p4-2tb-1J. MüllerSchopenhauerH. HelmholtzC. ÜberhorstGoethe    
 
AFRIKAN SPIR
Was sehen wir?

"Die meisten Menschen haben nicht die entfernteste Ahnung davon, in was für einer Welt sie eigentlich leben, welcher Art die wirkliche Beschaffenheit der Dinge dieser Welt ist. Sie sind eben vollständig in der natürlichen Täuschung befangen und halten mit ungetrübter Zuversicht den naturnotwendigen Schein für die Wirklichkeit selbst. Ja, so gewaltig ist die Macht der natürlichen Täuschung, daß, obgleich ich dieselbe im Nachfolgenden mit vollkommener Evidenz aufdecken werde, doch vielleicht die meisten Leser aller Evidenz zum Trotz dem Schein untertan bleiben werden. Wer sich aber einmal über den Schein erhoben hat, wird mit Verwunderung gewahr, welche erstaunliche Rolle der Irrtum, die Unwahrheit in dieser Welt spielt und wird nun begreifen, warum die Geschichte der Menschheit vorzugsweise eine Geschichte der menschlichen Verirrungen ist."

"Das ist eine wunderliche Frage", wird vielleicht der Leser sagen. "Was sehen wir? Natürlich die Körper, welche in unserem Gesichtskreis liegen. Sitzen wir im Zimmer, so sehen wir die Wände des Zimmers und die Möbel und sonstigen Gegenstände, welche sich in demselben befinden. Blicken wir zum Fenster hinaus, so sehen wir, je nach der Lage des Hauses, entweder die Straße oder die freie Natur, die sich vor dem Haus ausbreitet und so in allen Fällen."

Dies scheint in der Tat so selbstverständlich zu sein, daß man anfangs kaum begreift, wie es in Frage gestellt werden könne. Nun werde ich aber im Nachfolgenden zeigen, daß wir nicht allein faktisch keine außer uns liegenden Körper sehen, sondern daß selbst der Gedanke, solche Körper sehen zu können, absurd und unzulässig ist. Dabei werde ich bloß Betrachtungen anstellen, welche jeder Mensch von natürlichem Verstand und einiger Bildung ohne Mühe und Schwierigkeit irgendeiner Art verifizieren und beurteilen kann. Wer diesen Betrachtungen wirklich folgt, wird zu der überraschenden Einsicht gelangen, daß unsere Erfahrung eine systematisch organisierte Täuschung enthält. Von der Wiege bis zur Bahre leben wir in einer natürlichen Täuschung, welche mit so vollendeter faktischer Konsistenz und Folgerichtigkeit durchgeführt ist, daß nicht allein alle Handlungen und Verrichtungen unseres Lebens, sondern auch die Wissenschaften, welche man vorzugsweise die positiven und die exakten nennt, darauf beruhen. Die Folge davon ist dann auch die, daß die meisten Menschen nicht die entfernteste Ahnung davon haben, in was für einer Welt sie eigentlich leben, welcher Art die wirkliche Beschaffenheit der Dinge dieser Welt ist. Sie sind eben vollständig in der natürlichen Täuschung befangen und halten mit ungetrübter Zuversicht den naturnotwendigen Schein für die Wirklichkeit selbst. Ja, so gewaltig ist die Macht der natürlichen Täuschung, daß, obgleich ich dieselbe im Nachfolgenden mit vollkommener Evidenz aufdecken werde, doch vielleicht die meisten Leser aller Evidenz zum Trotz dem Schein untertan bleiben werden. Wer sich aber einmal über den Schein erhoben hat, wird mit Verwunderung gewahr, welche erstaunliche Rolle der Irrtum, die Unwahrheit in dieser Welt spielt und wird nun begreifen, warum die Geschichte der Menschheit vorzugsweise eine Geschichte der menschlichen Verirrungen ist.

Doch es ist Zeit, an die Sache selbst zu gehen.

Wenn wir nachts den wolkenlosen Himmel betrachten, so sehen wir ihn mit Sternen besät. Die scheinbare Tatsache ist, daß wir die Sterne selbst sehen. Ja, nicht allein sehen wir die Sterne, sondern unsere Astronomen haben sogar die Entfernungen mehrerer Sterne von der Erde gemessen. Dabei hat es sich nun herausgestellt, daß das Licht trotz der außerordentlichen Schnelligkeit seiner Verbreitung mehrere Jahre, bisweilen sogar mehrere Jahrzehnte braucht, um von den Sternen zu uns zu gelangen. Würde ein STern vom Firmament verschwinden, so würden wir das erst nach Verlauf mehrerer Jahre bemerken. Es kann also leicht geschehen, daß wir einen Stern am Himmel sehen, lange Jahre nachdem er schon aufgehört hat, zu existieren oder wenigstens zu leuchten. Aber einen nichtexistierenden oder nichtleuchtenden Stern können wir selbstverständlich nicht sehen. Folglich ist dasjenige, was wir als Stern, sondern etwas davon durchaus Verschiedenes. Was sehen wir denn in Wahrheit?

Mag die Antwort auf die Frage ausfallen, wie sie will, in jedem Fall ist die Tatsache schon konstatiert, daß unsere Erfahrung eine Täuschung enthält. Denn scheinbar sehen wir die Sterne selbst und können sogar deren Entfernung von uns messen, in Wahrheit dagegen sehen wir etwas davon durchaus Verschiedenes.

Die Physik lehrt, daß wir faktisch nichts Weiteres sehen können, als die letzte Lichtwelle, welche unsere Augen trifft. Ein Stern und überhaupt ein leuchtender Gegenstand versetzt bloß den ihn umgebenden Äther in eine eigentümliche wellenförmige Bewegung, welche sich mit großer Geschwindigkeit nach allen Richtungen hin geradlinig ausbreitet. Die letzte Ätherwelle, welche unsere Augen trifft, verursacht das Sehen. Diese letzte Ätherwelle soll uns also die Kunde bringen von dem oft in unermeßlicher Ferne liegenden leuchtenden Gegenstand. Aber sehen wir denn diese Ätherwelle selbst? Offenbar nein. Die Ätherwelle ist kein Gegenstand des Sehens, der Wahrnehmung, sondern eine bloße Vermutung, eine Hypothese. Und auch nach der Hypothese der Physiker selbst ist die lichtbringende Ätherwelle an sich ebenso dunkel, wie jede andere Bewegung der Körper. Die Physiker haben konstatiert, daß die gleiche Bewegung Licht und Wärme erzeugt. Diese Bewegung ist nichts als ein Hin- und Herschwingen von Körperteilchen, welches sich immer weiter auf die benachbarten Maßen überträgt. Die davon ergriffenen Körper dehnen sich aus und werden sogar bei größerer Stärke der Bewegung geschmolzen und verflüchtigt. Aber erst wenn diese Bewegung unsere Haut trifft, so entsteht Wärme (das Gefühl von Wärme) und erst wenn sie unsere Augen trifft, so entsteht Licht. Also existiert das Licht bloß in unseren Augen, nicht in der äußeren Welt.

Diese Einsicht ist von so entscheidender Bedeutung, daß man bei derselben noch einen Augenblick verweilen muß. Ein Stück Eisen, welches die Temperatur der umgebenden Luft hat, ist bei Abwesenheit äußeren Lichts dunkel und fühlt sich nicht warm an. Wird aber dieses Stück Eisen eine Zeit lang ins Feuer gelegt, so wird es glühend, d. h. heiß und leuchtend. Hat nun das Eisen etwa im Glühen neue Eigenschaften, Licht und Hitze erworben? Die Naturwissenschaft antwortet: Nein. Das glühende Eisen ist ansich ebenso dunkel und wärmelos, wie das Eisen im gewöhnlichen Zustand. Das glühende Eisen unterscheidet sich vom gewöhnlichen bloß dadurch, daß seine Teilchen, seine Moleküle in einem viel lebhafteren Schwingen begriffen sind. Aber diese Lebhaftigkeit des Schwingens hat mit dem, was wir als Licht und Wärme wahrnehmen, nicht die entfernteste Ähnlichkeit noch Verwandtschaft. Das, was wir als Licht und Wärme wahrnehmen, existiert lediglich in uns selbst; außer uns herrscht stets und überall die tiefste Finsternis. Wir sehen folglich die Sonne, die Sterne und alle Gegenstände überhaupt stets in der tiefsten Finsternis. Die Konstatierung dieser Finsternis ist wohl geeignet, im Geist des Lesers das Dämmern eines neuen Lichts zu erwecken. Denn wo ist jetzt seine ursprüngliche Zuversicht, die Sonne und die Sterne selbst leuchten zu sehen, hingekommen? Und doch besteht die scheinbare Tatsache, daß wir die Sonne und die Sterne selbst leuchten sehen, ungeschwächt fort.

Aber nun wiederholt sich die Frage: Was sehen wir denn in Wahrheit? Die letzte Ätherwelle, welche unsere Augen trifft, erzeugt nichts weiter als eine Reizung der Netzhaut unserer Augen und erst diese bewirkt das Sehen. Aber wie, auf welche Weise? Seitdem man bemerkt hat, daß auf der Netzhaut ein umgekehrtes Bild der vor dem Auge liegenen Gegenstände entsteht, glaubt man oft annehmen zu dürfen, daß wir eben dieses Bild sehen. Allein das ist ganz offenkundig nicht der Fall. Von Bildern auf der Netzhaut haben ja die Menschen nie etwas gewußt, bis man diese Bilder  von Außen  auf der Netzhaut gesehen hat. (1) Dagegen diese Bilder von innen zu sehen, ist schlechterdings nicht möglich. Denn nicht die Netzhaut ist das, was sieht, sondern das Sehen kommt erst am anderen Ende des Sehnerven zustande. Die unmittelbare Ursache des Lichts und des Sehens ist keine andere als eine Affektion des Sehnerven. Das haben die Physiologen durch Experimente festgestellt, welche zugleich die Tatsache ergaben, daß nicht allein die Wellenbewegung, welche man in der Physik "Licht" nennt, sondern jede Reizung des Sehnerven, sei es durch Elektrizität, sei es durch einfaches Zerren und Kneifen, Licht erzeugt. Wird einem Augenkranken der Sehnerv durchschnitten, so glaubt er, einen sich ergießenden Lichtstrom zu sehen. (2) Sollen wir also annehmen, daß das, was wir wirklich sehen, eine Affektion des Sehnerven ist? Unmöglich. Wir sind soweit entfernt, die Affektion des Sehnerven selbst zu sehen, daß wir ja überhaupt gar nicht wissen, worin dieselbe besteht, welcher Art Bewegung oder Veränderung des Sehnerven Licht in uns erzeugt.

So kommen wir endlich zu der Einsicht,  daß wir in Wahrheit nichts anderes sehen, als unsere eigenen Gesichts- und Farbempfindungen.  Wirkliches Licht existiert lediglich in unserer Empfindung; außerhalb unserer Empfindung kann es höchstens physikalische Ursachen des Lichts, aber schlechterdings kein Licht geben. Unsere Gesichts- und Farbempfindungen sind also dasjenige, was wir als Körper außer uns sehen.

Dieses Faktum kann auch auf eine andere, direkte Weise konstatiert werden, welche dasselbe vollends über jeden Zweifel erhebt. Betrachten wir irgendeinen Gegenstand, um beim einmal gebrauchten Beispiel zu bleiben, einen Stern und drücken von der Seite mit dem Finger auf das Auge, so wird dadurch der gesehene Stern verschoben. Nun kann ein wirklicher Stern durch einen Druck auf unser Auge nicht bewegt werden. Also haben wir hier den experimentellen Beweis dafür, daß das, was wir als Stern am Himmel sehen, in Wahrheit unsere eigene Gesichtsempfindung ist.

So haben wir auf verschiedenen Wegen die Tatsache konstatiert, daß unsere Erfahrung eine Täuschung enthält. Jetzt gilt es, die Natur dieser Täuschung klar zu machen.

Nehmen wir zum Gegenstand unserer Betrachtung die Sonne, die sich uns auf zweifache Weise kundgibt, durch ihr Licht und durch ihre Wärme. Ansich ist eine wirklich existierende Sonne ebensowenig warm als leuchtend. Sie erzeugt, wie schon bemerkt wurde, bloß eine wellenförmige Bewegung, welche, nach und nach sich ausbreitend, endlich unseren Leib trifft und die Nervenenden affiziert. Durch die Affektion der Hautnerven entsteht die Empfindung der Wärme, durch die Affektion der Sehnerven entsteht die Empfindung des Lichts und der Farben. Beiderlei Empfindungen haben die gleiche entferntere Ursache, nämlich eine Ätherbewegung, welche ansich weder warm noch leuchtend oder farbig ist. Beiderlei Empfindungen haben eine ähnliche nächste Ursache, nämlich eine Affektion der Nerven, bzw. der Haut- und Sehnerven. Aber wie verschieden ist die Rolle, welche die Wärme- und Gesichtsempfindungen in unserer Erfahrung spielen! Die Wärmeempfindung allein hätte uns höchstens irgendeine äußere Ursache vermuten lassen, aber über die Beschaffenheit dieser Ursache durchaus keine Auskunft geben können. Dagegen sehen wir in unserer Gesichtsempfindung scheinbar die Sonne selbst. Alle Menschen glauben, eine und dieselbe, allen gemeinsame, außer uns liegende Sonne direkt zu sehen und es fällt ihnen nicht im Traum ein, daß jeder von ihnen in Wahrheit nichts anderes sieht, als seine eigene Gesichtsempfindung, welche von den Gesichtsempfindungen anderer Menschen durchaus getrennt, wiewohl mit diesen gleichartig ist; daß die Sonne, die er sieht, in Wahrheit ein ganz anderer Gegenstand ist, als die Sonne, welche der neben ihm Stehende sieht, ebenso wie seine Wärmeempfindung durchaus verschieden ist von der Wärmeempfindung eines anderen Menschen, auch wenn sich beide an demselben Feuer wärmen.

Was ist der Grund dieses Unterschiedes zwischen den Wärme- und den Gesichtsempfindungen? Unsere Gesichtsempfindungen sind eben von Natur aus darauf eingerichtet, uns als Körper im Raum zu erscheinen, was bei den Wärmeempfindungen nicht oder wenigstens nicht in gleicher Weise der Fall ist. Und so folgerichtig ist dieser Schein durchgeführt, daß unsere ganze Erfahrung und die erfahrungsmäßige Wissenschaft darauf beruth. Für unsere Erfahrung existiert die Sonne, die wir sehen, wirklich außer uns. Eben die Sonne, die wir mit Augen sehen, erleuchtet unsere Tage, erwärmt unsere Haut, erzeugt alles Leben und alle Bewegung auf der Erde und erhält die Erde selbst in ihrer Bahn. Man kann die Sonne durch ein Teleskop betrachten, dann erscheint sie viel größer und enthüllt Manches auf ihrer Oberfläche, was dem unbewaffneten Auge verborgen bleibt. Man kann endlich die Entfernung der Sonne von uns messen, diese Entfernung ist sogar schon gemessen worden und beträgt gegen zwanzig Millionen Meilen.

Gerade der letztangeführt Umstand ist am besten geeignet, die wunderbare Natur der Täuschung welche unsere Erfahrung bedingt, uns klar zu machen. Damit die Entfernung der Sonne von uns gemessen werden kann, ist es offenbar nötig, daß nicht etwa bloß irgendeine Wirkung der Sonne, sondern die Sonne selbst und deren Ort im Raum in unserer Wahrnehmung gegeben sei. Ohne faktische Data, welche den Ort der Sonne selbst mitimplizieren, kann deren Parallaxe (3), mithin auch deren Entfernung nicht gemessen werden. Nun ist es natürlich von vornherein schlechthin undenkbar, daß ein wirklich außer uns liegender und gar Millionen von Meilen entfernter Gegenstand in unserer Wahrnehmung liegen, von uns selbst gesehen werden könnte. Eine wirklich existierende Sonne ist ja überhaupt an sich vollkommen dunkel, kann also schon ihrer Natur nach nicht gesehen werden. Und selbst das, was von ihr zu uns gelangen kann, ihre entfernte Wirkung, teilt sich unserer Wahrnehmung nicht unmittelbar mit, sondern affiziert bloß unseren Sehnerv, welcher lediglich infolge seiner "spezifischen Energie", wie es die Physiologen nennen, Licht in uns bewirkt. Die nächste eigentliche Ursache des Lichts und des Sehens ist eine Affektion des Sehnerven, von der wir jedoch nichts wissen. Und wenn wir sogar von dieser nächsten Ursache nicht wahrnehmen und nichts wissen, wie viel weniger können wir die so sehr viel weiter entfernte, durch so viele Zwischenglieder wirkende Ursache, die Sonne daraus erschließen oder gar selbst sehen und ihren Ort im Raum bestimmen? Das ist offenbar schlechthin unmöglich und es ist ja auch oben experimentell bewiesen worden, daß das, was wir als eine Sonne außer uns sehen, in Wahrheit nichts anderes als unsere eigene Gesichtsempfindung ist; denn die gesehene Sonne wird durch einen Druck auf unser Auge verschoben.

Die Sonne, die wir sehen und deren Entfernung von uns gemessen worden ist, existiert also in Wahrheit nicht außerhalb unserer Wahrnehmung. Zur Erkenntnis einer außer uns liegenden Sonne kann dagegen unsere Gesichtsempfindung ebensowenig faktische Data enthalten, als unsere Wärmeempfindung, welche ja mit jener eine gleiche oder ähnliche nächste äußere Ursache (nämlich eine unbekannte Affektioni der Nerven) hat. Aber unsere Gesichtsempfindungen sind eben von Natur aus derart organisiert, daß wir alle in denselben - und zwar ein jeder bloß in den seinigen, denn fremde Empfindungen liegen ihm natürlich fern - eine für alle gleiche und allen gemeinsame Sonne mit vollkommener faktischer Konsistenz sehen. Die Körperwelt, die wir wahrnehmen, ist ein bloßer Schein, aber dieser Schein ist derart organisiert, daß alles gerade so zugeht und eintrifft,  als ob  die wahrgenommene Körperwelt außer uns existierte. Alle Wirkungen erfolgen gemäß diesem Schein und darum hat unsere Erfahrung und die darauf beruhende Wissenschaft vollkommene empirische und praktische Gültigkeit. Durch die Konstatierung des Umstands, daß unsere Erfahrung auf einer Täuschung beruth, wird also der Erfahrung und der Naturwissenschaft von ihrem wahren Wert und ihrem wahrem Recht kein Titelchen geraubt; aber auf eine unbedingte, metaphysische Wahrheit und Gültigkeit darf sie allerdings keinen Anspruch machen. In der Praxis und in der Erfahrungswissenschaft ist der Realismus allein am Platz und in vollem Recht, aber der Realismus in der Philosophie, der Realismus als metaphysische Theorie ist eine kindische Verirrung, ist die Verleugnung der wirklichen Philosophie selbst.

Man sollte nun meinen, daß diese Einsicht allen Philosophen geläufig und überhaupt die Frage nach dem Dasein oder Nichtsein der Körper schon längst definitiv entschieden sei. Denn von der Entscheidung dieser Frage hängt offenbar die ganze Gestaltung und das Schicksal der Philosophie ab. Wenn es für die Praxis und die empirische Wissenschaft gleichgültig ist, ob die wahrgenommene Körperwelt wirklich existiert oder nicht, wenn für diese der natürliche Schein infolge seiner strengen Folgerichtigkeit und Gesetzmäßigkeit die gleichen Dienste wie die Wirklichkeit selbst leistet und die gleiche Bedeutung wie diese hat, so ist dies bei der Philosophie durchaus nicht der Fall. Für die philosophische Betrachtung der Dinge macht es vielmehr einen radikalen Unterschied aus, ob die Welt, in der wir leben, eine, wenn man so sagen darf, ehrliche Wirklichkeit ist, die sich bloß für das gibt,was sie ist, oder ob dieselbe eine Welt des Scheins ist. Eine von der empirischen Wissenschaft verschiedene Philosophie kann es überhaupt nur dann geben, wenn die empirische Wissenschaft auf Täuschung beruth und darum keine unbedingt wahre Erkenntnis liefert, welche zu suchen eben die Aufgabe der Philosophie ist. In dieser Frage das Wahre verkennen heißt also, von wirklicher Philosophie nicht die ersten Anfänge kennen. Und das ist, wie man weiß, fast allgemein der Fall. Gerade die gegenwärtigen Philosophen sind von der richtigen Einsicht in diesem Punkt weiter als je entfernt. Unter dem Druck der jetzt vorherrschenden Empirie stehend, geben sie sich Mühe, den Realismus zu "beweisen", d. h. sich der natürlichen Täuschung mit Gewalt selbst zu unterwerfen und versperren sich auf diese Weise selbst den Weg zur wahren Auffassung und zum wirklichen Verständnis der Tatsachen.

Umso erfreulicher ist es, zu sehen, daß hervorragende Vertreter der Naturwissenschaft selbst, wie HELMHOLTZ und du BOIS-REYMOND zu der richtigen Einsicht gelangt sind, daß das Naturerkennen keine unbedingte, metaphysische Gültigkeit hat, kein in vollem Sinn wahres Erkennen ist; daß das einzige unanfechtbare Ergebnis der Naturforschung die Konstatierung der Gesetze der Erscheinungen ist.
LITERATUR - Afrikan Spir, Was sehen wir?, Studien, Leipzig 1883
    Anmerkungen
    1) Und dann hat es sich ja herausgestellt, daß diese Bilder  umgekehrt,  als faktisch  nicht  die Gegenstände sind, die wir sehen, Somit fällt auch die Schwierigkeit weg, welche man im Geradesehen mittels der umgekehrten Bilder der Netzhaut gefunden hat. Von diesen umgekehrten Bildern sehen und erfahren wir eben nichts. Das Geradesehen der Gegenstände bedeutet nichts anderes, als daß unsere Gesichtswahrnehmungen mit unseren Tastwahrnehmungen übereinstimmen, was zur folgerichtigen Organisation des natürlichen Scheins gehört, ohne welche derselbe überhaupt nicht möglich wäre, uns nicht hätte täuschen können.
    2) Diese Eigentümlichkeit des Sehnerven, bei jeder Reizung oder Affektion Licht zu bewirken, nennen die Physiologen die "spezifische Energie" desselben.
    3) Die Parallaxe der Sonne ist der Winkel, unter welchem unsere Erde,  von der Sonne aus betrachtet,  erscheint. Aus der Größe dieses Winkels und der Größe des Erddurchmessers läßt sich die Entfernung der Sonne von der Erde erschließen. Aber damit wir diesen Winkel selbst messen können, ist es offenbar nötig, daß wir die Sonne gerade an dem Ort sehen, den sie im Raum einnimmt.