ra-2 cr-4ra-1von Förstervon WieserMacchiavelliF. Rittelmeyer    
 
FRIEDRICH NIETZSCHE
Der Wille zur Macht
- Versuch einer Umwertung aller Werte
[1/3]

"Ich halte die Phänomenalität auch der  inneren  Welt fest: Alles, was uns  bewußt  wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, - der  wirkliche  Vorgang der inneren  Wahrnehmung,  die  Kausalvereinigung  zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen - und vielleicht eine reine Einbildung."

"Es gibt weder  Geist,  noch  Vernunft,  noch  Denken,  noch  Bewußtsein,  noch  Seele,  noch  Wille,  noch  Wahrheit:  alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um  Subjekt und Objekt,  sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen  Richtigkeit,  vor allem  Regelmäßigkeit  ihrer Wahrnehmungen (sodaß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht ... Die Erkenntnis arbeitet als  Werkzeug  der Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem Mehr von Macht."

"Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann.  Die Nützlichkeit der Erhaltung - nicht  irgendein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen zu werden - steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane ..., sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten. Anders: das  Maß  des Erkennenwollens hängt ab vom Maß des Wachsens des  Willens zur Macht  der Art: eine Art ergreift so viel Realität,  um über sie Herr zu werden, um sie in Dienst zu nehmen." 

"Der ganze Erkenntnisapparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat - nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf  Bemächtigung  der Dinge:  Zweck  und  Mittel  sind so fern vom Wesen wie die  Begriffe.  Mit  Zweck  und  Mittel  bemächtigt man sich des Prozesses (- man  erfindet  einen Prozeß, der faßbar ist), mit  Begriffen  aber der  Dinge,  welche den Prozeß machen."


Drittes Buch
Prinzip einer neuen Wertsetzung

I.

Der Wille zur Macht
als Erkenntnis


a) Methode der Forschung

466. Nicht der Sieg der  Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet  sondern der Sieg der wissenschaftlichen  Methode  über die Wissenschaft.

467.  Geschichte der wissenschaftlichen Methode,  von AUGUSTE COMTE beinahe als Philosophie selber verstanden.

468. Die großen  Methodologen:  ARISTOTELES, BACON, DESCARTES, COMTE.

469. Die wertvollsten Einsichten werden am spätesten gefunden: aber die wertvollsten Einsichten sind die  Methoden. 

Alle Methoden, alle Voraussetzungen unserer jetzigen Wissenschaft haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf sie hin ist man aus dem Verkehr mit  honetten  Menschen ausgeschlossen worden, - man galt als  "Feind Gottes",  als Verächter des höchsten Ideals, als "Besessener".

Wir haben das ganze  Pathos  der Menschheit gegen uns gehabt, - und Begriff von dem, was die "Wahrheit" sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll, unsere Objektivität, unsere Methode, unsere stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen  verächtlich  ... Im Grunde war es ein ästhetischer Geschmack, was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkennenden, daß er stark auf die Phantasie wirkt.

Das sieht aus, also ob ein  Gegensatz  erreicht, ein  Sprung  gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch die Moral-Hyperbeln Schritt für Schritt jenes  Pathos milderer Art  vorbereitet, das als wissenschaftlicher Charakter leibhaft wurde ...

Die  Gewissenhaftigkeit im Kleinen,  die Selbstkontrolle des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissenschaftlichen Charakter: vor allem die Gesinnung, welche  Probleme ernst nimmt,  noch abgesehen davon, was persönlich dabei für Einen herauskommt ...



b) Der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt

470. Tiefe Abneigung, in irgendeiner Gesamtbetrachtung der Welt ein für alle Mal auszuruhen. Zauber der entgegengesetzten Denkweise: sich den Anreiz des enigmatischen Charakters nicht nehmen lassen.

471. Die Voraussetzung, daß es im Grunde der Dinge so moralisch zugeht, daß die  menschliche Vernunft Recht behält,  - ist eine Treuherzigkeit und Biedermanns-Voraussetzung, die Nachwirkung des Glaubens an die göttliche Wahrhaftigkeit - Gott als Schöpfer der Dinge gedacht. - Die Begrife eine Erbschaft aus einer jenseitigen Vorexistenz - -

472. Widerspruch gegen die angeblichen "Tatsachen des Bewußtseins". Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrtum vielleicht  Bedingung  der Beobachtung überhaupt.

473. Der Intellekt kann sich nicht selbst kritisieren, eben weil er nicht zu vergleichen ist mit andersgearteten Intellekten und weil sein Vermögen zu erkennen erst angesichts der "wahren Wirklichkeit" zutage treten würde, d. h. weil, um den Intellekt zu kritisieren, wir ein höheres Wesen mit "absoluter Erkenntnis" sein müßten. Dies setzt schon voraus, daß es, abseits von allen perspektivischen Arten der Betrachtung und sinnlich-geistiger Aneignung,  Etwas gäbe,  ein "Ansich". - Aber die psychologische Ableitung des Glaubens an  Dinge  verbietet uns, von "Dingen ansich" zu reden.

474. Daß zwischen  Subjekt  und  Objekt  eine Art adäquater Relation stattfindet; daß das Objekt etwas ist, das  von Innen gesehen  Subjekt wäre, ist eine gutmütige Erfindung, die, wie ich denke, ihre Zeit gehabt hat. Das Maß dessen, was uns überhaupt bewußt wird, ist ja ganz und gar abhängig von der groben Nützlichkeit des Bewußtwerdens: wie erlaubte uns diese Winkelperspektive des Bewußtseins irgendwie über "Subjekt" und "Objekt" Aussagen, mit denen die Realität berührt würde! -

475. Kritik der neuen Philosophie: fehlerhafter Ausgangspunkt, als obe es "Tatsachen des Bewußtseins" gäbe - und keinen  Phänomenalismus  in der  Selbst-Beobachtung. 

476. "Bewußtsein" - inwiefern die vorgestellte Vorstellung, der vorgestellte Wille, das vorgestellte Gefühl  (das uns allein bekannte)  ganz oberflächlich ist! "Erscheinung" auch unsere  innere  Welt!

477. Ich halte die Phänomenalität auch der  inneren  Welt fest: Alles, was uns  bewußt  wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisiert, ausgelegt, - der  wirkliche  Vorgang der inneren "Wahrnehmung", die  Kausalvereinigung  zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen - und vielleicht eine reine Einbildung. Diese "scheinbare  innere  Welt" ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die "äußere" Welt. Wir stoßen nie auf "Tatsachen": Lust und Unlust sind späte und abgeleitete Intellekt-Phänomene ...

Die "Ursächlichkeit" entschlüpft uns; zwischen Gedanken ein unmittelbares, ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik tut - das ist Folge der allergröbsten und plumpsten Beobachtung.  Zwischen  zwei Gedanken spiele  noch alle möglichen Affekte  ihr Spiel: aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb  verkennen  wir sie,  leugnen  wir sie ...

"Denken", wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung  eines  Elementes aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künstliche Zurechtmachtung zum Zweck der Verständlichung ...

Der "Geist",  etwas, das denken:  womöglich gar "der Geist absolut, rein, Pur" - diese Konzeption ist eine abgeleitete zweite Folge der falschen Selbstbeobachtung, welche an "Denken" glaubt: hier ist  erst  ein Akt imaginiert, der gar nicht vorkommt, "das Denken", und  zweitens  ein Subjekt-Substrat imaginiert, in dem jeder Akt dieses Denkens und sonst nichts anderes seinen Ursprung hat: das heißt  sowohl das Tun, als auch der Täter sind fingiert. 

478. Man muß den Phänomenalismus nicht an der falschen Stelle suchen: nichts ist phänomenaler, (oder deutlicher:) nichts ist so sehr  Täuschung als diese innere Welt, die wir mit dem berühmten "inneren Sinn" beobachten.

Wir haben den Willen als Ursache geglaubt, bis zu dem Maß, daß wir nach unserer Personal-Erfahrung überhaupt eine Ursache in das Geschehen hineingelegt haben (d. h. Absicht als Ursache von Geschehen -).

Wir glauben, daß Gedanke und Gedanke, wie sie in uns nacheinander folgen, in irgendeiner kausalen Verkettung stehen: der Logiker insbesondere, der tatsächlich von lauter Fällen redet, die niemals in der Wirklichkeit vorkommen, hat sich an das 
Vorurteil gewöhnt, daß Gedanken Gedanken  verursachen - 

Wir glauben - und selbst unsere Philosophen glauben es noch -, daß Lust und Schmerz Ursache sind von Reaktionen, daß es der Sinn von Lust und Schmerz ist, Anlaß zu Reaktionen zu geben. Man hat Lust und das Vermeiden der Unlust geradezu Jahrtausende lang als  Motive  für jedes Handeln aufgestellt. Mit einiger Besinnung dürften wir zugeben, daß alles so verlaufen würde, nach genau derselben Verkettung der Ursachen und Wirkungen, wenn diese Zustände "Lust und Schmerz" fehlten: und man täuscht sich einfach, zu behaupten, daß sie irgendetwas verursachen: - es sind  Begleiterscheinungen  mit einer ganz anderen Finalität, als der, Reaktionen hervorzurufen; es sind bereits Wirkungen innerhalb des eingeleiteten Prozesses der Reaktion.

In summa: Alles, was bewußt wird, ist eine Enderscheinung, ein Schluß - und verursacht nichts; alles Nacheinander im Bewußtsein ist vollkommen atomistisch -. Und wir haben die Welt versucht zu verstehen in der  umgekehrten  Auffassung, - als ob Nichts wirke und real sei als Denken, Fühlen, Wollen! ...

479.  Der Phänomenalismus der "inneren Welt". Die chronologische Umdrehung,  so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt als die Wirkung. - Wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle des Leibes projiziert wird, ohne dort seinen Sitz zu haben -: wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß die eigentliche Aktion der Außenwelt immer  unbewußt  verläuft ... Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von Außen auf uns ausgeübt ist, ist nachträglich projiziert als deren "Ursache" ...

Im Phänomenalismus der "inneren Welt" kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der "inneren Erfahrung" ist, daß die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist ... Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken: - wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein ... Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesamtgefühlen auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Kausalitätskette ins Bewußtsein getreten ist.

Die ganze "innere Erfahrung" beruth darauf, daß zu einer Erregung der Nervenzentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird - und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, - es ist ein Tasten aufgrund der ehemaligen "inneren Erfahrungen", d. h. des Gedächtnisses. Das Gedächtnis erhält aber auch die Gewohnheit der alten Interpretationen, d. h. der irrtümlichen Ursächlichkeit, - sodaß die "innere Erfahrung" in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Kausalfiktionen zu tragen hat. Unsere "Außenwelt", wie wir sie jeden Augenblick projizieren, ist unauflöslich gebunden an den alten Irrtum vom Grunde: wir legen sie aus dem Schematismus des "Dings" usw.

Die "innere Erfahrung" tritt uns ins Bewußtsein erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum  versteht  - d. h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm  bekanntere  Zustände -: "verstehen" das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem. Zum Beispiel "ich befinde mich schlecht" - ein solches Urteil setzt eine  große und späte Neutralität des Beobachtenden  voraus -: der naive Mensch sagt immer: Das und Das macht, daß ich mich schlecht befinde, - er wird über sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht zu befinden ... Das nenne ich den  Mangel an Philologie;  einen  Text als Text  ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der "inneren Erfahrung", - vielleich eine kaum mögliche ...

480. Es gibt weder "Geist", noch Vernunft, noch Denken, noch Bewußtsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um "Subjekt und Objekt", sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen  Richtigkeit,  vor allem  Regelmäßigkeit  ihrer Wahrnehmungen (sodaß sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht ...

Die Erkenntnis arbeitet als  Werkzeug  der Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem Mehr von Macht ...

Sinn der "Erkenntnis": hier ist, wie bei "gut" oder "schön", der Begriff streng und eng anthropozentrisch und biologisch zu nehmen. Damit eine bestimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert werden kann.  Die Nützlichkeit der Erhaltung - nicht  irgendein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen zu werden - steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnisorgane ..., sie entwickeln sich so, daß ihre Beobachtung genügt, uns zu erhalten. Anders: das  Maß  des Erkennenwollens hängt ab vom Maß des Wachsens des  Willens zur Macht  der Art: eine Art ergreift so viel Realität,  um über sie Herr zu werden, um sie in Dienst zu nehmen. 



c) Der Glaube an das "Ich". Subjekt.

481. Gegen den Positivismus, welcher bei den Phänomenen stehen bleibt "es gibt nur  Tatsachen",  würde ich sagen: nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur  Interpretationen.  Wir können kein Faktum "ansich" feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn, so etwas zu wollen.

"Es ist Alles  subjektiv"  sagt ihr: aber schon  das  ist  Auslegung.  Das "Subjekt" ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. - Ist es zuletzt nötig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon  das  ist Dichtung, Hypothese.

Soweit überhaupt das Wort "Erkenntnis" Sinn hat, ist die Welt unerkennbar: aber sie ist anders  deutbar,  sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. - "Perspektivismus".

Unsere Bedürfnisse sind es,  die die Welt auslegen;  unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.

482. Wir stellen ein Wort hin, wo unsere Unwissenheit anhebt, wo wir nicht mehr weiter sehen können, z. B. das Wort "Ich", das Wort "tun", das Wort "leiden": - das sind vielleicht Horizontlinien unserer Erkenntnis, aber keine "Wahrheiten".

483. Durch das Denken wird das Ich gesetzt; aber bisher glaubte man wie das Volk, im "Ich denke" liege etwas von Unmittelbar-Gewissem, und dieses "Ich" sei die gegebene  Ursache  des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse verstünden. Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag, -  das  allein beweist noch Nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann ein Glaube Lebensbedingung und  trotzdem falsch  sein.

484. "Es wird gedacht: folglich gibt es Denkendes": darauf läuft die Argumentation des CARTESIUS hinaus. Aber das heißt unseren Glauben an den  Substanz -begriff schon als "wahr a priori" ansetzen: - daß, wenn gedacht wird, es etwas geben muß, "das denkt", ist einfach eine Formulierung unserer grammatischen Gewöhnung, welche zu einem Tun einen Täter setzt. Kurz, es wird hier bereits ein logisch-metaphysisches Postulat gemacht - und  nicht nur konstatiert ...  Auf dem Weg des CARTESIUS kommt man  nicht  zu etwas absolut Gewissem, sondern nur zu einem Faktum eines sehr starken Glaubens.

Reduziert man den Satz auf "es wird gedacht, folglich gibt es Gedanken", so hat man eine bloße Tautologie: und gerade  das,  was in Frage steht, die  "Realität  des Gedankens", ist nicht berührt, - nämlich in dieser Form ist die "Scheinbarkeit" des Gedankens nicht abzuweisen. Was aber CARTESIUS  wollte,  ist, daß der Gedanke nicht nur eine  scheinbare Realität  hat, sondern eine  ansich

485. Der  Substanz -Begriff eine Folge des  Subjekt -Begriffs:  nicht  umgekehrt! Geben wir die Seele, "das Subjekt" preis, so fehlt die Voraussetzung für eine "Substanz" überhaupt. Man bekommt  Grade des Seienden man verliert  das  Seiende.

Kritiker der  "Wirklichkeit":  worauf führt die  Mehr-oder-Weniger-Wirklichkeit",  die Gradation des Seins, an die wir glauben? -

Unser Grad von  Lebens-  und  Machtgefühl  (Logik und Zusammenhang des Erlebten) gibt uns das Maß von "Sein", "Realität", Nicht-Schein.

Subjekt:  das ist die Terminologie unseres Glaubens an eine  Einheit  unter all den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehen diesen Glauben als  Wirkung einer  Ursache, - wir glauben an unseren Glauben so weit, daß wir um seinetwillen die "Wahrheit", "Wirklichkeit", "Substanzialität" überhaupt imaginieren. - "Subjekt" ist die Fiktion, als ob viele  gleiche  Zustände an uns die Wirkung  eines  Substrats wären: aber  wir  haben erst die "Gleichheit" dieser Zustände  geschaffen;  das Gleich- setzen  und Zurecht- machen  derselben ist der  Tatbestand, nicht  die Gleichheit (- diese ist vielmehr zu leugnen -).

486. Man müßte  wissen,  was  Sein  ist, um zu  entscheiden,  ob dieses oder jenes real  ist  (z. B. "die Tatsachen des Bewußtseins"); ebenso was  Gewißheit  ist, was  Erkenntnis  ist und dergleichen. - Da wir das aber  nicht  wissen, so ist eine Kritik des Erkenntnisvermögens unsinnig: wie sollte das Werkzeug sich selbst kritisieren können, wenn es eben nur  sich  zu Kritik gebrauchen kann? es kann sich nicht einmal selbst definieren!

487. Muß nicht alle Philosophie endlich die Voraussetzungen, auf denen die Bewegung der  Vernunft  ruht, ans Licht bringen? - unseren  Glauben an das "Ich"  als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen? Der älteste "Realismus" kommt zuletzt ans Licht: zu gleicher Zeit, wo die ganze religiöse Geschichte der Menschheit sich wiedererkennt als Geschichte vom Seelen-Aberglauben.  Hier ist eine Schranke:  unser Denken selbst involviert jenen Glauben (mit seiner Unterscheidung von Substanz, Akzidenz; Tun, Täter usw.); ihn fahren lassen heißt: nicht-mehr-denken-dürfen.

Daß aber ein Glaube, so notwendig er ist zur Erhaltung von Wesen, nichts mit der Wahrheit zu tun hat, erkennt man z. B. selbst daran, daß wir an Zeit, Raum und Bewegung glauben  müssen,  ohne uns gezwungen zu fühlen, hier absolute Realität zuzugestehen.

488.  Psychologische  Ableitung unseres Glaubens an die Vernunft. - Der Begriff "Realität", "Sein" ist von unserem  "Subjekt"- Gefühl entnommen.

"Subjekt": von uns aus interpretiert, so daß das Ich als Substanz gilt, als Ursache allen Tuns, als  Täter. 

Die logisch-metaphysischen Postulate, der Glaube an Substanz, Akzidenz, Attribut, usw. hat seine Überzeugungskraft in der Gewohnheit, all unser Tun als Folge unseres Willens zu betrachten: - so daß das Ich, als Substanz, nicht vergeht in der Vielheit der Veränderung. -  Aber es gibt keinen Willen. -

Wir haben gar keine Kategorien, um eine "Welt ansich" von einer "Welt als Erscheinung" scheiden zu dürfen. Alle unsere  Vernunft-Kategorien  sind sensualistischer Herkunft: abgelesen von der empirischen Welt. "Die Seele", "das Ich" - die Geschichte dieser Begriffe zeigt, daß auch hier die älteste Scheidung ("Atem", "Leben") ...

Wenn es nichts Materielles gibt, gibt es auch nichts Immaterielles. Der Begriff  enthält  nichts mehr.

Keine Subjekt-"Atome". Die Sphäre eines Subjekts beständig  wachsend  oder sich  vermindernd,  der Mittelpunkt des Systems sich beständig  verschiebend;  im Fall daß es die angeeignete Masse nicht organisieren kann, zerfällt es in zwei. Andererseits kann es sich ein schwächeres Subjekt, ohne es zu vernichten, zu seinem Funktionär umbilden und bis zu einem gewissen Grad mit ihm zusammen eine neue Einheit bilden. Keine "Substanz", vielmehr etwas, das ansich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt "erhalten" will (es will sich  überbieten -).

489. Alles, was als "Einheit" ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen  Anschein von Einheit. 

Das Phänomen des  Leibes  ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.

490. Die Annahme des  einen Subjekts  ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es ebensogut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrunde liegt? Eine Art  Aristokratie  von "Zellen", in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von  pares, [Gleichen - wp] welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen?

Meine Hypothesen:  Das Subjekt als Vielheit.

Der Schmerz intellektuell und abhängig vom Urteil "schädlich": projiziert.

Die Wirkung immer "unbewußt": die erschlossene und vorgestellte Ursache wird projiziert,  folgt  der Zeit nach.

Die Lust ist eine Art des Schmerzes.

Die einzige Kraft, die es gibt, ist gleicher Art wie die des Willens: ein Kommandieren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern.

Die beständige Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Subjekts. "Sterbliche Seele".

Die  Zahl  als perspektivische Form.

491. Der Glaube an den Leib ist fundamentaler, als der Glaube an die  Seele:  letzterer ist entstanden aus der unwissenschaftlichen Betrachtung der Agonien des Leibes (Etwas, das ihn verläßt. Glaube an die  Wahrheit des Traumes -).

492. Ausgangspunkt vom  Leib  und der Physiologie: warum? - Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als "Seelen" oder "Lebenskräfte"), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitsteilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum "Subjekt" nicht nur Ewigkeit gehört; ebenso daß der Kampf auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließendes Machtgrenzenbestimmen zum Leben gehört. die gewisse  Unwissenheit,  in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regiert werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das  Nichtwissen das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspektivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Untertanen als  gleicher Art  verstehen, alle fühlend, wollend, denkend - und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leib sehen oder erraten, auf ein zugehöriges subjektives, unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist.

Das direkte Befragen des Subjekts  über  das Subjekt und alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Tätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich  falsch  zu interpretieren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugnis der verschärften Sinne ab: wenn man wil, wir sehen zu, ob nicht die Untergebenen selber mit uns in Verkehr treten können.



d) Biologie des Erkenntnistriebes.
Perspektivismus.

493.  Wahrheit ist die Art von Irrtum,  ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das  Leben  entscheidet zuletzt.

494. Es ist unwahrscheinlich, daß unser "Erkennen" weiter reichen sollte, als es knapp zur Erhaltung des Lebens ausreicht. Die Morphologie zeigt uns, wie die Sinne und die Nerven, sowie das Gehirn sich entwickeln im Verhältnis zur Schwierigkeit der Ernährung.

495. "Der Sinn für Wahrheit" muß, wenn die Moralität des "Du sollst nicht lügen" abgewiesen ist, sich  vor  einem anderen Forum legitimieren: - als Mittel der Erhaltung von Mensch,  als Macht-Wille. 

Ebenso unsere Liebe zum Schönen: ist ebenfalls der  gestaltende Wille.  Beide Sinne stehen bei einander; der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten - eine Urlust! Wir können nur eine Welt  begreifen,  die wir selber  gemacht  haben.

496. Von der  Vielartigkeit  der Erkenntnis.  Seine  Relation zu vielem Anderen spüren (oder die Relation der Art) - wie sollte  das  "Erkenntnis" des  Andern  sein! Die Art zu kennen und zu erkennen ist selber schon unter den Existenz-Bedingungen: dabei ist der Schluß, daß es keine anderen Intellekt-Arten geben könne (für uns selber) als die, welche uns erhält, eine Übereilung: diese  tatsächliche  Existenz-Bedingung ist vielleicht nur zufällig und vielleicht keineswegs notwendig.

Unser Erkenntnis-Apparat nicht auf "Erkenntnis"  eingerichtet. 

497. Die bestgeglaubten apriorischen "Wahrheiten" sind für mich -  Annahmen bis auf Weiteres,  z. B. das Gesetz der Kausalität, sehr gut eingeübte Gewöhnungen des Glaubens, so einverleibt, daß  nicht daran  glauben das Geschlecht zugrunde richten würde. Aber sind es deswegen Wahrheiten? Welcher Schluß! Als ob die Wahrheit damit bewiesen würde, daß der Mensch bestehen bleibt!

498. Wie weit auch unser  Intellekt  eine Folge von Existenzbedingungen ist -: wir hätten ihn nicht, wenn wir ihn nicht  nötig  hätten, und hätten ihn nicht  so,  wenn wir ihn nicht  so  nötig hätten, wenn wir auch  anders  leben könnten.

499. "Denken" im primitiven Zustand (vor-organisch) ist  Gestalten-Durchsetzen,  wie beim Kristall. - In  unserem  Denken ist das  Wesentliche  das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata (= Prokrustesbett), das Gleich- machen  des Neuen.

500. Die Sinneswahrnehmungen nach "außen" projiziert: "innen" und "außen" - da kommandiert der  Leib - ?

Dieselbe gleichmachende und ordnende Kraft, welche im Idioplasma waltet, waltet auch beim Einverleiben der Außenwwelt: unsere Sinneswahrnehmungen sind bereits das  Resultat  dieser  Anähnlichung  und  Gleichsetzung  in Bezug auf  alle  Vergangenheit in uns; sie folgen nicht sofort auf den "Eindruck" -

501. Alles Denken, Urteilen, Wahrnehmen als  Vergleichen  hat als Voraussetzung ein "Gleich- setzen",  noch früher ein "Gleich- machen".  Das Gleich-machen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in die Amöbe ist.

"Erinnerung" spät, insofern hier der gleichmachende Trieb bereits  gebändigt  erscheint: die Differenz wird bewahrt. Erinnern als ein Einrubrizieren und Einschachteln; aktiv - wer?

502. In Betreff des  Gedächtnisses  muß man umlernen: hier steckt die Hauptverführung eine "Seele" anzunehmen, welche zeitlos reproduziert, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort "im Gedächtnis"; daß es "kommt", dafür kann ich nichts, der Wille ist dafür untätig, wie beim Kommen jedes Gedankens. Es geschieht etwas, dessen ich mir bewußt werde: jetzt kommt etwas Ähnliches - wer ruft es? weckt es?

503. Der ganze Erkenntnisapparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat - nicht auf Erkenntnis gerichtet, sondern auf  Bemächtigung  der Dinge: "Zweck" und "Mittel" sind so fern vom Wesen wie die "Begriffe". Mit "Zweck" und "Mittel" bemächtigt man sich des Prozesses (- man  erfindet  einen Prozeß, der faßbar ist), mit "Begriffen" aber der "Dinge", welche den Prozeß machen.

504. Das  Bewußtsein,  - ganz äußerlich beginnende, als Koordination und Bewußtwerden der "Eindrücke" - anfänglich am weitesten entfernt vom biologischen Zentrum des Individuums; aber ein Prozeß, der sich vertieft, verinnerlicht, jenem Zentrum beständig annähert.

505. Unsere Wahrnehmungen, wie wir sie verstehen: d. h. die Summe all der Wahrnehmungen, deren  Bewußtwerden  uns und dem ganzen organischen Prozeß vor uns nützlich und wesentlich war: also nicht alle Wahrnehmungen überhaupt (z. B. nicht die elektrischen); das heißt: wir haben  Sinne  nur für eine Auswahl von Wahrnehmungen - solcher, an denen uns gelegen sein muß, um uns zu erhalten.  Bewußtsein ist so weit da, als Bewußtsein nützlich ist.  Es ist kein Zweifel, daß alle Sinneswahrnehmungen gänzlich durchsetzt sind mit  Werturteilen  (nützlich und schädlich - folglich angenehm oder unangenehm). Die einzelne Farbe drückt zugleich einen Wert für uns aus (obwohl wir es uns selten oder erst nach langem, ausschließlichem Einwirken derselben Farbe eingestehen, z. B. Gefangene im Gefängnis oder Irre). So auch reagieren Insekten auf verschiedene Farben anders: einige lieben diese, andere jene, z. B. Ameisen.

506. Erst  Bilder  - zu erklären, wie Bilder im Geist entstehen. Dann  Worte,  angewendet auf Bilder. Endlich  Begriffe,  erst möglich, wenn es Worte gibt - ein Zusammenfassen vieler Bilder unter etwas Nicht-Anschauliches, sondern Hörbares (Wort). Das kleine Bißchen Emotion, welches beim "Wort" entsteht, also beim Anschauen ähnlicher Bilder, für die  ein  Wort da ist - diese schwache Emotion ist das Gemeinsame, die Grundlage des Begriffes. Daß schwache Empfindungen als gleich angesetzt werden,  als  dieselben empfunden werden, ist die Grundtatsache. Also die Verwechslung zweier ganz benachbarten Empfindungen in der  Konstatierung  dieser Empfindungen; -  wer  aber konstatiert? das  Glauben  ist das Uranfänglich schon in jedem Sinnes-Eindruck: eine Art Ja-sagen  erste  intellektuelle Tätigkeit! Ein "Für-wahr-halten" im Anfang! Also zu erklären: wie ein "Für-wahr-halten" entstanden ist! Was liegt für eine Sensation  hinter  "wahr"?

507. Die  Wertschätzung  "ich glaube, daß Das und Das so ist" als  Wesen  der  "Wahrheit".  In den Wertschätzungen drücken sich  Erhaltungs- und  Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsere  Erkenntnisorgane und Sinne  sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und Wachstums-Bedingungen. Das  Vertrauen  zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die  Wertschätzung  der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene  Nützlichkeit  derselben für das Leben:  nicht  deren "Wahrheit".

Daß eine Menge  Glauben  da sein muß; daß  geurteilt  werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte  fehlt:  - das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden  muß,  ist notwendig, -  nicht,  daß etwas wahr  ist. 

"Die  wahre  und die  scheinbare  Welt" - dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführ auf  Wertverhältnisse.  Wir haben  unsere  Erhaltungs-Bedingungen projiziert als  Prädikate des Seins  überhaupt. daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die "wahre" Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine  seiende  ist.



e) Entstehung von Vernunft und Logik

508. Ursprünglich Chaos der Vorstellungen. Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde - und geht zugrunde.

509. Das Begierden-Erdreich, aus dem die  Logik  herausgewachsen ist: Herden-Instinkt im Hintergrund. Die Annahme der gleichen Fälle setzt die "gleiche Seele" voraus.  Zum Zweck der Verständigung und Herrschaft. 

510. Zur  Entstehung der Logik.  Der fundamentale Hang,  gleichzusetzen, gleichzusehen  wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch den  Erfolg:  es bildet sich eine Anpassung aus, ein milderer Grad, in dem er sich befriedigen kann, ohne zugleich das Leben zu verneinen und in Gefahr zu bringen. Dieser ganze Prozeß ist ganz entsprechend jenem äußeren, mechanischen (der sein Symbol ist), daß das  Plasma  fortwährend, was es sich aneignet, sich gleich macht und in seine Formen und Reihen einordnet.

511. Gleichheit und Ähnlichkeit
    1) Das gröbere Organ sieht viele scheinbare Gleichheit;
    2) Der Geist  will  Gleichheit, d. h. einen Sinneneindruck subsumieren unter eine vorhandene Reihe: ebenso wie der Körper Unorganisches sich  assimiliert. 
Zum Verständnis der  Logik: 
    der Wille zur Gleichheit ist der Wille zur Macht  - der Glaube, daß etwas so und so sei (das Wesen des  Urteils),  ist die Folge eines Willens, es  soll  so viel als möglich gleich sein.
512. Die Logik ist geknüpft an die Bedingung:  gesetzt, es gibt identische Fälle.  Tatsächlich, damit logisch gedacht und geschlossen werde,  muß  diese Bedingung erst als erfüllt fingiert werden. Das heißt: der Wille zur  logischen Wahrheit  kann sich erst vollziehen, nachdem eine grundsätzliche  Fälschung  allen Geschehens angenommen ist. Woraus sich ergibt, daß hier ein Trieb waltet, der beider Mittel fähig ist zuerst der Fälschung und dann der Durchführung seines Gesichtspunktes: die Logik stammt  nicht  aus dem Willen zur Wahrheit.

513. Die erfinderische Kraft, welche Kategorien erdichtet hat, arbeitete im Dienst des Bedürfnisses, nämlich von Sicherheit, von schneller Verständlichkeit aufgrund von Zeichen und Klängen, von Abkürzungsmitteln: - es handelt sich nicht um metaphysische Wahrheiten bei "Substanz", "Subjekt", "Objekt", "Sein", "Werden". - Die Mächtigen sind es, welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben, und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktionskünstler-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben.

514. Eine Moral, eine durch lange Erfahrung und Prüfung erprobte,  bewiesene  Lebensweise kommt zuletzt als Gesetz zum Bewußtseins, als  dominierend ... Und damit tritt die ganze Gruppe verwandter Werte und Zustände in sie hinein: sie wird ehrwürdig, unangreifbar, heilig, wahrhaft; es gehört zu ihrer Entwicklung, daß ihre Herkunft  vergessen  wird ... Es ist ein Zeichen, daß sie Herr geworden ist ...

Ganz dasselbe könnte geschehen sein mit den  Kategorien der Vernunft:  dieselben könnten, unter vielem Tasten und Herumgreifen, sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit ... Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte - und wo man sie  befahl,  d. h. wo sie wirkten als  befehlend ... Von jetzt ab galten sie als a priori, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar. Und doch drücken sie vielleicht nichts aus, als eine bestimmte Rassen- und Gattungs-Zweckmäßigkeit, - bloß ihre Nützlichkit ist ihre "Wahrheit" -

515. Nicht "erkennen", sondern schematisieren, - dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genugtut.

In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das  Bedürfnis  maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu "erkennen", sondern zu subsumieren, zu schematisieren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung ... (Das Zurechtmachen, das Ausdichten zum Ähnlichen, Gleichen, - derselbe Prozeß, den jeder Sinneseindruck durchmacht, ist die Entwicklung der Vernunft!) Hier hat nicht eine prä-existente "Idee" gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden ... Die  Finalität  in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache: bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, - es wird unübersichtlich -, zu ungleich -

Die Kategorien sind "Wahrheiten" nur in dem Sinne, als sie lebensbedingend für uns sind: wie der euklidische Raum eine solche bedingende "Wahrheit" ist. (Ansich geredet: da Niemand die Notwendigkeit, daß es gerade Menschen gibt, aufrechterhalten wird, ist die Vernunft, so wie der euklidische Raum, eine bloße Idiosynkrasie [Mischung - wp] bestimmter Tierarten, und eine neben vielen anderen ...)

Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung: der Instinkt der Nützlichkeit, so zu schließen wie wir schließen, steckt uns im Leib, wir  sind  beinahe dieser Instinkt ... Welche Naivität aber, daraus einen Beweis zu ziehen, daß wir damit eine "Wahrheit ansich" besäßen! ... Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine "Wahrheit".

516. Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine "Notwendigkeit" aus,  sondern nur ein Nichtvermögen. 

Wenn, nach ARISTOTELES, der  Satz vom Widerspruch  der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführungen zurückgehen, wenn in ihm das Prinzip aller anderen Axiome liegt: umso strenger sollte man erwägen, was er im Grund schon an Behauptungen  voraussetzt.  Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob man es anderswoher bereits kennte; nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden  können.  Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden  sollen.  Dann wäre Logik ein Imperativ,  nicht  zur Erkenntnis des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt,  die uns wahr heißen soll. 

Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff "Wirklichkeit", für uns erst zu  schaffen? ... Um das Erste zu bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein  Kriterium der Wahrheit,  sondern einen  Imperativ  über das, was als wahr gelten soll.

Gesetzt, es gäbe ein solches sich-selbst-identisches  A  gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der Mathematik) voraussetzt, das  A  wäre bereits eine  Scheinbarkeit,  so hätte die Logik eine bloß  scheinbare  Welt zur Voraussetzung. In der Tat glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu  bestätigen  scheint. Das "Ding" - das ist das eigentliche Substrat zu  A unser Glaube an Dinge  ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das  A  der Logik ist wie das Atom eine Nachkonstruktion des "Dinges" ... Indem wir das nicht begreifen und aus der Logik ein Kriterium des  wahren Seins  machen, sind wir bereits auf dem Weg, all jene Hypostasen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] : Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion usw. als Realitäten zu setzen: das heißt eine metaphysische Welt zu konzipieren, das heißt eine "wahre Welt" (-  diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...).

Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen, das Für-wahr-halten und das Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein  Recht  voraussetzen, überhaupt für wahr zu halten oder für unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht,  daß es für uns Erkenntnis gibt,  daß  Urteilen wirklich die Wahrheit treffen könne:  - kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen  können). 

Hier  regiert  das sensualistische grobe Vorurteil, daß die Empfindungen uns  Wahrheiten  über die Dinge lehren, - daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es ist  hart  und es ist  weich.  (Der instinktive Beweis "Ich kann nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben" -  ganz grob  und  falsch.) 

Das begriffliche Widerspruchs-Verbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden  können,  daß ein Begriff das Wesen eines Dings nicht nur bezeichnet, sondern  faßt ... Tatsächlich gilt die  Logik  (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von  fingierten Wesenheiten, die wir geschaffen haben.  Logik ist der Versuch,  nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger: uns formulierbar, berechenbar zu machen ...

517. Die  Annahme des Seienden  ist nötig, um denken und schließen zu können: die Logik handhabt nur Formeln für Gleichbleibendes. Deshalb wäre diese Annahme noch ohne Beweiskraft für die Realität: "das Seiende" gehört zu unserer Optik. Das "Ich" als seiend (- durch Werden und Entwicklung nicht berührt).

Die  fingierte  Welt von Subjekt, Substanz, "Vernunft" usw. ist  nötig -: eine ordnende, vereinfachende, fälschende, künstlich-trennende Macht in uns. "Wahrheit" ist Wille, Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen: - die Phänomene  aufreihen  auf bestimmte Kategorien. Hierbei gehen wir vom Glauben an das "An-sich" der Dinge aus (wir nehmen die Phänomene als  wirklich). 

Der Charakter der werdenden Welt als  unformulierbar,  als "falsch", als "sich-widersprechend".  Erkenntnis  und  Werden  schließen sich aus.  Folglich  muß "Erkenntnis" etwas anderes sein: es muß ein Wille zum Erkennbar-machen vorangehen, eine Art Werden selbst muß die  Täuschung des Seienden  schaffen.

518. Wenn unser "Ich" uns das einzige  Sein  ist, nach dem wir alles Sein machen oder verstehen: sehr gut! Dann ist der Zweifel sehr am Platze, ob hier nicht eine perspektivische  Jllusion  vorliegt - die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure  Vielfachheit;  es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare  reichere  Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen. Endlich: gesetzt Alles ist Werden, so ist  Erkenntnis nur möglich aufgrund des Glaubens an ein Sein. 

519. Wenn es "nur  ein  Sein gibt, das Ich" und nach seinem Bild alle anderen "Seienden" gemacht sind, - wenn schließlich der Glaube an das "Ich" mit dem Glauben an die Logik, d. h. metaphysische Wahrheit der Vernunft-Kategorien steht und fällt: wenn andererseits das Ich sich als etwas  Werdendes  erweist: so -

520. Die fortwährenden Übergänge erlauben es nicht, von "Individuum" usw. zu reden; die "Zahl" der Wesen ist selber im Fluß. Wir würden nichts von Zeit und nichts von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, "Ruhendes" neben Bewegtem zu sehen glaubten. Ebensowenig von Ursache und Wirkung, und ohne die irrtümliche Konzeption des "leeren Raumes" wären wir gar nicht zur Konzeption des Raums gekommen. Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den "Augenschein", daß es gleiche Dinge gibt. Eine werdende Welt könnte im strengen Sinn nicht "begriffen", nicht "erkannt" werden; nur insofern der "begreifende" und "erkennende" Intellekt eine schon geschaffene grobe Welt vorfindet, gezimmert aus lauter Scheinbarkeiten, aber fest geworden, insofern diese Art Schein das Leben erhalten hat - nur insofern gibt es etwas wie "Erkenntnis": d. h. ein Messen der früheren und der jüngeren Irrtümer aneinander.

521.  Zur "logischen Scheinbarkeit".  - Der Begriff "Individuum" und "Gattung" gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich.  "Gattung"  drückt nur die Tatsache aus, daß eine Fülle ähnlicher Wesen zu gleicher Zeit hervortreten und daß das Tempo im Weiterwachsen und Sich-Verändern eine lange Zeit verlangsamt ist: sodaß die tatsächlichen kleinen Fortsetzungen und Zuwächse nicht sehr in Betracht kommen (- eine Entwicklungsphase, bei der das Sich-entwickeln nicht in die Sichtbarkeit tritt, sodaß ein Gleichgewicht erreicht  scheint,  und die falsche Vorstellung ermöglicht wird,  hier sei ein Ziel erreicht  - und es habe ein Ziel in der Entwicklung gegeben ...).

Die Form gilt als etwas Dauerndes und deshalb Wertvolleres; aber die Form ist bloß von uns erfunden; und wenn noch so oft "dieselbe Form erreicht wird", so bedeutet das nicht, daß es  dieselbe Form ist,  - sondern es  erscheint immer etwas Neues  - und nur wir, die wir vergleichen, rechnen das Neue, insofern es Altem gleicht, zusammen in die Einheit der "Form". Als ob ein  Typus  erreicht werden sollte und gleichsam der Bildung vorschwebt und innewohnt.

Die Form, die  Gattung,  das  Gesetz die  Idee der  Zweck  - hier wird überall der gleiche Fehler gemacht, daß einer Fiktion eine falsche Realität untergeschoben wird: wie als ob das Geschehen irgendeinen Gehorsam in sich trage, - eine künstliche Scheidung im Geschehen wird da gemacht zwischen dem,  was  tut, und dem,  wonach  das Tun sich richtet (aber das  was  und das  wonach  sind nur angesetzt aus einem Gehorsam gegen unsere metaphysisch-logische Dogmatik: kein "Tatbestand").

Man soll diese  Nötigung,  Begriffe, Gattungen, Formen, Zwecke, Gesetze zu bilden  ("eine Welt der identischen Fälle")  nicht so verstehen, als ob wir damit die  wahre Welt  zu fixieren imstande wären; sondern als Nötigung, uns eine Welt zurecht zu machen, bei der  unsere Existenz  ermöglicht wird: - wir schaffen damit eine Welt, die berechenbar, vereinfacht, verständlich usw. für uns ist.

Diese selbe Nötigung besteht in der  Sinnen-Aktivität,  welche der Verstand unterstützt - durch Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten, auf dem alles "Wiedererkennen", alles Sich-verständlich-machen-können beruth. Unsere  Bedürfnisse  haben unsere Sinne so präzisiert, daß die "gleiche Erscheinungswelt" immer wiederkehrt und dadurch den Anschein der  Wirklichkeit  bekommen hat.

Unsere subjektive Nötigung, an die Logik zu glauben, drückt nur aus, daß wir, längst bevor uns die Logik selber zum Bewußtsein kam, nichts getan haben  als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen:  jetzt finden wir sie im Geschehen vor -, wir können nicht mehr anders - und vermeinen nun, diesen Nötigung verbürge etwas über die "Wahrheit". Wir sind es, die das "Ding", das "gleiche Ding", das Subjekt, das Prädikat, das Tun, das Objekt, die Substanz, die Form geschaffen haben, nachdem wir das Gleich machen,  das  Grob-  und Einfach- machen  am längsten getrieben haben. Die Welt  erscheint  uns logisch, weil  wir  sie erst logisiert  haben. 

522.  Grundlösung. - Wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe. Die Sprache ist auf die allernaivsten Vorurteile hin gebaut.

Nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir  nur  in der sprachlichen Form  denken, - somit die "ewige Wahrheit" der "Vernunft" glauben (z. B. Subjekt, Prädikat usw.).

Wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in einem sprachlichen Zwang tun wollen,  wir langen gerade noch beim Zweifel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen.

Das vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können. 
LITERATUR - Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht, 3. Buch, Nietzsches Gesammelte Werke, Musarionausgabe, Bd. 19, München 1926