tb-1 J. VolkeltH. HelmholtzC. GöringE. Laas    
 
HERMANN COHEN
Kants Theorie der Erfahrung
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"Logik und Psychologie können zwar zeigen, wie im Denken das Einzelne zum Allgemeinen verbunden, im Allgemeinen vereinigt wird. Aber nach welcher methodischen Kunst das Allgemeine im Seienden das Einzelne entfaltet, kraft welcher Voraussetzungen das Einzelne im Allgemeinen enthalten ist, das kann weder Psychologie noch Logik lehren. Und wo die mathematische Einsicht vom Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen fehlt, da muß die Metaphysik unfruchtbar bleiben für die Erkenntnis der Natur, die im Einzelnen das Allgemeine darstellt."

"Wie der Geometer bei seinen Gebilden nicht danach fragt, ob dieselben in der Natur existieren, und durch diese Sorglosigkeit der Abstraktion gerade zu einer Gewißheit gelangt, so darf auch der Philosoph nicht von Dingen ausgehen, die in der Natur gegeben seien, und denen die Ideen ähnlich sein müssen. Das ist  der prinzipielle Irrtum:  daß die Ideen die Bilder der Dinge wären. Mit welchem Kriterium könnte ich die Ähnlichkeit und Konformität dieser Kopien prüfen? Wenn nun aber freilich die körperlichen Dinge der natürliche und berechtigte Gegenstand meiner Wißbegierde sind, so muß ich mich derselben auf einem anderen Weg vergewissern, als vom Gedanken aus, daß es die Dinge außer mir, außerhalb meines Geistes gebe, und daß die Ideen die Bilder derselben seien."

"Nach Descartes Kriterium der Gewißheit bleibt die mathematische Evidenz als solche ungeklärt. Der Begriff des reinen Denkens war zu weit gefaßt. Indessen scheint Leibniz seinen Widerspruch nicht ausdrücklich darauf gerichtet zu haben. Diese umspannende Fassung des Denkens mochte ihm nicht bloß sympathisch sein, sondern die allein richtige dünken, in mehrfacher Hinsicht. Erstens gilt ihm die Geometrie Descartes' als eine wichtige Errungenschaft, die er ausbaut. Sodann aber ist auf seine Teilnahme am Tangentenproblem seine Entdeckung des Infinitesimal- begriffs mitzurückzuführen, in welchem sich die Wirksamkeit der sinnlichen Anschauung versagt, ihre Kompetenz daher auch verworfen werden mußte. Hierin mußte ihm Descartes also gerade den einzig richtigen Weg anzubahnen scheinen, den er nur zu verfolgen habe."


Einleitung
[Fortsetzung]

4. Der entwicklungsgeschichtliche
Standpunkt des Aristoteles

Die Metaphysik des ARISTOTELES stellt den psychologischen Gesichtspunkt in den Vordergrund, der bei PLATONs Richtung auf die Geltungsweisen der Erkenntnis und auf die Prüfung des Wertes, den die Arten allen seelischen Verhaltens für Wissenschaft und Wahrheit haben, zurücktreten mußte. Bei ARISTOTELES kommt es zunächst darauf an zu betonen, daß alles Wissen mit der Wahrnehmung anfange, daß sich aus den Wahrnehmungen die Erfahrung zusammensetze, und daß diese allenfalls zu Kunst und Weisheit und Wissenschaft auswachsen könne. Und nunmehr und von da ab zieht sich ein endloser unerquicklicher Streit aum diese Geburtsgeschichte der Wissenskeime durch die Geschichte der Philosophie hindurch, deren Inhalt derselbe auszumachen scheint. Selbst der Universalien-Streit hat seine Quelle in dieser psychologischen Ansicht vom Ursprung der Grundbegriffe, bzw. in der Verkennung und Bestreitung desselben.

An jenen Auswüchsen eines falschen Platonismus zeigte sich aber, wie gefährlich die Einseitigkeit der erkenntniskritische Richtung werden kann, wenn ihr nicht das psychologische Interesse helfend und aufklärend zur Seite tritt. War doch PLATO selbst genötigt, für seine Charakteristik der Arten des Wissens die Seelenarten zu unterscheiden. In psychologischen Distinktionen müssen zunächst alle Unterscheidungen vorbereitet und gefaßt werden, die wir an den Arten des Wissens anstellen können. Und wie in der Seele alles entstehen müsse, und wie es sich in ihr von kleinen Anfängen an entwickeln könne, dieser Grundgedanke der psychologischen Aufklärung muß Gemeingut und Anfang aller philosophischen Bildung und Einsicht sein. Vom  proteron pros hemas  [was zuerst bewußt wird - wp] allein kann man zum  proteron te physei  [ansich Ersten - wp] gelangen.

Diesen psychologischen und entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkt macht der daher wertvolle Durchgangspunkt der aristotelischen Metaphysik geltend. Wie wenig konsequent ARISTOTELES diesen Gesichtspunkt auch vertritt, so hat er doch in der Vielspaltigkeit seines Wesens mit hinlänglicher Breite und Energie diesen Gedanken zum Ausdruck gebracht, und mit all seinem unerlaubten Spott gegen den Urheber der Ideenwelt das Recht der Existenz diesem Gedanken verliehen: daß die Prüfung der Denk-Werte sich nicht gänzlich der Nachfrage um die Entstehung der Wissensstufen im ganzen Seelenleben enthalten dürfe. Wird der als Hypothesis zu denkende Grundbesitz des Geistes nicht deutlich nach seinem Verhältnis "zu uns" und "zur Natur" bestimmt, so können sich allerdings sehr leicht "poetische Metaphern" unter den Ideen verstecken und gar zu drohend ist die Gefahr, daß die gepredigte Vernunft sich als  ignava ratio  [faule Vernunft - wp] einzurichten lerne.

So erkennen wir bezüglich dieser philosophischen Grundfrage das geschichtliche Verdienst des ARISTOTELES darin, daß er dem Sensualismus in berechtigten Schranken Wort und Geltung verschafft hat. Das ist eine andere Verteidigung der Sinne, als welche die Sophisten zustande brachten. Neben und nur vor dem Allgemeinen, das ansich zu vollstem Ausdruck kam, neben und nur vor der Form, die nachher ihren substantiellen Wert empfing, neben und nur vor der Entelechie des Zweckes, in der alle Ursachen zusammengefaßt wurden, galt es das Einzelne, galt es den Stoff, galt es die Möglichkeit anzuerkennen.

So blieb der Geist zwar nicht an den Dingen haften, wurde ihnen aber auch nicht gänzlich entrückt, wie es leicht geschehen konnte, wenn die wissenschaftliche Veranlassung vergessen wurde, welche für den Mathematiker PLATON in den sinnlichen Bilder-Dingen lag. So wurde der rezeptive Geist zwar nicht des Denkens entledigt, sondern vielmehr der schöpferischen Vernunft koordiniert; aber auch nicht den Sinnen entfremdet und mit der Wahrnehmung in einer deutlicheren und populäreren Verbindung erhalten, als die, die der Idealismus unterhielt. Die psychologische Metaphysik des ARISTOTELES vertritt PLATON gegenüber einen entwicklungsgeschichtlichen Sensualismus und das Recht der Wahrnehmung.

Mit diesem Grundgedanken des ARISTOTELES hängt es zusammen, daß sich derselbe für seine Philosophie nicht auf eine Wissenschaft bezieht, wie PLATO auf die Mathematik. Zwar beschäftigt er sich in ausgedehnter Weise mit der Beschreibung der Naturkörper, aber diese Kenntnis, wie sehr sie den Horizont erweitert, Welt- und Naturkunde fördert, ist doch im Altertum methodisch von der Naturlehre unterschieden worden, wobei in letzterer die Alexandriner und vor allem ARCHIMEDES die Bahn brachen. Die Naturbeschreibung hängt nur indirekt, durch die Mittel und Werkzeuge der Forschung und durch die Beurteilung ihrer Grundlagen mit der Mathematik zusammen. Die Naturlehre hingegen beruth zum guten Teil auf den Gebilden, Begriffen und Methoden der mathematischen Abstraktionen. Für die philosophische Unterscheidung von PLATON und ARISTOTELES genügt daher der eine Umstand: daß ARISTOTELES, der Biologe, die Mathematik in ihrem Erkenntniswert geringschätzt. Diese Charakteristik ist entscheidend. Denn die Philosophie ist für den Begriff des Wissens in unersetzlicher Art auf die Mathematik angewiesen. Da nun die Naturlehre einen intimeren Zusammenhang mit der Mathematik hat als die Naturbeschreibung, so ist auch das Verhältnis des Philosophen zur Naturlehre ein intimeres, als das zur Naturgeschichte. Es kommt jedoch noch ein Umstand hinzu, welcher eben dieses Verhältnis der Philosophie zur Naturlehre zu einem fundamentalen Problem der philosophischen Untersuchung selbst macht, wie wir die Mathematik bereits als ein solches Objekt der Philosophie erkannt haben.

Die Naturlehre beruth nämlich nicht lediglich auf Mathematik einerseits und deren Anwendung andererseits auf die Beobachtung und den Versuch an sinnlichen Dingen. Außer diesen beiden Arten methodischer Mittel, von denen die Elemente der zweiten Art gewöhnlich unter dem Namen der Erfahrung zusammengefaßt werden, außer Mathematik und Erfahrung also bedarf die Naturlehre noch einer anderen Grundlage, welche bald mit ausdrücklicher Zustimmung als eine philosophische anerkannt wird, bald mit unwilliger Zurückhaltung als eine solche eliminiert werden soll. Begriffe, die weder schlechthin der sinnlichen Erfahrung entnommen werden können, noch auch der Mathematik angehören; Begriffe, die nichtsdestoweniger zur Fundamentierung der Natur im theoretischen Sinne unentbehrlich sind, solche Begriffe von zweifelhafter Herkunft bilden das dunkle Element, welches die Naturlehre nicht nur von der Mathematik, sondern auch von der Naturgeschichte unterscheidet. Durch dieses Element ist nun aber die Naturlehre das umfassende Problem der Philosophie und die Formulierung desselben das sicherste Wahrzeichen vom Stand ihrer Entwicklung.

In der Tat würde ARISTOTELES den beherrschenden Einfluß auf die Periode des christlichen Weltalters nicht behauptet haben, wenn nicht seine Physik neben seiner Tiergeschichte den Anspruch der Philosophie erhoben hätte. Die philosophischen Voraussetzungen, welche die Naturlehre neben Mathematik und Erfahrung einschließt, sind in dieser Bibel des mittelalterlichen Naturalismus mit großem Nachdruck geltend gemacht worden. Und es möchte kaum einen metaphysischen Begriff der Mechanik geben, der nicht in Ausführungen oder Andeutungen oder wenigstens im Keim in der aristotelischen Physik nachweisbar wäre. Bei aller Polemik gegen ARISTOTELES und bei allen heftigsten und innerlichsten Widersprüchen gegen dessen Prinzipien sind doch die Männer der mathematische Renaissance in diesem Kampf gegen "das Naturgesetz Aristoteles", wie PICO de MIRANDOLA diese heidnische Autorität stigmatisierte, in dieser Auseinandersetzung mit dem technischen Systematiker der Philosophie groß geworden.

In GALILEIs Schriften knüpft die Diskussion des Grundbegriffs der modernen Naturwissenschaft, des Begriffs der Bewegung, an die Lehre des ARISTOTELES von der Bewegung an, deren Anschauungen nicht allein mathematisch zu berichtigen waren. Die Gesetze der Bewegung, die in mathematischen Formen und Formeln zu verfassen und an sinnlichen Dingen und Vorgängen der Erfahrung zu belegen sind, haben Begriffe zu ihrer Voraussetzung, die nicht schlechthin der Mathematik entstammen, geschweige der Erfahrung entlehnt werden können. Diese Begriffe, wie die Stetigkeit, die Unteilbarkeit, kommen bei ARISTOTELES vor. Nicht daran fehlt es in erster Linie, daß diese Begriffe mit den Tatsachen nicht in Einklang gebracht werden. Nicht darin besteht das Grundübel der Physik des ARISTOTELES, daß es ihm nicht angelegen ist, oder nicht gelingt, die Begriffe den Tatsachen angemessen zu fixieren; sondern darin vielmehr liegt der Fehler der aristotelischen und scholastischen Physik: daß sie die Begriffe nicht mit der Mathematik in Einklang zu bringen verstanden hat. Deswegen erst konnten die Begriffe auch nicht mit den Tatsachen übereinstimmen, weil die Mathematik allein diese Vereinbarung herzustellen vermag. Im Mangel der Mathematik liegt daher zugleich der Mangel der Physik bei ARISTOTELES. Dieser Mangel besteht aber in den der Mathematik angemessenen philosophischen Begriffen. Also liegt im Mißverständnis der Mathematik nach ihrer Bedeutung für die Physik der schwere Grundfehler der aristotelischen Metaphysik, der es zugleich erklärlich macht, daß dieselbe sich zur reinen Mathematik in kein Verhältnis gesetzt hat. Und so läßt sich hieraus ferner die Unfruchtbarkeit der aristotelischen Grundbegriffe verstehen.

Denn da die metaphysischen Begriffe ihr legitimes Verhältnis zur Mathematik bei ARISTOTELES nicht gewinnen, daß die Philosophie somit zu einer Wissenschaft außerhalb ihrer selbst nicht ins Verhältnis gesetzt wird, so werden die Begriffe, als wären sie ausreichend für sich selbst, als bedürften sie keines Einvernehmens mit der Mathematik, in ein selbstgenügsames System vermauert, das sogar von einem Hauch der Erfahrung abgesperrt wird. Das Allgemeine ansich ist Form und Substanz, Sein und Gesetz; das Einzelne bildet die weit überstiegene Vorstufe. Diese Kluft zwischen den Grundbegriffen des ARISTOTELES erklärt das Fehlen der mathematischen Vermittlung, die allein sie hätte ausfüllen können. "Die Geometrie ist die Erkenntnis des beständig Seienden." Logik und Psychologie können zwar zeigen, wie im Denken das Einzelne zum Allgemeinen verbunden, im Allgemeinen vereinigt wird. Aber nach welcher methodischen Kunst das Allgemeine im Seienden das Einzelne entfaltet, kraft welcher Voraussetzungen das Einzelne im Allgemeinen enthalten ist, das kann weder Psychologie noch Logik lehren. Und wo die mathematische Einsicht vom Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen fehlt, da muß die Metaphysik unfruchtbar bleiben für die Erkenntnis der Natur, die im Einzelnen das Allgemeine darstellt.

So sehen wir, daß ARISTOTELES, der, als entwicklungsgeschichtlicher Sensualist, auch für die Förderung der Naturgeschichte von Bedeutung ist: weil er nicht auf die Prüfung und Begründung der Wissenswerte ausgeht, auf den Prototyp wissenschaftlicher Wahrheit, die Mathematik, die philosophische Untersuchung nicht hinrichtet, als Metaphysiker die Philosophie von der rechten Bahn abgelenkt hat, innerhalb welcher allein sie zu wahrhaften "Hypothesen" zu gelangen und aus denselben mit den Tatsachen übereinstimmende Schlüsse zu ziehen vermag.


5. Die philosophischen Voraussetzungen
der mathematischen Naturwissenschaft

Das neue Zeitalter, welches die "neuen Wissenschaften" gründete, war sich seines Weges klar bewußt, als es bei ARCHIMEDES wieder einsetzend ARISTOTELES bekämpfte und in PLATON den philosophischen Genius der neuen Zeit erweckte. Die Ideen der wissenschaftlichen Renaissance Italiens, die mediceischen Ideen der Platonischen Akademie, wie die aus Deutschland wieder rückgewanderten Reformgedanken der Weltbetrachtung, wie nicht minder endlich die Keime der neuen mathematischen Grundbegriffe, sie alle münden in GALILEIs universalen Geist, der als Philosoph und Mathematiker wie als Beobachter und Experimentator alle Qualitäten und Methoden vereinigt, die verbunden nötig waren, um die Dynamik und in ihr die mathematische Naturwissenschaft zu begründen.

Zu dieser neuen, nur äußerlich und psychologisch in Tatsachen und Begriffen, sowie in den Zielen und Problemen mit den scholastisch-aristotelischen Naturansichten zusammenhängenden Wissenschaft war freilich eine nüchterne Beobachtung und der exakte Versuch erforderlich. Aber schon der Versuch war durch Mathematik bedingt. Und die Mathematik, der man dazu bedurfte, war nicht vorhanden, sondern mußte erst entdeckt werden, obwohl auch hierbei die Ansätze auf die Alten zurückführten. Und zu dieser Erweiterung der antiken Mathematik mußte die Philosophie mithelfen. So gewahren wir am Eingang der neuen Zeit wiederum das intimste Verhältnis von Philosophie und Mathematik, und mittels derselben von Philosophie und reiner oder mathematischer Naturwissenschaft.

Von diesem Sachverhalt aus kann man sich am schöpferischen Grundbegriff ebensosehr der Mathematik wie der mathematischen Naturwissenschaft überzeugen: der Begriff des Unendlichkleinen hat anerkanntermaßen diese eminente Bedeutung. Und wie sehr derselbe durch geometrische und arithmetisch Probleme vorbereitet ist, so kommt er doch in seiner mechanischen Wirksamkeit erst zu seiner Entfaltung, daher er denn auch, bevor er noch in begrifflicher Strenge fixiert und entdeckt war, schon bei GALILEI seins schöpferische Arbeit leistete. Dieser instrumentale Begriff des Infinitesimalen beruth nun aber auf einer Voraussetzung schlechthin philosophischer Art, auf der Voraussetzung eines Grundgesetzes unseres Denken oder unseres Bewußtseins, welche jene Männer der Renaissance selbst als das Gesetz der Stetigkeit bezeichnet haben.

Ist somit der Grundbegriff der neuen Mathematik in einer philosophischen Voraussetzung begründet, so ist nicht mindern die neue Naturwissenschaft von einer solchen abhängig. denn dieselbe beruth letztlich auf dem Prinzip der Beharrung. Dieses aber ist eine Konsequenz der Stetigkeit (8). In der Beharrung ist nun nicht nur das erste NEWTONsche Bewegungsgesetz als ein mit philosophischen Begriffen zumindest zusammenhängendes erkannt und demzufolge auch das dritte derselben, insofern es das erste voraussetzt, sondern andere wichtige Grundbegriffe der Naturwissenschaft sind damit zugleich auf philosophische Voraussetzungen gestellt. Denn der Begriff der Substanz setzt vor allem Beharrung voraus. Und die Zeit und der Raum sind mit der Beharrung zusammenhängende Begriffe, ohne deren Hinzunehmen die Geschwindigkeit nicht definiert werden kann. So sehen wir allenthalben die Naturwissenschaft in ihren Grundlagen mit der Philosophie kompliziert.

Indessen die Art dieser Komplikation bildet gerade das Problem. Daß außer der Mathematik Begriffe zur Mechanik gehören, welche eben nicht anders denn als philosophische zu bezeichnen sind, das hat GALILEI nicht verheimlicht, der vielmehr auf das  mente concipio  [geistiger Entwurf - wp] neben und gegenüber den Beobachtungen und Messungen ein großes Gewicht legt. Aber wie diese latenten und heimlich mitwirkenden Begriffe klarzustellen und in ihrer Potenz und Geltung zu charakterisieren seien, das ist die große Frage, die durch die Geschichte der neueren Philosophie geht: wie der vage und vieldeutige Ausdruck des Philosophischen nach seiner Leistung für die Mechanik begrifflich präzisiert werden könne. Diese genaue Bestimmung und Abgrenzung zusammenwirkender methodischer Elemente ist das eigentliche Ziel, welches KANT vorzugsweise angestrebt hat.


6. Kants Verhältnis zu den
beiden Schulen seiner Vorgänger

Die Führer der modernen Philosophie sind zugleich die vorzüglichen Mitarbeiter und Schöpfer der mathematischen Naturwissenschaft. Der Zusammenhang von Philosophie und Wissenschaft ist in ihnen verkörpert. Aber dennoch ist es der tragische Charakter der neueren Philosophie, daß sie diesen ihren eigenen Zusammenhang mit der sich erzeugenden Wissenschaft nicht zur klaren Darstellung bringt. Sie hat ihre Höhepunkte in DESCARTES und LEIBNIZ, die beide an der Gründung der mathematischen Naturwissenschaft den positivsten Anteil haben; dennoch aber von NEWTON überflügelt wurden. Es schein nun aber die Meinung irrig zu sein, daß NEWTON wie er die Grundlegung der wissenschaftlichen Prinzipien vollziet, so auch die Erfüllung der philosophischen Einsichten bringe, und daß überhaupt, was DESCARTES und LEIBNIZ vermissen lassen, von GALILEI und NEWTON in philosophischen Fixierungen geleistet werde. Die Geschichte der Philosopie ist freilich erst in ihren Anfängen; und die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen läßt sich nicht leicht überblicken. Indessen soviel scheint vorerst gesagt werden zu dürfen, daß sich bei DESCARTES wie bei LEIBNIZ ein ganz anderes, energischeres und bestimmteres Ringen gewahren läßt nach denjenigen spezifisch philosophischen Feststellungen, welche das Urteil über die Erkenntnisart und den Erkenntniswert der verschiedenen wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse betreffen, als das bei GALILEI und bei NEWTON im Allgemeinen und durchgängig sich ersehen läßt.

Es kommt ein anderer Punkt hinzu, welcher diese Frage zur Entscheidung bringen dürfte. Jener tragische Zug in der Entwicklung der neueren Philosophie findet darin seine Versöhnung, daß zwar die Grundlegung der wissenschaftlichen Prinzipien von NEWTON, die der philosophischen Grundsätze hingegen von KANT vollzogen wird. So findet die neuere Philosophie ihren Abschluß dennoch nicht in NEWTON, sondern in KANT. Und um KANT zu verstehen, um die Summe als solche zu begreifen, die er zieht, müssen wir die Summanden kennen, welche die Männer des 17. Jahrhunderts darstellen. Jene lassen sich ohne KANT als ihren Vollender nicht begreifen, und KANT nicht ohne sie, als seine Vorläufer.

Unter den Philosophen dieser Periode sind demgemäß vorzugsweise diejenigen als Vorläufer KANTs zu betrachten, welche am Aufbau der mathematischen Naturwissenschaft mitarbeiten und somit für die Charakteristik derjenigen Voraussetzungen mitinteressiert sein müssen, welche zu diesem Bau erforderlich sind: diejenigen also, welche der Spur PLATONs folgen, Wissenschaft erzeugen und was Wissenschaft sei, bezeugen. Wissenschaft aber ist vorzugweise Mathematik und in ihr begründete Naturwissenschaft, wie wir diese methodische Beziehung der Philosophie bei PLATON kennengelernt haben.

Diejenigen Philosophen hingegen, welche von dieser typischen Beziehung absehen, geschichtliche und naturgeschichtliche Probleme zum Vorwurf ihre Philosophierens machend, verlieren damit den natürliche Schwerpunkt der auf eine Prüfung der Erkenntniswerte gerichteten Philosophie. Denn diese Werte sind vorzugsweise in der Mathematik vorhanden, nicht in den geschichtlichen Kenntnissen und Einsichten. Daher ist es begreiflich, daß diese Philosophen der Spur des ARISTOTELES folgen, wie sehr sie sich auch in ihren Ansichten von demselben unterscheiden. Die psychologische und entwicklungsgeschichtliche Methode haben sie mit ihm gemein: daß sie die Entstehung und Entwicklung der Ideen als Hauptsache verfolgen, und die erkenntniskritische Frage zu einer Nebenaufgabe machen, welche nur bei und in der Diskussion ihrer Hauptaufgabe berührt wird. Aus der Entsteung der Vorstellungen glauben sie Schlüsse ziehen zu dürfen bezüglich des Wertes der Begriffe und Erkenntnisse. Aber diesen Wert erkennen und prüfen sie nicht am Eigenwert dieser Begriffe und dieser Erkenntnisse im Zusammenhang und Charakter der Wissenschaften, welchem dieselben zugehören, sondern nach einem angenommenen und vorausgesetzten allgemeinen Begriff des Wissens, welchen sie aus ihren entwicklungsgeschichtlichen Ansichten abstrahieren. Somit bleibt ihr psychologischer Gesichtspunkt maßgebend für all ihre Auffassung der Wissenschaft.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, daß wir entschiedener, was die Hauptfragen betrifft, zu DESCARTES und zu LEIBNIZ eine innere Beziehung erwarten müssen, als zu LOCKE und HUME, wenngleich für die Kantische Darstellung diese psychologischen Aufklärer von großem und gutem Einfluß gewesen sind, wie er sich deshalb dann auch äußerlich bestimmter und dankbarer auf sie beruft, während er jene, die er vollendet, ob ihrer Halbheiten und Fehler zu bekämpfen strebt. Für diese Widerlegung liefern ihm die Sensualisten die Waffen, deren Beseitigung dagegen von vornherein feststeht, weil sie jenseits des Problems liegen und nur in ihrer Psychologie interessant und lehrreich sind. Daher stellt sich in KANTs Polemik das Los der Unbedeutenderen günstiger; während die mächtigen Vorgänger als die Geistesverwandten bestritten werden müssen, um nach ihren eigenen tieferen Tendenzen verbessert werden zu können.


7. Descartes' Anteil an der
Vorbereitung des Kantischen Problems

Die innere Geschichte DESCARTES' ist dunkler als die irgendeines anderen hervorragenden Denkers: einmal wegen des verschiedenen Charakters und Inhalts der von ihm selbst publizierten und der nachgelassenen Schriften; dann aber auch, freilich damit zusammenhängend, weil man, um ihn zu beurteilen, zu dem für menschliche Kritiker unerquicklichen Geschäft der Herz- und Nierenprüfung herausgefordert wird.

In den nachgelassenen Schriften nämlich wird die Ich-Substanz kaum erwähnt, geschweige daß sie die Bedeutung eines Erkenntnisprinzips hätte. Ebenso wird das ontologische Argument nicht geltend gemacht. Indessen angenommen selbst, daß tiefere Erwägungen rein sachlicher Art ihn bewogen haben, zunächst in das Selbstbewußtsein der denkenden Substanz, und sodann in die höhere Substanz des wahrhaftig göttlichen Schöpfers das Prinzip der Gewißheit zu verlegen, so ist doch auch in den von ihm selbst veröffentlichten und gegen die alsbald erfolgten Angriffe verteidigten Schriften ein gänzlich anderes Prinzip für die  certitude  [Sicherheit - wp] der wissenschaftlichen Erkenntnis angegeben und wiederholt, oft frelich in wunderlicher Auswechslung gegen die theologischen Gründe geltend gemacht worden. Aus der Bezeichnung und Würdigung dieses anderen Prinzips läßt sich ferner auch für die Beurteilung jener anderen Ausdrücke eine Deutung finden, die seiner Konsequenz als Denker gerechter werden dürfte, und seinem moralischen Charakter die Ehre rettet. (9)

DESCARTES hat seine schriftstellerische Laufbahn auch als Mathematiker begonnen: der  Discours de la méthode  ist in einem Band mit der  Géometrie,  der  Dioptrique  und den  Météores  1637 erschienen. Von der Gewißheit der Mathematik geht demgemäß DESCARTES so in diesem ersten Entwurf seiner Methode wie in den Meditationen aus. Und zwar unterscheidet er in Bezug auf Gewißheit der Mathematik verwandte Disziplinen von jener. Nur die Geometrie und die Arithmetik bezeichnet er als Muster der Gewißheit, im Unterschied nicht nur von der Medizin, sondern auch von Physik und Astronomie. Dieser Gedanke zieht sich als leitender durch alle seine Schriften und Erörterungen; auch an den Stellen, welche den theologischen Ausdruck kultivieren, kommt plötzlich der herrschende Gedanke zum Durchbruch. Soll Gewißheit in den philosophischen Fragen erlangt werden, so mssen man von der Gewißheit der Geometrie und Arithmetik ausgehen. So bezieht DESCARTES die Philosophie wieder, wie einst PLATO, auf die Mathematik, und macht die Gewißheit derselben zum eigentlichen Problem der philosophischen Untersuchung.

Das ist das unschätzbare Verdienst DESCARTES' und die wirkliche und volle Tat der Erneuerung der Philosophie, mit welcher BACOs Bemühungen nicht entfernt verglichen werden können. Wie VOLTAIRE zu NEWTON, so steht nach APELTs treffendem Vergleich (10) BACO zu GALILEI, nur zweideutiger als jener, der NEWTONs Apostel ist, während BACO widerwillig und bewußtlos den Namen des Naturgesetzes predigt, dessen Sache und Begriff GALILEI in die Welt bringt. DESCARTES dagegen arbeitet, schüchterner zwar als jener Märtyrer menschlicher Forschungstugend, aber mit wissenschaftlicher Kraft und Klarheit an der Begründung der mathematischen Naturwissenschaft mit, und er erfindet ihr die fundamentale Methode der analytischen Geometrie, die durch den Anhänger NEWTONs, MACLAURIN in die Mechanik eingeführt wird.

In dieser Leistung für die Wissenschaft liegt zugleich auch sein Verdienst als Erneuerer der Philosophie. Nicht sowohl physikalische und astronomische Gesetze und Entdeckungen sind es, die seinen Namen vorzugsweise gefeiert machen; und nicht mathematischer Sätze wegen, die ihm reichlich verdankt werden, glauben wir ihn so sehr auszeichnen zu müssen; sondern in der Entdeckung dieser neuen Methode liegt sein eminentes Verdienst als Begründer der Wissenschaft und dadurch zugleich als Reformator der Philosophie.

Schon der Grund, den er selbst wiederholt für den Unterschied von Geometrie und Arithmetik einerseits, Physik und Astronomie andererseits angibt, ist ein ausgesprochen philosophischer, der ihn zum direkten Nachfolger PLATONs macht. In der Geometrie und Arithmetik, sagt er, bekümmere man sich nicht darum, ob jenen Gebilden Ähnliches in der Natur vorkomme. Das ist der entscheidende Gesichtspunkt sowohl für die Begründung der Naturwissenschaft, wie für die Verjüngung der Philosophie. Denn die Natur zu entdecken, mit wissenschaftlichen Mitteln zu erzeugen, das ist das Feldgeschrei jener mathematischen Naturforscher, die den Weg der Alchemie mit ihren Versuchen verließen und durch selbstgeschaffene Abstraktionen Naturvorgänge und Naturdinge künstlich zu gestalten strebten, um mittels derselben die Natur, was sie sei, zu erkennen. Diese künstlichen Mittel liefert zunächst die Mathematik; sodann aber auch der logische Begriff, die philosophische Voraussetzung. So verbindet und freilich auch kompliziert sich bei der Entdeckung der Wissenschaft die Philosophie mit der Mathematik. Von dieser Komplikation die Fehlerquellen abzugraben, gibt es kein anderes Mittel, als die philosophische Untersuchung selbst. Und so ist der schöpferische Gedanke der Wissenschaft zugleich der Grundsatz, mit welchem sich die Philosophie erneuert hat.

Wie der Geometer bei seinen Gebilden nicht danach fragt, ob dieselben in der Natur existieren, und durch diese Sorglosigkeit der Abstraktion gerade zu einer Gewißheit gelangt, so darf auch der Philosoph nicht von Dingen ausgehen, die in der Natur gegeben seien, und denen die Ideen ähnlich sein müssen. Das ist "der prinzipielle Irrtum": daß die Ideen die Bilder der Dinge wären. Mit welchem Kriterium könnte ich die Ähnlichkeit und Konformität dieser Kopien prüfen? Wenn nun aber freilich die körperlichen Dinge der natürliche und berechtigte Gegenstand meiner Wißbegierde sind, so muß ich mich derselben auf einem anderen Weg vergewissern, als vom Gedanken aus, daß es die Dinge außer mir, außerhalb meines Geistes gebe, und daß die Ideen die Bilder derselben seien.

So kommt DESCARTES von der seiner Wissenschaft und seiner Philosophie gemeinsamen Methode aus zu dem anderen philosophischen Grundgedanken: daß die Dinge im Geist selbst gegründet und entdeckt werden müssen, in dessen Gesetzen. Im Geist selbst ist die Mathematik gegeben; jeder neue Satz scheint altbekannt zu sein, nur neu hervorgezogen aus dem  trésor de mon esprit  [dem eigenen geistigen Schatz - wp], so sehr ist er der Wesenheit des Geistes zugehörig; so sehr scheint er das auszumachen, was man Geist nennt. Und in der Ableitung ihrer Gebilde aus diesem Wesen des Geistes besteht die Gewißheit der Mathematik; besteht ferner auch ihre Erzeugungskraft hinsichtlich der Dinge, um deren absolutes Vorhandensein sie sich in ihrem Denken nicht kümmert.

Diese Essenz des Geistes, in welcher die Dinge gegründet seien, bezeichnet DESCARTES mit dem vielbestrittenen Namen des "Angeborenen". Es ist dies der Ausdruck, welcher bei PLATON zwar vorübergehend einmal vorkommt, keineswegs aber typisch ist für das Ideen-Wissen. Erst im Verlauf des psychologisch-entwicklungsgeschichtlichen Hauptinteresses wird die Alternative, ob die Begriffe angeboren oder erworben seien, zum Schiboleth [Erkennungszeichen - wp], zumal im Zusammenhang mit den scholastisch-theologischen Kontroversen über die Abhängigkeit der menschlichen Gedanken vom göttlichen Urheber.

Auch bei DESCARTES tritt diese Verbindung hervor; aber wenn man mehr auf seinen wissenschaftlichen Ausgang und auf den Nachdruck achtet, den er demselben zufolge auf die Legitimation der Erkenntnisse als solcher legt, so muß man bemerken, daß das Angeborene nimmermehr von ihm als eine psychologische Anfangsstation gedacht worden ist. Denn nicht nur die Idee Gottes ist angeboren, sondern ebenso auch die Idee des endlichen lieben eigenen Selbst. Und nicht nur dieses, das doch wenigstens den Gedanken des Schöpfers zu denken berufen ist, sondern verhältnismäßig so indifferente Ideen sind angeboren, wie die des Triangels. Und beim Beispiel von der Sonne, daß wir zwei Ideen von der Sonne haben, die der kleinen Sinnen-Sonne, und diejenige, welche die  raisons  [Argumente - wp] der Astronomie uns eröffnen, werden diese letzteren ebenfalls als angeborene bezeichnet.

Da haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Angeborenen. Diejenigen Ideen sind angeboren, welche uns vom Schein und Irrtum der sinnlichen Wahrnehmung befreien, Gewißheit der Erkenntnis in sich verbürgen. Solche Bürgschaften bringen und enthalten vorzugsweise die mathematischen Ideen, also werden auch zunächst sie als die Kriterien der Erkenntnis geltend gemacht. Wenn sodann später auch andere Ideen, wie die des eigenen Bewußtseins oder Gottes ihnen zur Seite gestellt und, wie es nicht anders sein kann, ihrem objektiven Gehalt nach übergeordnet werden, so ist dies doch auch nur im Sinne des Kriteriums zu verstehen, das in ihnen zu erkennen sei.

Das Angeborene ist als Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis zu verstehen, wie es auch gleichbedeutend mit der "allgemeinen Regel" von DESCARTES bezeichnet und diskutiert wird. Das Angeborene ist die allgemeine Regel der Erkenntnis oder das Kriterium der Gewißheit, mit dem die fraglichen Dinge legitimiert werden können, sofern es gelingt, sie aus jenem Prinzip abzuleiten, und nach jener Regel zu konstituieren. Solche allgemeine Regeln sucht er in der nachgelassenen Schrift  Regulae ad directionem ingenii.  Er findet sie zwar auch in logischen Vorschriften, vorzugsweise aber in den mathematischen Sätzen und Methoden. Daher befestigt sich sein Grundgedanke: daß von der Gewißheit der Geometrie und Arithmetik auszugehen sei, um Gewißheit von den körperlichen Dingen zu erlangen.

Soweit ist DESCARTES der vollkommen klare und sichere Führer bei der Untersuchung des Wertes der Erkenntnisse als solcher und der Bedingungen für die Gewißheit derselben. Nun ist aber von DESCARTES die Verallgemeinerung der Regel und die Objektivierung des Kriteriums im  Cogito ergo sum,  im Selbstbewußtsein vollzogen worden. Dadurch ist eine doppelte Richtung von DESCARTES eingeführt.

Zunächst freilicöh ist die präzise Regel, das strenge und klare Prinzip der Gewißheit verdunkelt und zweideutig gemacht: als ob uns die mathematische Erkenntnis nur so subjektiv gewiß wäre, wie wir von unserem liebe  ego  uns überreden lassen. Der mathematische Gehalt der  régle générale  ist objektiv; des eigenen Subjektes dagegen kann ich mich abgesehen von jenen wissenschaftlichen Denkmitteln nur subjektiv im sinnlichen Fühlen versichern, also keineswegs gewiß machen. Dies ist die offenbare Gefahr in dieser Objektivierung des Prinzips zum Bewußtsein.

Aber dieselbe ist zugleich die Wendung zu einem entscheidenden Ausdruck des Problems. Denn muß nicht die Regel, das Prinzip, das Kriterium im Bewußtsein aufgezeigt werden? Ist nicht das Angeborene als die Essenz des Geistes aufgefaßt worden? Indem DESCARTES als Mathematiker und mathematischer Naturforscher wie demnach als Philosoph von dem Gedanken ausging: nicht die Dinge sind  hors de nous  [außerhalb von uns - wp] gegeben, sondern im Geist müssen sie gegründet werden, und im Geist sind die echten Instrumente der Dinge, die mathematischen Begriffe enthalten - indem er so im Angeborenen das Kriterium der Gewißheit gründete, mußte er den allgemein umfassenden geistigen Ausdruck für das Prinzip der Gewißheit suchen und finden. Die geometrischen und die arithmetischen Ideen einerseits, und die mannigfachen anderen, wenn auch objektiv verschiedenen, so doch ihrem Inhalt und Wert nach nicht minder wichtigen und folgenschweren Ideen andererseits, sie alle mußten als im "Schatz des Geistes" enthalten, als die Essenz des Geistes ausmachend zusammengefaßt werden; und für diese Zusammenfassung bot sich ihm der Ausdruck des  Cogito  verlockend an: da ja im Denken alles gegründet werden mußte und konnte, was Gewißheit und Realität sollte behaupten dürfen. Das  Cogito  ist der Ausdruck des Kriteriums. Mit dem  Cogito,  in welchem das  sum  liege, war also nach Platonischer Forderung das reine, das dem Kriterium gerechte Denken zum höheren und umfassenden Prinzip der Gewißheit gemacht.

Indessen, was in aller Welt hat das  cogito  mit dem  sum  zu schaffen? War nicht gerade das der glückliche Vorzug der Mathematik, daß sie sich um das Dasein der Dinge in der Natur nicht bekümmere? Jetzt aber soll das  sum  mit dem  cogito  unmittelbar verbunden sein, in der Darreichung und Gewährleistung des  sum  die Kraft des  cogito  bestehen? Als ob nicht im Denken selber, sofern es dem Kriterium gemäß erfolgt, die Gewähr der Realität läge, wird jetzt vielmehr der Anschein erweckt, als ob im geistigen Subjekt, in der Substanz des Geistes die Erkenntnis legitimiert würde, und zwar als ob der Geist nicht als Abbreviatur [Abkürzung - wp] der Regel, sondern als substantieller Träger und legitimer Bürge der Gewißheit gedacht werden müsse. Und nunmehr muß sich aller Zweifel wiederholen an jener denkenden Substanz nicht minder, wie vorher an den Dingen, an den mathematischen Wahrheiten, wie sogar an Gott selbst.

An diesem Punkt scheidet sich das Wahre und Wegweisende in DESCARTES' Lehre vom Unklaren, Falschen und Irreführenden in ihr. Wir haben hier nicht zu untersuchen, wie weit das Bestreben mit der Kirche Konflikte zu vermeiden, an diesen Formulierungen Anteil habe, welche in den nachgelassenen Schriften teils nur berührt, teils gar nicht vorhanden sind; es genügt hier, auf die sachlichen Mängel in der Disposition der Grundbegriffe hinzuweisen, um jene Schwächen und Fehler zu erklären.

DESCARTES' Grundfehler hängt auf das Genaueste mit seinem hauptsächlichen Vorzug zusammen. Der Mangel in der Dispositione seiner Grundbegriffe ist der Mangel in der Bestimmung seiner Methode, des großen fundamentalen Gedankens, mit welchem ihm die Philosophie zu erneuern beschieden war. In der Größe seiner Aufgabe, im Charakter seines Mission liegt der hinlänglich erklärende Grund seines Mangels.

Das Angeborene, das Prinzip, das Kriterium ist die Essenz des Geistes, ist die Substanz des Denkens. Sind denn aber ebenso wie die Begriffe der Arithmetik auch die Gebilde der Geometrie Erzeugnisse des Denkens? Geschweige, daß das  sum  wie das Dasein der anderen Dingen sollte gedacht werden können wie die mathematischen Dinge. Für DESCARTES freilich lag die Versuchung nahe, den spezifischen Unterschied der geometrischen von der anderen Art des Denkens zu nivellieren: weil er kraft seiner Entdeckung jenen Unterschied ignorieren mußte. Daß sich die geometrischen Dinge anders präsentieren, als das innere reine Denken, davon gerade sah er ab und lehrte er abstrahieren, indem er Raum-Gebilde zu Zahlgrößen machte. Also war das Spezifische des Raumes abzustreifen; also war auch der Raum im reinen Denken und schlechthin in diesem gegeben. Das sinnliche Vorstellen, das Imaginieren der Raum-Gebilde ist unwesentliche, vielmehr verwirrende Zutat, welche abgeworfen werden muß, wenn man die wissenschaftliche Erkenntnis der Geometrie fördern will. Also ist nicht die sinnliche Imagination, sondern allein das Denken das Erzeugungsmittel, und somit ist die Regel des reinen Denkens das Kriterium, und die Substanzialisierung des Denkens im Geist der Quell der Geometrie.

Und von der Geometrie aus und allein von ihr können wir zu den sinnlichen Dingen gelangen. Also sind, wie die geometrischen Gestalten, so auch die sinnlichen Dinge in der Substanz des Geistes gegeben und gewährleistet. Was bleibt von einem Stück "Wachs" bei der Inspektion des Geistes übrig? Was anders als "etwas Ausgedehntes"? Das Ausgedehnte aber ist im reinen Denken, im Geist gegeben. Also ist auch das Stück Wachs im Geist enthalten, gerade sofern es sich auf ein Ausgedehntes rekurrieren läßt.

Mit DESCARTES' eigenen Entwicklungen und Feststellungen läßt es sich nun zeigen, daß hiermit des Guten zu viel getan war. Diese Definition des Denkens, welche nicht nur den Raum, sondern auch das Wachs einschloß, war offenbar zu weit; und nicht wegen des Wachses, dessen Einschließung nur Folge war. Der Fehler liegt im Verhältnis des Denkens zum Raum, zu Geometrie.

Warum ist denn DESCARTES nicht dabei stehen geblieben, nur das Denken zur Substanz zu machen? Mußte erst SPINOZA kommen, um von theologischen Gesichtspunkten aus jenen Dualismus zu schlichten, indem er ihn aus seinen wissenschaftlichen Angeln hob? Vielmehr hat DESCARTES seinen lebendigen Ausgang von der "Ausdehnung" der Geometrie genommen. Die Ausdehnung ist ihm die erste und ursprüngliche Substanz. Im Verlauf und in der Komplikation seiner geometrischen Spekulationen mit anderweitigen und andersartigen Problemen glaubte er die Ausdehnung zum Denken erweitern zu müssen. Was jedoch in der einen Beziehung eine Präzisierung war, in der Zusammenfassung der methodische Mittel nämlich, das wurde andererseits zu einem verhängnisvollen zweideutigen Ausdruck des Kriteriums und Prinzips: so daß er selbst einsah, an seiner ursprünglichen Substanz der Ausdehnung im Unterschied vom Denken festhalten zu müssen. Damit aber hat er selbst uns den Weg gewiesen, auf dem wir seinen Grundfehler suchen müssen.

Es ist nicht richtig, daß das geometrische Denken schlechthin Denken, wenngleich reines sei. Es ist nicht richtig, daß die sinnliche Vorstellung dabei ganz nebensächlich und desorientierend sei. So wenig die Substanz des Denkens die der Ausdehnung zu resorbieren vermochte, so wenig kann die Geometrie im reinen Denken ohne Rest aufgehen. Also gilt es, vom Denken eine Art der erkennenden Tätigkeit zu unterscheiden, welche dem Eigentümlichen des geometrischen Bewußtseins gerecht wird. Dieser spezifisch-geometrischen Weise des Bewußtsein sehen wir DESCARTES eifrig nachgehen, in beiden Gruppen seiner Schriften; besonders aber ist es in den nachgelassenen frappant, wie sehr er den Begriff der  Intuition  auszuzeichnen und zu charakterisieren versteht, viel genauer, als ihm dies in den Meditationen mit dem Terminus der  Imagination  gelingt. Aber so nahe er dem modernen Begriff der Anschauung dabei oft zu kommen scheint, so vermag er doch die Reinheit dieses sinnlichen  envisagement  [Vorstellungsvermögen - wp] nicht in der Tätigkeit der Intuition selbst zu erkennen, und kann daher die Kollision dieses sinnlichen Denkens mit dem sinnlichen Empfinden nicht grundsätzlich abschneiden, noch selbst vermeiden.

Dieser Mangel in der Unterscheidung der reinen Intellektion von der Imagination und Intuition verschuldet nun auch die Unbestimmtheit im Begriff des Selbstbewußtseins. Während an den Hauptstellen die eigene Existenz nur auf das reine Denken, wie das der Mathematik, bezogen und begründet wird, fehlt es anderweitig nicht an solchen Stellen, welche das Denken mit dem Empfinden und Fühlen vermischen, bis zum Essen und Gehen versinnlichen. In der Tat forderte nicht nur die individuelle Seel, sondern der Begriff des Selbstbewußtseins die Beachtung der außer dem Denken wirksamen seelischen Momente. Nur hätten sie umso schärfer von denjenigen seelischen Tätigkeiten unterschieden werden müsse, welche im Angeborenen des Kriteriums beruhen, und aus jenem Prinzip Erkenntnisse mit dem von jenen sinnlichen Wahrnehmungen unterschiedenen Charakter der Gewißheit erzeugen. Diese Unterscheidung ist DESCARTES nicht gelungen, so nahe er derselben gekommen ist: weil er den sinnlichen Faktor der Erkenntnis nicht vom Denken abzuzweigen und in seiner wissenschaftlichen Selbständigkeit zu bestimmen vermochte, der in der Geometrie im Unterschied vom Denken wirksam ist. Es war freilich eine berechtigte Rücksicht, diese eigentümliche Erzeugungsweis mit der des Denkens auch in der Geometrie zu verbinden, die über die Geometrie hinaus fruchtbar geworden ist. Aber bei dieser Rücksicht, die ihn zu seiner Entdeckung der analytischen Geometrie führte, übersah er das Spezifische der geometrischen Anschauung.

DESCARTES lehrte die Dinge in den Ideen erzeugen, faßte die Regeln und Kriterien im Bewußtsein zusammen; unterschied diese Regeln und Kriterien aber nicht so sachlich, daß dadurch seine erkenntniskritische Methode vor der Konfusion mit der psychologischen geschützt worden wäre. Und ferner blieb in der Objektivierung seines Prinzips, dem Bewußtsein, eine Zweideutigkeit zurück: indem das Bewußtsein des reinen wissenschaftlichen Denkens mit dem persönlichen Befinden des sinnlich individuellen Daseins kompliziert blieb. So suchte und zog sowohl der Materialismus wie der Spiritualismus seine Nahrung aus diesem vielgewandten Denker. So setzten besonders die englischen Sensualisten an seine schwachen Punkte ihre Bohrer an und suchten das große Werk dieses die Wissenschaft mitbegründenden und als Philosoph dieselbe begreiflich machenden Denkers durch Hervorhebung und Bekämpfung von zweideutigen Ausdrücken und altfränkischen [altmodische - wp] Ansichten zu vereiteln. Aber noch ehe KANT kam, um diese methodischen Anfänge hinauszuführen, wußte LEIBNIZ die geschichtliche Bedeutung seines Vorgängers zu würdigen und zu nützen.


8. Leibniz' mechanische Korrektur
des Substanzbegriffs

Wie DESCARTES beginnt auch LEIBNIZ als Mathematiker seine philosophische Laufbahn, und wie sehr auch seine universale Natur zugleich auch die  science morales  bearbeitet und die Prinzipien derselben in das Netz der philosophischen Untersuchung zieht, so bleibt ihm doch leitend die Richtung auf das Erklären und Begründen des mathematischen und des von demselben abhängigen Naturerkennens. Diese Richtung ist ihm nicht nur mit DESCARTES gemein, sondern er scheint sie von DESCARTES zu empfangen. Das uns wichtige Werk der  Regulae  wird ihm im Manuskript zugänglich und er nimmt Abschrift davon. Überhaupt zitiert er kaum einen anderen Autor so häufig und nachdrücklich wie DESCARTES, so daß die Beziehung zu ihm als eine durchaus innerliche erscheint, wie sie denn auf Kongenialität beruth und die Fortsetzung derselben Aufgabe bewirkt. Aus dieser Gemeinsamkeit aber ergeben sich Anstöße und Gegensätze.

Nach DESCARTES' Kriterium der Gewißheit bleibt die mathematische Evidenz als solche ungeklärt. Der Begriff des reinen Denkens war zu weit gefaßt. Indessen darauf scheint LEIBNIZ seinen Widerspruch nicht ausdrücklich gerichtet zu haben. Diese umspannende Fassung des Denkens mochte ihm nicht bloß sympathisch sein, sondern die allein richtige dünken, in mehrfacher Hinsicht. Erstens gilt ihm die Geometrie DESCARTES' als eine wichtige Errungenschaft, die er ausbaut. Sodann aber ist auf seine Teilnahme am Tangentenproblem seine Entdeckung des Infinitesimalbegriffs mitzurückzuführen, in welchem sich die Wirksamkeit der sinnlichen Anschauung versagt, ihre Kompetenz daher auch verworfen werden mußte. Hierin mußte ihm DESCARTES also gerade den einzig richtigen Weg anzubahnen scheinen, den er nur zu verfolgen habe. Diese Imagination und Intution, schlechthin als Sinnlichkeit gedacht, mußten als unwissenschaftliche Mittel des Bewußtseins gelten, als unfruchtbar für wissenschaftliche Erweiterungen und irreführend beim wissenschaftlichen Urteil. Die Substanz des Denkens mochte für LEIBNIZ zunächst ganz in Ordnung zu sein scheinen: wenn nur nicht die Substanz der Ausdehnung hinterher käme, mit ihrer selbständigen Bedeutung für die Dinge, nachdem sie bereits für das Bewußtsein in die des Denkens eingegangen war.

Bei diesem Punkt nimmt LEIBNIZ seinen prinzipiellen Anstoß an der cartesianischen Lehre, und von diesem Punkt aus greift sein Widerspruch auf das Kriterium des Denkens zurück. Weil DESCARTES sein Kriterium durch die formalen Merkmale der Klarheit und Distinktheit allein bestimmt hatte, so hob er zwar den Unterschied von Intuition und Denken scheinbar zugunsten des Denkens auf. Immerhin aber setzt er doch Wahrheit mit Evidenz gleich, und wenn er auch wegen seiner formalen Merkmale den erzeugenden Grund der Evidenz nicht erkennt, so ist er doch vorwiegend Geometer und errichtet demzufolge die angeblich zweite, eigentlich erste Substanz der Ausdehnung: somit kommt sein Kriterium des Denkens vielmehr der Ausdehnung zugute.

Aus dieser Wendung seines Grundgedankens, die aus seinem wissenschaftlichen Zentrum hervorgeht, erklärt sich DESCARTES' mechanischer Irrtum: daß die Ausdehnung zugleich die Materie sei. Der wegweisende Gedanke, daß alle Materie zunächst den Bedingungen geometrischer Gesetzmäßigkeit entsprechen müsse, schlug in die Paradoxie um, daß die Geometrie in der Ausdehnung die Materie schlechthin zu konstituieren vermöge. Gegen diesen geometrischen Überbegriff erhob LEIBNIZ als Mechaniker Widerspruch. Zum Gegenstand der Natur gehört mehr, als seine Deckung mit den Idealgebilden der Geometrie. Diese weiteren Erfordernisse sind nicht in der Ausdehnung enthalten, können also nur aus der Substanz des Denkens erschöpft werden. So deckt die Substanz der Ausdehnung mit ihrer überspannten Bedeutung den Fehler in der Anlage des cartesischen Systems auf, der in der Substanz, vielmehr im Kriterium des Denkens gelegen ist. Das Kriterium des Denkens muß von seiner lediglich formalen Bestimmtheit gereinigt werden; denn in den zu findenden sachlichen Momenten des Denkens gilt es den Grund zu legen für die Materie und das Objekt, sofern dasselbe über die reine Mathematik hinaus in Physik und Natur als Gegenstand gedacht wird. Die Momente des Denkens allein können diesen Begriff des physischen Objekts erfüllen.

Indesse nicht streng und klar als Momente des Denkens macht LEIBNIZ diese vermißten Bedingungen der Materie geltend; sondern wie die Ausdehnung ihre Gebilde erzeugt, so wird auch die Materie in einem Gebilde des Denkens konstituiert. Das ist die Monade. Das ausgedehnte Etwas reicht nicht aus, also ist ein Unausgedehntes notwendig, um die Materie zu erzeugen. Aber die bloße Negation freilich könnte nimmermehr den positiven Gegenstand erzeugen. Daher muß zum Inextensiven eine positive Bestimmung hinzukommen. Diese liefert diejenige wissenschaftliche Betrachtungsweise, welche die Geometrie zu ergänzen berufen ist. Der Gegenstand kann innerhalb der Geometrie nur vorbereitet werden; die Erfüllung kommt ihm in der Mechanik. Das die Ausdehnung ergänzende positive Moment ist der Begriff der Kraft, die Kraft aber wird seit GALILEI als Intension gedacht. Das Inextensive muß daher zum Intensiven werden. (11)

Das ist ein Moment, welches außerhalb der Ausdehung, lediglich im Denken liegt. Denn der Ausdehnung ist es zunächst widerstreitend, da es ein Unendlichkleines ist und somit in der sinnlichen Imagination nicht dargetan werden kann. Also ist es ein Moment des Denkens, der Begriff des Intensiven, durch welches der Begriff der Materie bestimmt wird; durch welches also auch der Begriff und das Kriterium des Denkens zu vollerer und genauerer Bestimmung gekommen ist. Denn nunmehr kann das Denken nicht mehr schlechthin mit der Evidenz, mit der sinnlichen Anschaulichkeit gleichgesetzt werden.

Wäre nun die Monade nur als ein solches Moment des Denkens, und als rein aus dem Denken herleitbare Bestimmung und Bedingung der Materie und in ihr des Gegenstandes der Naturwissenschaft gedacht worden, so würde LEIBNIZ den Vorgänger gänzlich überwunden haben. So aber ist die Monade freilich nicht von ihm gedacht worden. In dieser erweitert logischen Bedeutung der Erkenntnisbedingung ist zwar die mechanische Wurzel der Monade, die infinitesimale Größe gedacht worden, nicht aber deren nach anderen Seiten zugleich ausgebaute Konsequenz, die einfache Monade als Substanz. Dieses Gebilde, nicht eine Moment des Denkens empfing nun seinerseits Merkmal, um die Beschaffenheiten der Dinge, der Natur wie des Bewußtseins repräsentieren zu können. In der Monadologie zeichnete LEIBNIZ sein Weltbild. Und dieses Weltbild ward ihm eigener Gegenstand des philosophischen Interesses, welches sich mit der Richtung auf die Prüfung der Erkenntniswerte verband, oder auch dieselbe verdrängte. Diese Ausbildung zum Dogmatismus der Monadologie mußte KANT hauptsächlich als LEIBNIZens Philosophie ansehen und bekämpfen.

Vor unserem freieren historischen Blick jedoch kann der tiefe und breite Zug des wissenschaftlichen Entdeckers aus dem Weltbild des Systems heraustreten. Wir können im Grunde der Monade dasjenige Denkmoment erblicken, welches die Materie und den Gegenstand zu konstituieren geeignet ist. Und dieser Begriff, diese Bestimmung des Denkens ist demgemäß nicht schlechthin ein Ding, wenn selbst ein  être de raison  [Sache der Vernunft - wp], sondern es ist eine der  aeternae veritates  [ewigen Wahrheiten - wp], in denen nach LEIBNIZ alle Wahrheit und Gewißheit der Erkenntnis, alle Realität der Dinge gegründet ist. In diesem wissenschaftlich ernsten und fruchtbaren Sinn liegt in den Ideen oder Wahrheiten der Grund und die Gewähr der Dinge. Und so hat auch die Materie im Denken, nicht in der Ausdehnung ihr ausgiebiges Fundament.

Diesen wissenschaftliche Charakter hat der Widerspruch LEIBNIZens gegen die cartesische Paradoxie von der mit der Materie identischen Substanz der Ausdehnung, und sein Protest demzufolge gegen die Sinnlichkeit überhaupt, als deren Repräsentanten in der Natur er die Ausdehnung ansah. Die cartesische Konfundierung erleichterte ihm das Urteil, daß die sinnliche Erkenntnis die "konfuse" sei, und daß die Materie und das physikalische Objekt, wie überhaupt alle ernsthafte Erkenntnis nur im Denken bestehe. Und wie DESCARTES nach seinem Kriterium die geometrische Instuition zum reinen Denken machte, so ging LEIBNIZ weiter, und leitete nicht nur die sinnliche Erkenntnis auf die Mathematik zurück, sondern die Mathematik selbst auf die Logik, in welcher er den Grund aller Wahrheit sah, auch der materialen.

Was LEIBNZ als Mechaniker an DESCARTES dem Geometer auszusetzen und zu verbessern hatte, das führte ihn, wie wir sehen, zur Überschätzung der Logik, nachdem er einmal im Denken die sachlichen Motive erkannt hatte, welche den Begriff der Materie zu erzeugen imstande seien. Wenn bei DESCARTES das Kriterium des Denkens formal unbestimmt blieb, so wurde es bei LEIBNIZ dagegen so materiell erfüllt gedacht, daß darüber der formale Charakter der Logik übersehen, und der beträchtliche materiale Schatz, der in der Sinnlichkeit zu heben ist, vernachlässigt wurde. Das sind die offen liegenden Schäden der monadologischen Grundlagen, die sich jedoch aus den tiefen Tendenzen und dem gewaltigen Vermögen LEIBNIZens zur wissenschaftlichen Forschung verstehen lassen.

Es ist der unschätzbare Wert des LEIBNIZschen Idealismus, daß er im Denken und der Vernunft gegenüber der Empfindung und der Sinnlichkeit schärfer und klarer als DESCARTES den Urgedanken des Platonismus regeneriert hat: daß die Natur im Bewußtsein entdeckt, die Materie im Denken konstituiert werden müsse. Darum hat auch die Monade Bewußtsein, freilich nicht Apperzeption, aber diejenige Stufe der Perzeption, welche in ihrer Einheit die Vielheit darstellt, in ihrem Spiegel das Universum spiegelt, und in ihren Strebungen die Übergänge der Dinge und Zustände zeichnet. So wurde durch diesen Idealismus nicht nur plastischer und eindringlicher, sondern auch umfassender und schärfer und eindringlicher, sondern auch umfassender und schärfer als bei DESCARTES der Gedanke in die Zeit gelegt, daß die Realität der Ding in der Idealität der Regeln und Gesetze bestehe; daß um wissenschaftlich legitimiert zu werden, die Objekte abgeleitet werden müssen aus Gesetzen, welche LEIBNIZ zwar für Denkgesetze gehalten, nichtsdestoweniger aber nach ihrem Inhalt reich und eigentümlich formuliert hat.

Der Fehler, der in der Benennung der Denkgesetze lag, war schwer und verhängnisvoll; nicht bloß weil sich die Angriffe gegen den falschen Titel richten durften, die das tiefere Recht der Sache übersahen; sondern weil mit diesem Fehler der Benennung in der Tat sachliche Fehler nach beiden Seiten hin zusammenhängen. Das unveräußerliche Recht der Sinnlichkeit wurde verdunkelt. Und das Denken, welches dasselbe ersetzen sollte, verfiel darum in eine materiale Unbestimmtheit. Die Anlage zum Physischen, die in einer Denkbestimmung zu entwerfen war, wuchs zur Monade aus, und nahm als solche energische Bestandteile der abgewiesenen Sinnlichkeit in sich auf, ohne daß dieselben weder als sinnliche noch im Denken gereinigt worden waren.

Aber trotz alledem, wie LEIBNIZ als Mathematiker und Mechaniker inniger mit NEWTON zusammengeht, als man gemeinhin annimmt, so ist er auch der wissenschaftliche Leiter und der philosophische Vorfahre KANTs. Denn wie intellektualistisch er zwar die Instanz des Denkens überschätzt, so schlägt dies doch der Forschung zum Gewinn aus. Die philosophische Bestimmung bleibt mangelhaft; aber die wissenschaftliche Forschung wird befruchtet. Und aus diesen Früchten zog die Philosophie ihre Kraft, eine reifere Bestimmung der gedanklichen Grundlagen zu treffen, wie dies besonders an der Entdeckung des Infinitesimalbegriffs deutlich wird. Auch den hat LEIBNIZ nicht völlig korrekt bestimmt, aber es hat ihn entdeckt, und damit KANT die Möglichkeit geboten, eine Voraussetzung des Denkens auszuzeichnen, welche in der Disposition des wissenschaftlichen Bewußtseins nicht fehlen durfte.

So sehen wir bei DESCARTES und bei LEIBNIZ den Platonischen Begriff des Seins im modernen Begriff der Natur bearbeitet. Nicht wie wir samt den Kindern und den Wilden zu Empfindungen und Wahrnehmungen kommen, wollen sie zeigen, obwohl es doch wahrlich beiden nicht an psychologischem Interesse gefehlt hat, obwohl doch zumindest DESCARTES physiologische Psychologie bahnbrechend genug betrieben hat. Aber mehr als diese mit der brennenden Zeitfrage des Okkasionalismus [Dualismus von Seele und Körper - wp] zusammenhängenden psychologischen Probleme lag diesen wissenschaftlichen Helden die ewige Frage der Philosophie als der Kritik der Wissenschaft am Herzen. Daher blieben sie nicht bei der Frage stehen, wie wir zu den Vorstellungen und Begriffen gekommen seien, die wir nunmehr von der Natur haben. Von dieser Frage wurden sie nicht festgehalten, weder um zu bewundern, wie wir von kleinen Anfängen aus es so herrlich weit gebracht haben, noch um zu registrieren, daß wir mit so dürftigen und so unsicheren Elementen keine Wahrheit errichten könnten. Vielmehr war ihnen von vornherein die Natur ein Idealbegriff, ein Vorwurf ihrer Arbeit, zugleich freilich auch das gefügige Material ihrer Schöpferkraft. Die Natur war ihnen das Fragezeichen, das sei mit Mathematik und Mechanik aufzulösen strebten.

In diesem prägnanten Sinn war den wissenschaftlichen Philosophen die Natur nicht ein Gegenstand der sinnlichen Erfahrung, sondern der Ausdruck der Aufgabge ihrer Forschung, deren Grundzug es war, mit den reinen Mitteln der Mathematik die Natur in ihren Begriffen und Gesetzen zu entdecken und darzustellen. Auch in das Gebiet der Beobachtungen war das mathematische Werkzeug eingedrungen, das Zeitalter der mikroskopischen Anatomie war angebrochen. Auch hier galt es, nicht schlechthin mit der natürlichen Empfindung wahrzunehmen, sondern nach den Anweisungen und mit der Ausrüstung der mathematischen Mittel und Methoden. So war auch im beschreibenden und geschichtlichen Sinne die Natur nicht das ein für allemal vorhandene Ding mit seinem großen Umfang, sondern die auch im Inhalt der Begriffe sich steigernde Aufgabe. Diese ideale Bedeutung der Natur bezeichnet LEIBNIZ mit dem Wort  Universum.  Den Sensualisten hingegen ist die Natur die abstrakte Idee der impressionierenden Dinge.
LITERATUR - Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1885
    Anmerkungen
    8) Vgl. KANTs Vorlesungen über Metaphysik, Erfurt 1821, Seite 95
    9) Vgl. NATORP, Descartes' Erkenntnislehre, 1882
    10) E. F. APELT, Die Theorie der Induktion, Seite 150
    11) Vgl. COHEN, Prinzip der Infinitesimal-Methode, Seite 69f