte die Idee aus der Logik nicht ausgewiesen zu werden brauchen - als vielmehr zum  Unterschied zwischen Metaphysik und Logik. 

ARISTOTELES hat diese Unterscheidung herbeigeführt; obwohl stets Streit darüber gewesen ist, in welcher methodischen Tendenz seine Logik gemeint sei. Er behandelt in den zweiten Analytiken die Methodologie der Erkenntnis. Dies sollte ihn schon vom Verdacht reinigen, als ob seine Logik die sachlichen Ansprüche der wissenschaftlichen Forschung außer Acht ließe. Aber er entwirft eine aparte Lehre vom  Sein,  deren methodische Zweideutigkeit durch einen zweideutigen Buchtitel noch gesteigert wurde. So wurde die Metaphysik ihrer methodischen Grundlagen beraubt und die Logik verlor die natürliche Beziehung auf ihre sachliche Geltung.

So entstand das Gespenst der  formalen Logik.  Freilich war damit keine Herabsetzung der Logik beabsichtigt. Denn die Form war ja in einen Seele des ARISTOTELES gleich dem Wesen, wenngleich seine andere Seele sich für das Wesen an die Materie, also an die Sache, hielt. Aber wie die Zweideutigkeit dieser Terminologie bei aller Förderung, die sie der Variabilität des wissenschaftlichen Denkens verlieh, oft genug den Wert der Philosophie zweifelhaft machte, so hat sie auch die Bedeutung der Logik verwirrt. Kann es Formen geben dürfen, die nicht die Sache bedeuten? Die Sache ist und bleibt die Erkenntnis. Also können die Formen der Logik durchaus nichts anderes, als die Formen der Erkenntnis sein.

Ein Nebenumstand hat noch auf einen anderen Abweg verleitet. Der Zusammenhang von  Vernunft und Sprache  ist früh beachtet worden. Im Wort  Logos  tritt er zutage. ARISTOTELES zumal mißachtete keine konventionelle Macht. Der Sprachgebrauch gilt ihm als ein legitimer Tyrann. Ohnehin hatten die Sophisten vielleicht ihre redlichste Arbeit an der Grammatik versucht. So brachte er die Formen der Sprache, die Redeteile und die Formen des Satzes mit der Logik in Verhältnis; und die formale Logik wurde zum guten Teil eine  allgemeine Grammatik.  Der Schaden, der dadurch der Grammatik zugefügt wurde, dürfte doch gering sein gegenüber der Entstellung, die dadurch der Logik widerfuhr. Der Naturlaut der Sprache wurde damit zum Quellgebiet der Vernunft gemacht. Nicht Vernunft, Geist, Gefühl beseelen den Naturlaut, sondern umgekehrt die natürlichen Ausgeburten des Lautes sollen die ewigen Formen der Vernunft darstellen und ausprägen. Die Sprache aber ist mehr als der Laut. Und was sie mehr ist, das gibt ihr die Vernunft.

Ob die Vernunft zum Ausdruck und zur Ausbildung gelangen könnte ohne den Laut, das ist eine Frage von weittragender Bedeutung. Und diese Frage darf als entschieden gelten zugunsten der Naturkraft des Lautes. Keine zulässige Frage aber ist es, ob der Laut selbständig und vollständig den Geist formen könne. Logos bedeutet Sprache und Vernunft, das will sagen: der Gehalt der Sprache ist der Inhalt der Vernnft. Die Formen dieses Inhaltes aber, das sind letztlich die Erkenntnisse. Also können die Formen der Sprache nicht im Gegensatz zu den Erkenntnissen die Formen der Vernunft bedeuten. Wollte man dagegen die grammatischen Formen der Sprache den Erkenntnisse gleichsetzen, so wäre der Fehler schlimmer noch als bei der Psychologie des Erkennens. Man müßte die mathematische Naturwissenschaft alsdann sogar in den Inhalt der Grammatik aufnehmen. Denn nicht um ihren sprachlichen Ausdruck handelt es sich bei den Formen der Sprach-Vernunft, sondern um die Grundlegung der Erkenntnisse, um die Entdeckung reiner Erkenntnisse.

Es muß daher unweigerlich zugestanden werden, daß der Logik das Interessengebiet der alten Metaphysik nicht entrückt werden darf; genauer, daß die Logik die  Lehre von den Erkenntnissen  sein müsse. Denn daß die Logik sich über das Gebiet der mathematischen Naturwissenschaft hinaus auch auf die  Geisteswissenschaften  beziehen müsse, ändert nichts an der grundlegenden Beziehung der Logik auf die Erkenntnisse der mathematischen Naturwissenschaft. Denn die Geisteswissenschaften sind nicht ohne methodischen Zusammenhang mit jenen Erkenntnissen, die sie somit voraussetzen. Es muß daher bei der Relation verbleiben, die PARMENIDES als  Identität von Denken und Sein  geschmiedet hat. Das Sein ist Sein des Denkens. Daher ist das Denken, als Denken des Seins, Denken der Erkenntnis.

In dieser sachlichen Bedeutung ist der Begriff als das große Fragezeichen des Seins,  Was ist?  entdeckt worden; und die  Idee  ist die tiefere Antwort auf diese Frage. Denn der sokratische Begriff fragt nur und weiter geht auch die wohverstandene Bedeutung des Begriffs nicht. Die  Idee  dagegen ist das  Selbstbewußtsein des Begriffs.  Sie ist der Logos des Begriffs, denn sie gibt Rechenschaft vom Begriff. Und im Zusammenhang mit dem Zeitwort "geben" bedeutet der Logos in der Tat Rechenschaft. Diese rechtliche Bedeutung wird nunmehr tiefste Grundlage der Logik.  Die Idee ist die Rechenschaft des Begriffs.  In den Grundlagen oder den Prinzipien der reinen Erkenntnisse legt die Vernunft in der mathematischen Naturwissenschaft ihre Rechenschaft ab.

Die  Renaissance  erwacht mit dem Interesse an der Person, am Individuum, mithin am Bewußtsein.  Daher werden die Grundlagen der Erkenntnis zu Grundlagen des Bewußtseins.  Im  Moi-même  findet DESCARTES einen der Ausdrücke, mit denen er den Grund der Gewißheit der Erkenntnis bezeichnet. Und LEIBNIZ erfindet die  Apperzeption  in dieser Richtung der Probleme. Auf diesem Zusammenhang von Erkenntnis und Bewußtsein aus dem Gesichtspunkt der Grundlage beruth die Bevorzugung, welche KANT der  Einheit  des Bewußtseins zuerteilte, indem er sie als Grundlage und als Einheit der Erkenntnisse in den Mittelpunkt seiner systematischen Terminologie stellte.

Indessen dieser Ausdruck erleidet eine wichtige, man möchte Denken, entscheidende Einschränkung. Die Einheit des Bewußtseins steht keineswegs überhaupt im Mittelpunkt des Kantischen Systems; nicht einmal in dem der ersten Kritik; denn sie bezieht sich nicht auf die Probleme der Dialektik. Und sie bezieht sich auch positiv weder auf die Ethik, noch auf die Ästhetik. Dieser scheinbare Fehler in der Terminologie, die Einheit des Bewußtseins nicht zu erstrecken auf Sittlichkeit und Schönheit, ist jedoch ein Vorzug der Kantischen Wahrheit geworden. Denn die Einheit des Bewußtseins beruhte nunmehr strengstens in den Grundlagen derjenigen Erkenntnis, in denen sie sich präzise betätigte; in denen sie sich im sachlichen Wert von Grundsätzen entfaltete.  Die Einheit des Bewußtseins definierte sich als die Einheit des wissenschaftlichen Bewußtseins. 


4. Das Problem der Psychologie

Indessen das Bewußtsein ist nicht nur das wissenschaftliche Bewußtsein; Sittlichkeit und Kunst sind nicht minder seine legitimen Gebiete. Es kann daher nicht dabei bleiben, das Bewußtsein lediglich auf mathematische Naturwissenschaft zu beschränken. Aber die Verwischung des Unterschiedes darf nicht der Preis werden, um den die erforderliche Erweiterung zu erstehen wäre.  Es muß ein eigenes, ein besonderes Problem der Philosophie werden,  den Zusammenhang, die Kollisionen und den Einklang der  drei Gebiete des Bewußtseins  zur Prüfung und zur Darstellung zu bringen.  Dieses Interesse an der Einheit des Kulturbewußtseins muß als ein systematisches Interesse der Philosophie erkannt werden.  Das System der Philosophie kommt nicht ins Gleichgewicht, wenn es nicht diese wahrhafte Einheit des Bewußtseins bewältigt hat. Aus der Ahnung eines solchen philosophischen Eigenwertes der  Psychologie  erklären sich die sich stets wiederholenden heftigen Ansprüche derselben. Der Wert der Psychologie besteht nicht in dem Abschnitt, den sie innerhalb der Physiologie bildet. Und wenn sie dadurch allein Wissenschaft werden könnte, so würde sie damit aufhören, zur Philosophie zu gehören, geschweige denn Philosophie zu sein.

Der Wert der Psychologie besteht vielmehr im Problem der Einheit des Kulturbewußtseins, welches sie allein im Gesamtgebiet der Philosophie zu verwalten hat.  Somit gehört sie zum System der Philosophie,  und wenn das System darüber vier Teile erlangen muß. Die drei Glieder, welche vorausgehen, behandeln  drei Objekte:  die Natur, die Kultur der Sittlichkeit und die Kunst. Die Psychologie allein hat zu ihrem ausschließlichen Inhalt das  Subjekt,  die Einheit der menschlichen Kultur.  Für diese Einheit des Kulturbewußtseins reservieren wir den Ausdruck der Einheit des Bewußtseins.  Die Logik handelt nicht von dieser Einheit des Bewußtseins; sondern von der Einheit des Denkens, als des Denkens der Erkenntnis.
LITERATUR - Hermann Cohen, System der Philosophie - Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902