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HERMANN von HELMHOLTZ
Über Goethes
naturwissenschaftliche Arbeiten

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"Die Farben der durchsichtigen und undurchsichtigen irdischen Körper entstehden dadurch, daß diese von weißem Licht getroffen, einzelne farbige Teile desselben vernichteten, andere, welche nun nicht mehr im richtigen Verhältnis gemischt seien um Weiß zu geben, dem Auge zuschickten. So erscheine ein rotes Glas deshalb rot, weil es nur rote Strahlen durchlasse. Alle Farbe rühre also nur von einem veränderten Mischungsverhältnis des Lichtes her, gehöre also ursprünglich dem Licht an, nicht den Körpern und letztere geben nur die Veranlassung zu ihrem Hervortreten."

GOETHE, dessen umfassendes Talent namentlich in der besonnenen Klarheit hervortrat, womit er die Wirklichkeit des Menschen und der Natur in ihren kleinsten Zügen mit lebensfrischer Anschauung festzuhalten und wiederzugeben wußte, ward durch diese besondere Richtung seines Geistes mit Notwendigkeit zu naturwissenschaftlichen Studien hingeführt, in denen er nicht nur aufnahm, was andere ihn zu lehren wußten, sondern auch, wie es bei einem so ursprünglichen Geist nicht anders sein konnte, bald selbsttätig und zwar in höchst eigentümlicher Weise einzugreifen versuchte. Er wandte seine Tätigkeit sowohl dem Gebiet der beschreibenden, als dem der physikalischen Naturwissenschaften zu; jenes geschah namentlich in seinen botanischen und osteologischen [Knochenlehre - wp] Abhandlungen, dieses in der Farbenlehre. Die ersten Gedankenkeime dieser Arbeiten fallen meist in das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts, wenn auch ihre Ausführung und Darstellung teilweise später vollendet ist. Seitdem hat die Wissenschaft in sehr ausgedehnter Weise vorwärts gearbeitet, zum Teil ganz neues Ansehen gewonnen, ganz neue Gebiete der Forschung eröffnet, ihre theoretischen Vorstellungen mannigfach geändert. Ich will versuchen, im Vorliegenden das Verhältnis der Arbeiten GOETHEs zum gegenwärtigen Standpunkt der Naturwissenschaften zu schildern und den gemeinsamen leitenden Gedanken derselben anschaulich zu machen.

Der eigentümliche Charakter der beschreibenden Naturwissenschaften, Botanik, Zoologie, Anatomie usw., wird dadurch bedingt, daß sie ein ungeheures Material von Tatsachen zu sammeln, zu sichten und zunächst in eine logische Ordnung, ein System, zu bringen haben. So weit ist ihre Arbeit nur die trockene eines Lexikographen, ihr System ein Repositorium [Speicherort - wp], in welchem die Masse der Akten so geordnet ist, daß jeder in jedem Augenblick das Verlangte finden kann. Der geistigere Teil ihrer Arbeit und ihr eigentliches Interesse beginnt erst, wenn sie versuchen, den zerstreuten Zügen von Gesetzmäßigkeit in der unzusammenhängenden Masse nachzuspüren und sich daraus ein übersichtliches Gesamtbild herzustellen, in welchem jedes Einzelne seine Stelle und sein Recht behält und durch den Zusammenhang mit dem Ganzen an Interesse noch gewinnt. Hier fand der ordnende und ahnende Geist unseres Dichters ein geeignetes Feld für seine Tätigkeit und zugleich war ihm die Zeit günstig. Er fand schon genug Material in der Botanik und vergleichenden Anatomie gesammelt und logisch geordnet for, um eine umfassende Rundschau zu erlauben und auf richtige Ahnungen einer durchgehenden Gesetzmäßigkeit hinzuweisen. Dagegen irrten die Bestrebungen seiner Zeitgenossen in dieser Beziehung meist ohne Leitfaden umher oder sie waren noch so sehr von der Mühe des trockenen Einregistrierens in Anspruch genommen, daß sie an weiter Aussichten kaum zu denken wagten. Hier war es GOETHE vorbehalten, zwei bedeutende Gedanken von ungemeiner Fruchtbarkeit in die Wissenschaft hineinzuwerfen.

Die erste Idee war, daß die Verschiedenheiten im anatomischen Bau der verschiedenen Tiere als Abänderungen eines gemeinsamen Bauplans oder Typus aufzufassen seien, bedingt durch die verschiedenen Lebensweisen, Wohnorte, Nahrungsmittel. Die Veranlassung für diesen folgereichen Gedanken war sehr unscheinbar und findet sich in der schon 1786 geschriebenen, kleinen Abhandlung über das Zwischenkieferbei. Man wußte, daß bei sämtlichen Wirbeltieren (d. h. Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Fischen) die obere Kinnlade jederseits aus zwei Knochenstücken besteht, dem sogenannten Oberkiefer- und Zwischenkieferbein. Ersteres enthält bei den Säugetieren stets die Backen- und Eckzähne, letzteres die Schneidezähne. Der Mensch, welcher sich von ihnen allen durch den Mangel der vorragenden Schnauze unterscheidet, hatte dagegen jederseits nur ein Knochenstück, das Oberkieferbei, welches alle Zähne enthielt. Da entdeckte GOETHE auch am menschlichen Schädel schwache Spuren der Nähte, welche bei den Tieren Oberkiefer und Zwischenkiefer verbinden und schloß daraus, daß auch der Mensch ursprünglich einen Zwischenkiefer besitzt, der aber später durch Verschmelzung mit dem Oberkiefer verschwindet. Diese unscheinbare Tatsache läßt ihn sogleich einen Quell des anregendsten Interesses in dem wegen seiner Trockenheit übel berüchtigten Boden der  Osteologie  entdecken. Daß Mensch und Tier ähnliche Teile zeigen, wenn sie diese Teile zu ähnlichen Zwecken dauernd gebrauchen, hatte nicht Überraschendes gehabt. In diesem Sinne hatte schon CAMPER die Ähnlichkeiten des Baus bis zu den Fischen hin zu verfolgen gesucht. Aber daß diese Ähnlichkeit der Anlage nach bestehe, auch in einem Fall, wo sie den Anforderungen des vollendeten menschlichen Baues offenbar nicht entspricht und ihnen deshalb nachträglich durch Verwachsung der getrennt entstandenen Teile angepaßt werden muß, das war ein Wink, welcher dem geistigen Auge von GOETHE genügte, um ihm einen Standpunkt von weit umfassender Aussicht anzuzeigen. Weitere Studien überzeugten ihn bald von der Allgemeingültigkeit seiner neugewonnenen Anschauung, so daß er im Jahre 1795 und 1796 die ihm dort aufgegangene Idee näher bestimmen und im  Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie  zu Papier bringen konnte. Er lehrt darin mit der größten Entschiedenheit und Klarheit, daß alle Unterschiede im Bau der Tierarten als Veränderungen des einen Grundtypus aufgefaßt werden müßten, welche durch Verschmelzung, Umformung, Vergrößerung, Verkleinerung oder gänzliche Beseitigung einzelner Teile hervorgebracht seien. Es ist das, im gegenwärtigen Zustand der vergleichenden Anatomie, in der Tat die leitende Idee dieser Wissenschaft geworden. Sie ist später nirgends besser und klarer ausgesprochen, als es durch GOETHE geschehen ist; auch hat die Folgezeit nur wenige wesentliche Veränderungen daran vorgenommen, deren wichtigste die ist, daß man den gemeinsamen Typus jetzt nicht für das ganze Tierreich, sondern für jede der von CUVIER aufgestellten Hauptabteilungen desselben zugrunde legt. Der Fleiß von GOETHEs Nachfolgern hat ein unendlich viel reicheres, wohlgesichtetes Material zusammengehäuft und hat das, was er nur in allgemeinen Andeutungen geben konnte, in das Speziellste verfolgt und durchgeführt.

Die zweite leitende Idee, welche GOETHE der Wissenschaft schenkte, sprach eine ähnliche Analogie zwischen den verschiedenen Teilen ein und desselben organischen Wesens aus, wie wir sie eben für die entsprechenden Teile verschiedener Arten beschrieben haben. Die meisten Organismen zeigen eine vielfältige Wiederholung einzelner Teile. Am auffallendsten ist das bei den Pflanzen; eine jede pflegt eine große Anzahl gleicher Stengelblätter, gleicher Blütenblätter, Staubfäden usw. zu haben. GOETHE wurde zuerst, wie er erzählt, beim Anblick einer Fächerpalme in Padua darauf aufmerksam, wie mannigfach die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen der nacheinander entwickelten Stengelblätter einer Pflanze sein können, wie statt der ersten einfachsten Wurzelblättchen, sich immer mehr und mehr geteilte Blätter bis zu den zusammengesetztesten Fiederblätter entwickeln; es gelang ihm auch später die Übergänge zwischen den Blättern des Stengels und denen des Kelches und der Blüten zwischen letzteren und den Staubfäden, Nektarien und Samengebilden zu finden und so zur Lehre von der Metamorphose der Pflanzen zu gelangen, welche er 1790 veröffentlichte. Wie sich die vordere Extremität der Wirbeltiere bald zum Vorderfuß mit Hufen, bald zur Flosse, bald zum Flügel entwickelt und immer eine ähnliche Gliederung, Stellung und Verbindung mit dem Rumpf behält, so erscheint das Blatt bald als Keimblatt, bald als Stengelblatt, Kelchblatt, Blütenblatt, Staubfaden, Honiggefäß, Pistill [Stempel - wp], Samenhülle usw. immer mit einer gewissen Ähnlichkeit der Entstehung und Zusammensetzung und, unter gewöhnlichen Umständen, auch bereit, aus der einen Form in die andere überzugehen. Jeder, der eine gefüllte Rose aufmerksam betrachtet, wird ihre teils halb, teils ganz in Blütenblätter verwandelte Staubfäden leicht erkennen. Auch diese Anschauungsweise GOETHEs ist gegenwärtig in der Wissenschaft vollständig eingebürgert und erfreut sich der allgemeinen Zustimmung der Botaniker, wenn auch über einzelne Deutungen gestritten wird, z. B. ob der Samen ein Blatt oder ein Zweig sei.

Unter den Tieren ist die Zusammensetzung aus ähnlichen Teilen sehr auffallend in der großen Abteilung der Geringelten, z. B. der Insekten und Ringelwürmer. Die Insektenlarve, die Raupe eines Schmetterlings, besteht aus einer Anzahl ganz gleicher Körperabschnitte, der Leibesringel; nur der erste und letze zeigen gewisse Abweichungen. Bei ihrer Verwandlung zum vollkommenen Insekt bewährt sich sehr leicht und deutlich die Anschauungsweise, welche GOETHE in der Metamorphose der Pflanzen aufgefaßt hatte: die Entwicklung des ursprünglich Gleichartigen zuz anscheinend sehr verschiedenen Formen. Die Ringel des Hinterleibes behalten ihre ursprüngliche einfache Form, die des Bruchstückes ziehen sich stark zusammen, entwickeln Füße und Flügel, die des Kopfes Kinnladen und Fühlhörner, so daß am vollkommenen Insekt die ursprünglichen Ringel nur noch am Hinterleib zu erkennen sind. Auch bei den Wirbeltieren ist die Wiederholung gleichartiger Teile in der Wirbelsäule angedeutet, aber in der äußeren Gestalt nicht mehr zu erkennen. Ein glücklicher Blick auf einen halbgesprengten Schafschädel, welchen GOETHE im Sand des Lido von Venedig 1790 zufällig fand, lehrte ihn auch den Schädel als eine Reihe stark veränderter Wirbel aufzufassen. Beim ersten Anblick kann nichts unähnlicher sein, als die weite, einförmige, von platten Knochen begrenzte Schädelhöhle der Säugetiere und das enge zylindrische, aus kurzen, massigen und vielfach gezackten Knochen zusammengesetzte Rohr der Wirbelsäule. Es gehört ein geistreicher Blick dazu, um im Schädel der Säugetiere die ausgeweiteten und umgeformten Wirbelringe wiederzuerkennen, während bei Amphibien und Fischen die Ähnlichkeit auffallender ist. GOETHE ließ übrigens diesen Gedanken lange Zeit liegen, ehe er ihn veröffentlichte; vielleicht, weil er seiner günstigen Aufnahme nicht recht sicher war. Unterdessen fand OKEN 1806 denselben Gedanken, führte ihn in die Wissenschaft ein und geriet darüber in einen Prioritätsstreit mit GOETHE, welcher erst 1817, als der Gedanke anfing sich Beifall zu erwerben, erklärte, daß er ihn seit 30 Jahren gehegt habe. Über die Zahl und die Zusammensetzung der einzelnen Schädelwirbel ward und wird noch viel gestritten, der Grundgedanke hat sich aber erhalten.

Die Lehre von der Pflanzenmetamorphose ist als GOETHEs anerkanntes und direktes Eigentum in die Botanik eingeführt worden. Seine Ansichten über den gemeinsamen Bauplan der Tiere scheinen dagegen nicht eigentlich direkt in den Entwicklungsgang der Wissenschaften eingegriffen zu haben. Seine osteologischen Ansichten stießen zuerst auf Widerspruch bei den Männern vom Fach und wurden erst später, als sich die Wissenschaft, wie es scheint, unabhängig zu derselben Erkenntnis durchgearbeitet hatte, Gegenstand der Aufmerksamkeit. Er selbst klagt, daß seine ersten Ideen über den gemeinsamen Typus zur Zeit, als er sie in sich durcharbeitete, nur Widerspruch und Zweifel gefunden und daß sogar Männer von frisch aufkeimender Originalität, wie ALEXANDER und WILHELM von HUMBOLDT, sie nur mit einer gewissen Ungeduld angehört hätten. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß theoretische Ideen in den Naturwissenschaften nur dann die Aufmerksamkeit der Fachgenossen erregen, wenn sie gleichzeitig mit dem ganzen beweisenden Material vorgeführt werden und durch dieses ihre tatsächliche Berechtigung darlegen. Jedenfalls aber gebührt GOETHE der große Ruhm, die leitenden Ideen zuerst vorausgeschaut zu haben, zu denen der eingeschlagene Entwicklungsgang der genannten Wissenschaften hindrängte und durch welche deren gegenwärtige Gestalt bestimmt wird.

So groß nun die Verehrung ist, welche GOETHE durch seine Leistungen in den beschreibenden Naturwissenschaften sich erworben hat, so unbedingt ist auch der Widerspruch, den seine Arbeiten auf dem Gebiet der physikalischen Naturwissenschaften, namentlich seine Farbenlehre bei sämtlichen Fachgenossen gefunden haben. Es ist hier nicht die Stelle, mich in die darüber geführte Polemik einzulassen; ich will nur versuchen, den Gegenstand des Streites, seinen verborgenen Sinn, seine eigentliche Bedeutung darzulegen und nachzuweisen. Es ist in dieser Beziehung von Wichtigkeit auf die Entstehungsgeschichte der Farbenlehre und ihren ersten einfachsten Stand zurückzugehen; weil hier schon die Gegensätze vollständig vorhanden sind und nicht verhüllt durch einen Streit um die Richtigkeit besonderer Tatsachen und verwickelter Theorien, sich leicht und klar darlegen lassen.

GOETHE selbst erzählt sehr hübsch in der Konfession am Schluß seiner Geschichte der Farbenlehre, wie er dazu gekommen war, diese zu bearbeiten. Weil er sich die ästhetischen Grundsätze des Kolorits in der Malerei nicht klarmachen konnte, beschloß er, die physikalische Farbenlehre, wie sie ihm auf der Universität gelehrt worden war, wieder vorzunehmen und die dazu gehörigen Versuche selbst zu wiederholen. Er borgt am Ende ein Glasprisma von Hofrath BÜTTNER in Jena, läßt es aber längere Zeit unbenutzt liegen, weil andere Beschäftigungen ihn von seinem Vorsatz ablenken. Der Eigentümer, ein ordnungsliebender Mann, schickt, nach mehreren vergeblichen Mahnungen, einen Boten, der das Prisma gleich mit sich zurücknehmen soll. GOETHE sucht es aus dem Kasten hervor und möchte doch wenigstens noch einen Blick hindurch tun. Er sieht aufs Geratewohl nach einer ausgedehnten hellen weißen Wand hin, in der Voraussetzung, da sei viel Licht, da müsse er auch eine glänzende Zerlegung dieses Lichts in Farben sehen, eine Voraussetzung, welche übrigens beweist, wie wenig gegenwärtig ihm NEWTONs Theorie der Sache war. Er findet sich natürlich getäuscht. Auf der weißen Wand erscheinen ihm keine Farben; diese entwickeln sich erst da, wo sie von dunkleren Gegenständen begrenzt werden und er macht die richtige Bemerkung, welche übrigens in NEWTONs Theorie ebenfalls ihre vollständige Begründung findet, daß Farben durch das Prisma nur da erscheinen, wo ein dunklerer Gegenstand an einen helleren stößt. Betroffen von dieser ihm neuen Bemerkung und in der Meinung, sie sei mit NEWTONs Theorie nicht vereinbar, sucht er den Eigentümer des Prismas zu beschwichtigen und macht sich nun mit angestrengtem Eifer und Interesse über die Sache her. Er bereitet sich Tafeln mit schwarzen und weißen Feldern, studiert an diesen die Erscheinungen unter mannigfachen Abänderungen, bis er seine Regeln hinreichend bewährt glaubt. Nun versucht er seine vermeintliche Entdeckung einem benachbarten Physiker zu zeigen und ist unangenehm überrascht, von diesem die Versicherung zu hören, die Versuche seien allbekannt und erklärten sich vollständig aus NEWTONs Theorie der Sache. Dieselbe Erklärung trat ihm von nun an unabänderlich aus dem Munde jedes Sachverständigen entgegen, selbst bei genialen LICHTENBERG, den er eine zeitlang vergebens zu bekehren suchte. NEWTONs Schriften studierte er und glaubte die Trugschlüsse, welche den Grund des Irrtums enthalten sollten, darin aufgefunden zu haben. Da er keinen seiner Bekannten zu überzeugen vermochte, beschloß er endlich, vor den Richterstuhl der Öffentlichkeit zu treten und gab nun 1791 und 1792 das erste und zweite Stück seiner Beiträge zur Optik heraus.

Darin sind die Erscheinungen beschrieben, welche weiße Felder auf schwarzem Grund, schwarze auf weißem und farbige Felder auf schwarzem oder weißem Grund darbieten, wenn sie durch ein Prisma angesehen werden. Über den Erfolg der Versuche ist durchaus kein Streit zwischen ihm und den Physikern. Er beschreibt die gesehenen Erscheinungen umständlich, streng naturgetreu und lebhaft, ordnet sie in einer angenehm zu übersehenden Weise zusammen und bewährt sich hier, wie überall auf dem Gebiet des Tatsächlichen, als der große Meister der Darstellung. Er spricht dabei aus, daß er die vorgetragenen Tatsachen zur Widerlegung von NEWTONs Theorie für geeignet halte. Namentlich sind es zwei Punkte, an denen er Anstoß nimmt, nämlich, daß die Mitte einer weißen breiteren Fläche, durch das Prisma gesehen, weiß bleibe und daß auch ein schwarzer Streifen auf weißem Grund ganz in Farben aufgelöst werden könne.

NEWTONs Farbentheorie gründet sich auf die Annahme, daß es Licht von verschiedener Art gebe, welches sich unter anderem auch durch den Farbeneindruck unterscheide, den es im Auge mache. So gebe es Licht von roter, orangener, gelber, grüner, blauer, violetter Farbe wie von allen zwischenliegenden Übergangsstufen. Licht verschiedener Art und Farbe zusammengemischt gebe Mischfarben, die teils anderen ursprünglichen Farben ähnlich sehen, teils neue Farbentöne bilden. Weiß sei die Mischung aller genannten Farben in bestimmten Verhältnissen. Aus den Mischfarben und dem Weiß könne man aber steht die einfachen Farben wieder ausscheiden, die letzteren seien dagegen unzerlegbar unveränderlich. Die Farben der durchsichtigen und undurchsichtigen irdischen Körper entständen dadurch, daß diese von weißem Licht getroffen, einzelne farbige Teile desselben vernichteten, andere, welche nun nicht mehr im richtigen Verhältnis gemischt seien um Weiß zu geben, dem Auge zuschickten. So erscheine ein rotes Glas deshalb rot, weil es nur rote Strahlen durchlasse. Alle Farbe rühre also nur von einem veränderten Mischungsverhältnis des Lichtes her, gehöre also ursprünglich dem Licht an, nicht den Körpern und letztere geben nur die Veranlassung zu ihrem Hervortreten.

Ein Prisma bricht das durchgehende Licht, d. h. lenkt es um einen gewissen Winkel von seinem Weg ab, verschiedenfarbiges einfaches Licht hat nach NEWTON verschiedene Brechbarkeit, schlägt deshalb nach der Brechung im Prisma verschiedene Wege ein und trennt sich voneinander. Ein heller Punkt von verschwindend kleiner Größe erscheint deshalb durch das Prisma gesehen, aus seiner Stelle gerückt und in eine farbige Linie, ein sogenanntes Farbenspektrum ausgezogen, welches die genannten einfachen Farben in der angegebenen Reihenfolge zeigt. Betrachtet man eine breitere helle Fläche, so fallen die Spektra der in ihrer Mitte gelegenen Punkte so übereinander, daß alle Farben überall in Verhältnisse, um Weiß zu geben, zusammentreffen. Nur an den Rändern werden sie teilweise frei. Es erscheint daher die weiße Fläche verschoben; am einen Rand blau und violett, am andern gelb und rot gesäumt. Ein schwarzer Streif zwischen zwei weißen Flächen kann von deren farbigen Säumen ganz bedeckt werden; wo sie in der Mitte zusammenstoßen, mischen sich Rot und Violett zur Purpurfarbe; die Farben in die der schwarze Streif aufgelöst erscheint, entstehen also nicht aus dem Schwarzen, sondern aus dem umgebenden Weißen.

Im ersten Augenblick hat GOETHE offenbar NEWTONs Theorie zu wenig im Gedächtnis gehabt, um die physikalische Erklärung der genannten Tatsachen, die ich eben angedeutet habe, finden zu können. Später ist sie ihm vielfach und zwar durchaus verständlich vorgetragen worden, denn er spricht darüber mehrere Male so, daß man sieht, er habe sie ganz richtig verstanden. (1) Sie genügt ihm aber so wenig, daß er dennoch fortwährend bei der Behauptung bleibt, die angegebenen Tatsachen seien geeignet, jedem, der sie nur ansehe, die gänzliche Unrichtigkeit von NEWTONs Theorie vor Augen zu legen. Aber weder hier noch in seinen späteren polemischen Schriften bezeichnet GOETHE auch nur ein einziges Mal mit Bestimmtheit, worin denn das Ungenügende der Erklärung liege. Er wiederholt nur immer wieder und wieder die Versicherung ihrer gänzlichen Absurdität. Und doch weiß ich nicht, wie jemand - seine Ansicht über die Farben sei wie sie wolle - zu bestreiten vermag, daß die Theorie in sich vollständig konsequent ist, daß ihre Annahmen, einmal zugegeben, die besprochenen Tatsachen vollständig und sogar einfach erklären. NEWTON selbst erwähnt an vielen Stellen seiner optischen Schriften solcher unreinen, in der Mitte noch weißen Spektra, ohne sich je in eine besondere Erörterung darüber einzulassen, offenbar in der Meinung, daß die Erklärung davon sich aus seinen Annahmen von selbst verstehe. Und er scheint sich in dieser Meinung nicht getäuscht zu haben, denn als GOETHE anfing, auf die betreffenden Erscheinungen aufmerksam zu machen, trat ihm ein jeder, der etwas von Physik wußte, wie er selbst berichtet, unabänderlich mit dieser selben Erklärung aus NEWTONs Prinzipien sogleich entgegen, die sich also ein jeder auf der Stelle zu bilden imstande war.

Den Lesenden, der aufmerksam und gründlich jeden Schritt in diesem Teil der Farbenlehre sich klar zu machen sucht, überschleicht hier leicht ein unheimliches ängstliches Gefühl; er hört fortdauern einen Man von der seltensten geistigen Begabung leidenschaftlich versichern, in einigen scheinbar ganz klaren, ganz einfachen Schlüssen sei eine augenfällige Absurdität verborgen. Er sucht und sucht und da er beim besten Willen keine solche finden kann, nicht einmal einen Schein davon, wird ihm endlich zumute, als wären seine eigenen Gedanken wie festgenagelt. Aber eben wegen dieses offenen und schroffen Widerspruches ist der Standpunkt, den GOETHE 1792 in der Farbenlehre einnahm, so interessant und wichtig. Er hat hier seine eigene Theorie noch nicht entwickelt; es handelt sich noch um einige wenige leicht zu übersehende Tatsachen, über deren Richtigkeit aller Parteien einig sind und doch stehen beiden mit ihren Ansichten streng gesondert einander gegenüber; keiner begreift auch nur, was der Gegner eigentlich wolle. Auf der einen Seite steht eine Zahl von Physikern, welche durch lange Reihen der scharfsinnigsten Untersuchungen, Rechnungen und Erfindungen die Optik zu einer Vollendung gebracht haben, daß sie als die einzige der physikalischen Wissenschaften mit der Astronomie fast zu wetteifern anfing. Alle haben teils durch direkte Untersuchungen, teils durch die Sicherheit, mit der sie den Erfolg der mannigfaltigsten Konstruktionen und Kombinationen von Instrumenten voraus berechnen können, Gelegenheit gehabt, die Folgerungen aus NEWTONs Ansichten an der Erfahrung zu prüfen und stimmen in diesem Feld ausnahmslos überein. Auf der anderen Seite steht ein Mann, dessen seltene geistige Größe, dessen besonderes Talent für die Auffassung der tatsächlichen Wirklichkeit wir nicht nur in der Dichtkunst, sondern auch in den beschreibenden Teilen der Naturwissenschaften anzuerkennen Ursache haben; der mit dem größten Eifer versichert, seine Gegner seien im Irrtum; der in seiner Überzeugung so gewiß ist, daß er sich jeden Widerspruch nur durch Beschränktheit oder bösen Willen erklären kann; der endlich seine Leistungen in der Farbenlehre für viel wertvoller erklärt, als alles, was er je in der Dichtkunst getan habe. (2)

Ein so schroffer Widerspruch läßt uns vermuten, daß hinter der Sache ein viel tiefer liegender prinzipieller Gegensatz verschiedener Geistesrichtungen verborgen sei, der das gegenseitige Verständnis der streitenden Parteien verhindere. Ich will mich bemühen, im Folgenden zu bezeichnen, worin ich einen solchen zu finden glaube.
LITERATUR - Hermann von Helmholtz, Über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten - Vortrag gehalten zu Königsberg 1853, Braunschweig 1896
    Anmerkungen
    1) In der Erklärung der neunten Kupfertafel zur Farbenlehre, welche gegen  Green  gerichtet ist.
    2) Siehe Eckermanns Gespräche.