tb-1p-4 H. CzolbeF. MauthnerF. KuntzeW. Moog    
 
HERMANN COHEN
Das Prinzip der
Infinitesimal-Methode


"Aller Nachdruck war vielmehr auf den Gedanken zu legen: daß die Leistung der intensiven Größe der Bedingung der Realität entspreche; daß derjenige Geltungswert, welcher der Forderung und Voraussetzung der Realität Genüge leistet, im Grundsatz des  Grades  gewährleistet werde, durch welchen die  Verbindung  von Mathematik und Naturwissenschaft tatsächlich gestiftet und innerlich begründet wird. Hierin besteht das Neue, das Kant zu lehren hatte:  Realität  liegt nicht im Rohen der sinnlichen  Empfindung  und auch nicht im Reinen der sinnlichen  Anschauung,  sondern muß als eine  besondere  Voraussetzung des Denkens geltend gemacht werden, gleichwie Substanz und Kausalität, als eine Bedingung der Erfahrung, die derselben nur entnommen werden kann, sofern sie ihr zugrunde gelegt, für ihre Möglichkeit vorausgesetzt wird. Darauf mußte es Kant ankommen, die Realität als eine  besondere Kategorie  auszuzeichnen, im Unterschied auch von der der  Wirklichkeit."


Vorwort

Was ich systematisch in dieser Abhandlung anstrebe, ist in den Titel aufgenommen worden. So sehr halte ich den systematischen Gedanken für den Zweck der Schrift. Den Grund dieses Anspruchs kann allein die Ausführung rechtfertigen. Es ist unnötig, darüber Bemerkungen vorauszuschicken.

Nur über die Verbindung dieser Bestrebung mit dem historischen Interesse möchte es nicht unangemessen sein, ein kurzes Wort auch hier zu äußern, zumal sich wegen dieser Verbindung in der Einteilung und Darstellung Schwierigkeiten nicht vermeiden ließen.

Nirgends ist es mir so sehr Bedürfnis gewesen, und nirgends auch so unmittelbar nützlich erschienen, zugleich mit der Durchführung eines systematisch entscheidenden Gedankens seine geschichtliche Entwicklung zu verfolgen.

Ich beabsichtige hier, den Begriff der Realität in seinem Wert für die Begründung der Erkenntnis auszuzeichnen, und bin seiner systematischen Charakteristik in der Einleitung wie in den Ausführungen nachgegangen. Aber bei dem Reiz, den das Spinnen der Gedanken hat, ist mir die unbefangenere Überzeugung von der Wahrheit der Sache vorzugsweise aus dem Einvernehmen mit dem geschichtlichen Gang des Problems gewachsen. Denn die Befürchtung lag allzunahe, daß durch das Geltendmachen des Infinitesimalbegriffs als eines Grundbegriffs des wissenschaftlichen Bewußtseins ein Eingriff in das Detail der mathematischen Forschung, das ich nach dem Umfang meiner Studien nicht überschauen kann, verübt sein könnte. Hat doch Hegel gerade an der Kritik dieses Begriffs seinen Schiffbruch bloßgestellt.

Dahingegen bin ich durch den geschichtlichen Zusammenhang, in welchem der Ursprung des Gedankens zu betrachten war, der Gefahr des dilettantischen Redens in mathematischen Fragen, die einer anderen Verbindung der Probleme angehören, enthoben worden, weil ich für meinen Zweck hauptsächlich an die Quellen gewiesen war. Was als eine Grundlage, als eine, wie man sagt, logische Voraussetzung der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen sei, das kann zunächst allein die geschichtliche Einsicht eröffnen. Von dieser Annahme bin ich auch in der Überzeugung befestigt worden, daß KANTs Genius nicht von den sensualistische Aufklärern, sondern aus dem Studium der Begründer der mathematischen Naturwissenschaft die Anleitung zur transzendentalen Methode empfangen hat.

Was sonach die Kategorie der Realität für die Begriffe der Materie und Natur wie für das Problem des Bewußtseins zu bedeuten und zu leisten habe, sollen wir bei denen erfragen, deren ineinander greifende Arbeit die neue Wissenschaft entdeckt hat. GALILEI, KEPLER und NEWTON, DESCARTES und LEIBNIZ mit ihren Genossen und Vermittlern können uns KANT begreifen lehren, und in seinem Geist das Werk der Philosophie fortzuführen helfen.



I. Einleitung

1. Die Begründung des Infinitesimalbegriffs ein Problem der Philosophie. -  Die Begründung des Infinitesimalbegriffs ist in  zwiefacher  Hinsicht ein Anliegen der Philosophie. Erstens ist das Gewissen der traditionellen  Logik  nicht beruhigt, bevor sie diesen Grundbegriff der mathematischen Naturwissenschaft, soweit ihre Mittel reichen, beschrieben und nach ihren Normen erklärt hat. Ferner aber bleibt im Verzeichnis der Grundlagen und  Grundsätze der Erkenntnis  eine unersetzliche Lücke, solange dieses fundamentale Werkzeug als eine  Voraussetzung  des mathematischen und demzufolge des Naturerkennens nicht anerkannt und abgegrenzt ist.

Und diese beiden Rücksichten unterstützen einander. Solange nämlich die Begründung des Infinitesimalbegriffs lediglich in der Logik gesucht wird, muß der Mangel einer solchen Begründung empfindlich bleiben, - trotz all der unzähligen Versuche, die seit der Erfindung des Kalkuls stets von Neuem zu seiner logischen Rechtfertigung unternommen worden sind. Der Begriff der infinitesimalen Größe kann daher als ein eindringliches Beispiel gelten für die Notwendigkeit der  Ergänzung der Logik  durch ein anderes, verwandtes, aber zu unterscheidendes Untersuchungsgebiet.

2. Die in der Grenzmethod enthaltenen Voraussetzungen. -  Die Begründung des Infinitesimalbegriffs wird auch in einem selbständigen internen Verfahren versucht mit eigenen mathematischen Begriffen. Dabei werden jedoch  Voraussetzungen  als angeblich logische gemacht, welche außerhalb des Bereichs der Logik fallen. Seit d'ALEMBERT pflegen die Mathematiker die Infintesimal-Rechnung in der  Methode der Grenzen  zu begründen. Diese aber besteht in dem Gedanken, daß der elementare Begriff der  Gleichheit  durch den exakten Begriff der  Grenze  ergänzt werden müsse. Es wird somit  zuerst  der Begriff der Gleichheit vorausgesetzt. Gleichheit aber liegt schon nicht mehr innerhalb der Logik. Was der Gleichheit logisch entspricht, heißt  Identität Gleichheit bezeichnet ein Verhältnis von  Größen.  Auf diesen Unterschied hat bereits CARNOT hingewiesen, indem er  egalité  als  rapport  [Verbindung - wp] von identite als  relation  [Beziehung - wp] unterscheidet. (1) Mithin setzt die Grenzmethode  zweitens  den Begriff der  Größe  voraus. Auch dieser Begriff liegt jenseits der Logik.

Indessen wir im vorausgesetzten Größenbegriff zugleich die  Voraussetzung der Grenzgröße  gemacht. Die in der elementaren Größenlehre definierte Gleichheit berücksichtige jene Grenzgrößen nicht. Größten gelten derselben als gleich, wenn und obwohl ihr Unterschied in einer Grenzgröße besteht. Daher müsse - dies ist der Gedanke der Grenzmethode - der elementare Begriff der Gleichheit durch den exakten Begriff der Grenze nicht nur ergänzt, sondern auch  korrigiert  werden. Die Gleichheit ist als eine  Vorstufe  des Grenzverhältnisses zu betrachten, Ohne diese Geltung der Korrektur würde Grenzbegriff gnädigerweise eingeführt werden. Somit wird von der Grenzmethode  Drittens  derjenige Begriff  vorausgesetzt,  durch welchen die Rechnung begründet werden soll. Diese Voraussetzung ist keine Erschleichung; denn der Begriff wird  definiert.  Aber die Einführung und Definition liegt jenseits der Logik. Und da die Mathematik überall eine über die Definitionen und Axiome hinausgehende Begründung ihrer Begriffe weder leisten kann noch leisten soll, so fällt die  Begründung des auch in der Grenzmethode vorausgesetzten Grundbegriffs  einem Untersuchungsgebiet zu, welches von der Logik unterschieden werden muß.

3. Der Grenzstreit von Anschauung und Denken liegt jenseits der Logik. -  Gleichheit und Größe setzen die  Anschauung  voraus. Der  Logik  aber gehört nicht einmal mehr  die Unterscheidung  von Denken und Anschauung an; wie sollte derjenige Begriff vor ihr Forum gehören, dessen Schwierigkeit im  Grenzstreit  zwischen Denken und Anschauung liegt. Mithin ist die Definition des Infinitesimalbegriffs bedingt durch die Festsetzung der Grenzen von Anschauung und Denken oder genauer, durch die Bestimmung der durch Anschauung und Denken a potiori [von der Hauptsache her - wp] bezeichneten  Methoden.  Die Anschauung wie das Denken sind  Abbreviaturen  [Abkürzungen - wp] für wissenschaftliche Methoden, und zwar für solche, welche vom besonderen Inhalt der Forschung, auf die sie sich beziehen, dermaßen unabhängig sind, daß sie vielmehr  allgemeine Voraussetzungen aller wissenschaftlichen Forschung  bilden.

4. Unterschied von Logik und Erkenntnistheorie. -   Die Grenzberichtigung solcher allgemeinen Methoden,  vielmehr der Bedingungen zu den wissenschaftlichen Methoden  aller Art muß der Logik ausdrücklich abgenommen werden; denn die Logik hat lediglich die von der Anschauung abgetrennten  Denkverhältnisse  zu untersuchen. Alle Hilfe, welche die Logik dem Erkennen zu leisten vermag, beschränkt sich daher streng und ausschließlich auf die  Sicherung des Erkennens von Seiten derjenigen Grundlagen desselben, welche im Denken gelegen sind.  Eine solche Sicherung ist unentbehrlich; sie lehrt Irrungen vermeiden, welche bei der Operation mit den Denkgebilden begegnen können, und sie fördert  Bestimmtheit  in der Gestaltung derselben. So wird die rührend Anklammerung an die Logik begreiflich als an eine  selbständige  Disziplin. Andererseits aber ist die Sicherung nur negativ. Daher die unkluge Verdächtigung der Logik als einer  formalen  Wissenschaft: als ob, was den  gesamten  Inhalt der Erkenntnis, wie sehr derselbe in sich verschieden ist,  von Seiten der Denkmittel zu sichern  die Aufgabe hat, zugleich auch  alle die anderen Mittel des Bewußtseins  enthalten müßte, welche die Erkenntnis mit ihrem objektiven Inhalt  erzeugen  und  gewährleisten. 

Zu diesen anderen Mitteln des Bewußtseins gehört die Anschauung, welche der Logik fremd ist, welche sich jedoch im Erkennen mit den Denkmitteln verbinden muß. Alle diese zwar engeren, aber positiveren  Voraussetzungen des in der Verbindung von Anschauung und Denken arbeitenden Erkennens  bilden das Gebiet einer besonderen Untersuchung, für welche in neuerer Zeit der Titel der  Erkenntnistheorie  in allgemeinere Aufnahme gekommen ist.

5. Zusammenhang von Wissenschaft und Erkenntnistheorie. -  Dieser Name ist wohlgeeignet, die Aufgaben, die er zusammenfaßt, von der mit der Vorstellung und Anmaßung des  Organon  behafteten Logik zu unterscheiden, indem er auf den  Unterschied von Denken und Erkennen  hinweist. Die Aufgaben des Erkennens erfordern eben noch andere Mittel und Zurüstungen, als die der  Denkgesetze.  Es wäre nun aber gänzlich verkehrt, das Bewußtsein von diesen anderweitigen Bedürfnissen erst der neueren Zeit zuzusprechen, in welcher dieser Titel populär geworden ist. Vielmehr sind diese ferneren Bedürfnisse von altersher empfunden worden. DESCARTES und LEIBNIZ zumeist haben unter diesen Bedürfnissen gearbeitet und gerungen. Aber gerade LEIBNIZ leidet auch zumeist an der Überschätzung der Logik, welche ihm als das Muster und als die einzige Instanz  apriorischer Vernunft  gilt. Er überspannt daher die Leistungskraft der Logik; aber er entzieht ihr keine der sein universales Forschen bewegenden Aufgaben. Er begeht den Fehler, dei Gesetze der Logik unmittelbar und  als solche  auf die Probleme der Mathematik zu erstrecken; aber immerhin behauptet und betont er damit den  Zusammenhang von Logik und Wissenschaft  als das Problem seiner wie aller Philosophie. Seine Methode freilich, dieses Problem zu lösen, ist zuzugänglich; und gerade dieser Methode, die  apriorischen Wahrheiten  des Wissens zu entwerfen, stellt sich die neue, engere Art von Logik entgegen. Nur gilt es, den Begriff dieser neuen Untersuchungsweise so zu fassen, daß geleistet werden, was LEIBNIZ erstrebt hat - nicht aber mit dem so sachlich wie historisch kläglichen Erfolg, daß ignoriert und vereitelt wird, was jener mächtige Genius in die Wissenschaft und zu deren Begründung in die Metaphysik eingeführt hat.

6. Unterschied von Erkenntnistheorie und Psychologie. -  Diejenigen verwirren daher mit dem Namen die Sache, welche LEIBNIZ gegenüber und überhaupt von LOCKEscher Erkenntnistheorie reden. Gegen LOCKE ist LEIBNIZ vielmehr durchaus im Recht des die weiten Bedürfnisse des Wissens in ihrer Wurzel zusammenfassenden Denkers. LOCKE dagegen zergliedert den Seelen-Apparat des Erkennens, und sofern wir seiner Kunst Vertrauen schenken, hat er wirkliche und wichtige Mittel und Kräfte bloßgelegt. Psychologie aber, auch die beste, ist nicht das Kraut, das gegen die Anmaßungen der Logik gewachsen ist; und der Sensualismus ist überall nur Psychologie. Erkenntnistheorie aber dar  nicht als Psychologie  gemeint sein. Denn die Psychologie setzt selbst jene Erkenntnistheorie voraus, im Begriff des  Bewußtseins  wie in dem der  Materie,  wie demgemäß in den  Empfindungen  und den  Reizen. 

7. Bedenken gegen den Titel Erkenntnistheorie. -  Deshalb muß ich am Namen  Erkenntnistheorie  Anstand nehmen: weil er die Vorstellung erweckt, daß die Erkenntnis  als  ein psychischer Vorgang den Gegenstand dieser Untersuchung bilde, welche als psychologische Zerlegung des Erkenntnisapparates sich zur Theorie abzurunden vermöge. Diese Ansicht ist grundfalsch; denn auf dem Weg psychologischer Analysen kann man nicht zu derjenigen  Gewißheit  gelangen, welche für die auf diesem Gebiet behandelten Fragen erforderlich ist. Psychologie entwirft die  Beschreibung des Bewußtseins  aus seinen Elementen. Diese Elemente müssen daher hypothetische Sein - und bleiben, dieweil dasjenige, womit in Wahrheit das Bewußtsein beginnt und worin es entspringt, kein mit Bewußtsein Operierender auszugraben und festzustellen vermag. Nehme ich hingegen die Erkenntnis nicht als eine Art und Weise des Bewußtseins, sondern als ein  Faktum,  welches sich in der  Wissenschaft  vollzogen hat und sich  auf gegebenen Grundlagen  zu vollziehen fortfährt, so bezieht sich die Untersuchung nicht mehr auf eine immerhin subjektive Tatsache, sondern auf einen wie sehr auch sich vermehrenden, so doch objektiv gegebenen  und in Prinzipien gegründeten  Tatbestand, nicht auf den Vorgang und Apparat des Erkennens, sondern auf das Ergebnis desselben, die Wissenschaft. Alsdann wird die Frage nahegelegt und unzweideutig: aus  welchen Voraussetzungen  dieser Tatbestand der Wissenschaft seine Gewißheit ableite. Denn daß solche Voraussetzungen walten müssen, das muß von vornherein eingesehen werden; wenngleich das klare Bewußtsein von denselben nicht mitzuwirken braucht. Die  Axiome  der Mathematik sind auch erst ausgeschieden worden aus dem Inhalt der mathematischen Forschung, als sich derselbe bereits stattlich ausgebaut hatte. Ohne solche latente Grundlagen aber hätte die Mathematik sich nicht entfalten können. So geht es mit allem Erkennen. Die Wissenschaft geht der Logik und deren Ergänzung voraus. Auf den Tatbestand der Wissenschaft richtet sich die Untersuchung der Erkenntnis, die Prüfung ihres Geltungswertes und ihrer Rechtsquellen.

8. Erkenntniskritik. -  Ich möchte daher anstatt Erkenntnistheorie den weniger mißverständlichen Namen der  Erkenntniskritik  setzen, und gedenke denselben fortan zu gebrauchen. Dieser Titel erinnert auch bestimmter an die bei aller historischen Vermittlung  originale  Entdeckung KANTs; während der Ausdruck Erkenntnistheorie an den von KANT verworfenen Ausdruck der  Wissenschaftslehre  erinnert. "Schon der Titel (Wissenschaftslehre) erregt, weil jede systematisch geführte Lehre Wissenschaft ist, wenig Erwartung für den Gewinn, weil sie eine  Wissenschaftswissenschaft  und so ins Unendliche andeuten würde." (2) Während KANT selbst aber noch mit psychologischen Vorstellungen und Zumutungen kämpft, so  objektivieren  wir in seinem Sinne, im Geist und Buchstaben des kritischen Systems  die Vernunft in der Wissenschaft. Kritik der Vernunft  ist  Kritik der Erkenntnis  oder der Wissenschaft. Die Kritik entdeckt das  Reine  in der Vernunft, insofern sei die  Bedingungen der Gewißheit  entdeckt, auf denen die  Erkenntnis als Wissenschaft  beruth.

9. Erkenntniskritik der wissenschaftliche Idealismus. -  Somit unterscheidet die Erkenntniskritik den Kantischen von allem sonstigen  Idealismus,  und bestimmt und verdeutlicht den Gehalt des  Transzendentalen.  Der Idealismus überhaupt löst die Dinge in Erscheinungen und Ideen auf. Die Erkenntniskritik hingegen zerlegt die Wissenschaft auf die  Voraussetzungen  und  Grundlagen,  die in ihren  Gesetzen  und für dieselben angenommen werden. Der erkenntniskritische Idealismus hat also nicht sowohl Dinge und Vorgänge,  auch nicht solche des Bewußtseins schlechthin,  sondern  wissenschaftliche Tatsachen  zu seinen Objekten. Wenn anders nun die letzteren überhaupt die einzig statthaften Vorwürfe solcher Untersuchungen sind, welche auf den Rechtsgrund der Gewißheit gerichtet werden, so ist der erkenntniskritische Idealismus die  wissenschaftliche Form des Idealismus,  die mit dem Begriff des  Transzendentalen  erreicht worden ist. Denn das  Transzendentale  bezieht sich auf die  Möglichkeit  einer Erkenntnis, welcher der Wert  apriorischer  oder  wissenschaftlicher  Geltung zukommt. Die  Erkenntniskritik  ist somit gleichbedeutend mit der  transzendentalen  Logik; denn ihre Aufgabe ist die Entdeckung der  synthetischen Grundsätze  oder derjenigen  Grundlagen  des Erkennens, auf welchen die  Wissenschaft  sich aufbaut, und von deren Geltung sie abhängt. Die Voraussetzung solcher Grundlagen ist keineswegs dogmatisch; sondern umgekehrt ist der Verdacht des Dogmatismus, sofern derselbe sich auf jene Annahme bezieht, ein Symptom des Dogmatismus. Annahmen und Voraussetzungen müssen der Wissenschaft zugrunde liegen; denn ohne latente Basierung kann kein Lehrgebäude aufgerichtet werden; alle Entwicklung von Sätzen setzt Grundsätze voraus. Daher ist der Plan der transzendentalen oder der Erkenntniskritik ein  natürlicher  und  methodischer:  was die Wissenschaft zur Wissenschaft macht, welche Bedingungen ihrer Gewißheit sie voraussetzt, von welchen Grundsätzen ihre Wirklichkeit  nach ihrem angenommenen Wert  als Wissenschaft ermöglicht wird - das ist die natürliche Frage aller Philosophie; das ist das Problem der in KANT reif gewordenen Philosophie.

10. Die historische Vorbedingung der Erkenntniskritik. -  Diese Reife der Philosophie war mit dem Reifen der Wissenschaft gekommen, die mit GALILEI beginnt, und sich mit NEWTON abschließt. Seit NEWTON gibt es eine  auf  Prinzipien erbaute, ihrer Grundlagen und Voraussetzungen bewußte und nacht mathematischer Methode sich fortzeugende Wissenschaft. Es war nun erst das Objekt gegeben, auf welches die  transzendentale Frage nach der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis  gerichtet werden konnte. LEIBNIZ selbst arbeitet noch mit an der Hervorbringung dieser Wissenschaft; er hat das Ideal einer solche sicher im Auge, aber es gelingt ihm nicht, dasselbe  in den selbstgezogenen Schranken mathematischer Naturerkenntnis  zu realisieren. Es mochte in dieser Richtung NEWTON von LEIBNIZ ähnlich denken, wie einst GALILEI von KEPLER: "Ich schätze Kepler wegen seines freien und tiefen Geistes überaus hoch, aber seine Art zu philosophieren ist nicht die meinige." (3) Wir wissen wenigstens von LEIBNIZ, wie er die Grundbegriffe von NEWTONs Mechanik verwirft, und sonach die mathematische Naturwissenschaft nicht zu systematisieren vermag. Wir begreifen dieses Mißlingen gerade aus seinem größeren Verlangen: er wollte die Mathematik und alle Naturerkenntnis in die Paragraphos der Logik zwingen; jene aber erwuchsen auf eigenem Grund, aus nichtlogischen Prinzipien. So mußte sich ihm auch das Problem der Erkenntniskritik verschieben; denn für ihn gab es Erkenntnis nur in einem allgemeinen,  unbestimmten,  nicht in einem eingeschränkten, aber  präzisen  Sinne.

11. Die Begründung des Infinitesimalbegriffs als Problem der Erkenntniskritik. -  Indessen, obwohl LEIBNIZ die Erkenntnis im Begriff der mathematischen Naturwissenschaft und Erkenntniskritik im transzendentalen Sinne  systematisch  nicht geltend macht, so hat er doch jene Erkenntnis durch seine Entdeckung mithervorgebracht, und zwar vorzugsweise durch dieselbe: durch die des  Infinitesimalbegriffs.  Die Begründung desselben, die demnach logisch nicht geführt werden kann, muß daher der Erkenntniskritik anheimfallen; das soll heißen: als ein  Teil  und Beispiel desjenigen Problems behandelt werden, welches KANT in seinem  neuen Begriff der Erfahrung oder der mathematischen Naturwissenschaft  aufgestellt hat. Als in einem der Grundbegriffe, als in einer der Bedingungen für die Möglichkeit der Erfahrung enthalten, muß demnach dieses mächtigste Werkzeug derselben erörtert werden, wenn anders sein Begriff begründet werden soll.

Es könnte das Bedenken entstehen, daß, indem der Infinitesimalbegriff einer erkenntniskritischen Begründung unterzogen wird, derselbe damit dem heimischen Gebiet entrückt, und seine Rechtfertigung abhängig gemacht würde von einer Untersuchung, welche mit fremden Begriffen und nach fremden Normen die gesuchte Legitimation führe. Demm ist jedoch nicht so. Weder wird der Infinitesimalbegriff, sofern er erkenntniskritisch begründet werden soll, dem Zusammenhang der mathematischen Probleme entzogen, noch auch setzt diese Begründung voraus, daß das  ganze System  der Erkenntniskritik zu diesem Zweck abgewickelt werde. Der erste Punkt erledigt sich durch den Begriff der Erkenntniskritik. Im  Zusammenhang der Bedingungen  und allgemeinen Vorwürfe  mathematischer Erkenntnis  muß der Infinitesimalbegriff betrachtet werden, wenn er erkenntniskritisch begründet werden soll. Der zweite Punkt hingegen fordert eine ausführlichere Erwägung.

12. Verhältnis der erkenntniskritischen Diskussion eines einzelnen Begriffs zum erkenntniskritischen System. -  Die erkenntniskritische Behandlung eines  einzelnen  Grundbegriffs oder Grundsatzes setzt keineswegs die vollständige Ausführung des erkenntniskritische Systems voraus. Vielmehr kann die erkenntniskritische Diskussion bei jedem Punkt,  bei jedem Grundsatz beginnen.  Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Vorteil dieses Umstands. Es ist einleuchtend, daß somit von den verschiedenen Problemen aus, welche die einzelnen Wissenschaften darbieten, ein Zugang zur Erkenntniskritik offenliegt.  Einen  Begriff aber enthalten alle wissenschaftlichen Gebiete in verschiedener Abstufung, den sie jedoch allesamt lediglich voraussetzen: das ist der  Begriff des Gesetzes.  Mit dem Grundsatz des Gesetzes, mit dem  erkenntniskritischen Ort  für den Begriff desselben sollte daher zunächst alle Erkenntniskritik zu beginnen haben. Sie tut es teilweise, sofern sie mit dem Begriff a priori beginnt; aber nicht mit der erforderlichen Klarheit über die  Voraussetzung,  die in demselben  für alle Wissenschaft  enthalten ist.

13. Methodische Gleichwertigkeit der erkenntniskritischen Grundsätze. -  Die Erkenntniskritik besteht nun also  zunächst  im Nachweis derjenigen Bedingungen, auf denen die  mathematische  Naturwissenschaft beruth. Sicherlich darf in der Aufzählung und Gruppierung dieser Bedingungen nicht Willkür herrschen; die Ordnung derselben jedoch wird von keinem Gesichtspunkt geleitet, der  objektiv  ausschließlich statthaft wäre. Vielmehr richtet sich dieselbe nach dem einzelnen Vorwurf und Gegenstand, der die Begründung fordert. Alle erkenntniskritischen Grundsätze sind als solche  gleichwertig:  daher kann mit einem jeden derselben die  Rekonstruktion der wissenschaftlichen Erfahrung begonnen,  und ebenso auch mit einem jeden  beschlossen  werden. Es ist wiederum im Begriff der Erkenntniskritik gegeben, daß  beides  tunlich ist. Handelte es sich um einen  psychologischen  Nachweis, so könnte jede Quelle und jedes Element der Erkenntnis nicht zugleich als höchste Grundlage gelten. Wenn es darauf ankäme, daß die erkenntniskritische Grundbegriffe etwa im  Geist  prädisponiert wären, so könnten sie nicht alle zugleich das  A  und das  O  bedeuten. Erkenntniskritik aber ist nicht schlechthin auf den erkennenden Geist gerichtet, sondern auf den  Inhalt der Erkenntnis.  Mithin kann mit jedem Stein die Rekonstruktion des Fundaments begonnen werden; denn solange  ein Grundsatz  fehlt, wankt das Ganze.

So sehen wir, weshalb  beides,  die Tauglichkeit als  Anfang  wie die als  Abschluß  zu dienen, gleicherweise erforderlich ist: Anfang und Abschluß fallen hier zusammen. Es könnte z. B. mit einem Grundsatz der Modalität, mit dem Begriff der  apodiktischen Notwendigkeit  so begonnen wie abgeschlossen werden, oder mit dem der  Wirklichkeit oder dem der  Hypothese.  Ebenso kann mit dem Grunsatz der  Gemeinschaft,  das will sagen mit dem Begriff des  Systems oder mit dem der  Substanz  begonnen und abgeschlossen werden. Endlich könnte einer systematisch methodischen Ansicht zufolge, in welcher sich die moderne mathematische Auffassung mit der  pythagoreischen  Zahlen-Begeisterung berühren würde, mit dem Ersten der Kantischen Grundsätze der Anfang wie der Abschluß versucht werden.

In der Charakteristik der einzelnen Grundsätze muß daher dies der leitende Gedanke sein: daß die  Unersetzlichkeit  und relative Unübertrefflichkeit eines jeden derselben ins Licht gestellt werde. Vor der Überschätzung eines jeden ist die Untersuchung schon äußerlich dadurch geschützt, daß neben ihm andere in nicht nur anerkannter, sondern stets mitzubedenkender Gleichwertigkeit bleiben. Diese Aufgabe, den  Einzelwert  eines jeden Grundsatzes für das Ganze der Erkenntnis festzustellen, bringt die Erkenntniskritik zu reichem,  immerfort erhöhbarem Gehalt.  Denn was die einzelnen Grundsätze zu leisten imstande sind, läßt sich im Voraus nicht erschöpfen, noch absehen. Daher schützt dieser von aller Psychologie unterschiedene Charakter der Erkenntniskritik dieselbe vor  dogmatischer  Verschränktung und Verknöcherung.

14. Unterscheidung und Charakteristik der einzelnen Grundsätze. -  Andererseits ist die  Sonderung  der Grundsätze und die Musterung ihrer einzelnen  Beiträge  für den Gesamtwert der Erkenntnis auch insofern von Nutzen: daß die  mannigfachen Ausdrücke  für Erkenntniswerte dadurch unterschieden und  bestimmt  werden können. Welcher Schaden an Einsicht wird nicht dadurch angerichtet, daß die Geltungswerte im  sittlichen  und  naturwissenschaftlichen  Erkennen nicht streng genug auseinandergehalten werden: also  Ideen  im Unterschied, wenngleich im Zusammenhang und Vergleich mit Grundsätzen. So herrscht Verwirrung bezüglich der Begriff von  Wahrheit,  unmittelbarer  Gewißheit  und  Denknotwendigkeit.  Und innerhalb der mathematisch-naturwissenschaftlichen Grundbegriffe werden  Realität  und  Sein  wie  Substantialität  und  Wirklichkeit  durchaus verwechselt. Auch darin zeigt sich die Not der Erkenntniskritik, daß Bedenken erhoben werden gegen einzelne Grundlagen, welche andere allein zu heben berufen sind, wie dies bezüglich des Problems der Anschauung zutage tritt. Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich die dringliche Notwendigkeit, die Grunsätze zu sondern; und es kann dies nur Befremden erregen: daß  so wenige  Grundsätze imstande sein sollen, das Fundament der gesamten Wissenschaft auszumachen.

15. Systematische und historische Ableitung des Infinitesimalbegriffs. -  Diesen Zweifel hebt gerade derjenige Begriff, welchen wir hier als einem erkenntniskritische Grundsatz entsprechend begründen wollen. Der Infinitesimalbegriff macht es deutlich, welche reiche Anzahl von gedanklichen Wendepunkten und welche Fülle von fundamentalem Material in  einem  Grundsatz geborgen sein kann. Tatsächlich zweifelt niemand daran, daß der Infinitesimalbegriff eine so breite Grundlage bildet; aber daß diese Grundlage eine erkenntniskritische sei, das wird über der vermißten logischen Bedeutung übersehen. Um nun jene durchsichtig zu machen, scheint es zweckmäßig, diese  systematische  Aufgabe  historisch  anzufassen; und zwar ist diese Behandlungsweise unseres Problems ebensosehr im erkenntniskritischen, wie in einem intern-wissenschaftlichen Sinn dienlich. Durch die Vergegenwärtigung der  wissenschaftlichen Verhältnisse,  welche zur Entdeckung des Infinitesimalbegriffs geführt haben, eröffnen wir uns am sichersten das Verständnis seiner erkenntniskritischen Bedeutung. Denn zu keinem anderen Zweck haben LEIBNIZ sein  dx  und NEWTON sein  xo  eingeführt, als zur Erweiterung und zur Befestigung derjenigen Erfahrung, welche KANT als mathematische Naturwissenschaft zum Problem der Vernunftkritik macht. Hier muß die historische Orientierung förderlich sein, wie kaum an einem anderen Punkt. Denn fast alle erkenntniskritischen Grundbegriffe sonst reichen bis in das griechische Altertum zurück; nicht bloß Substanz und Kausalität, Möglichkeit und Wirklichkeit, sondern auch Raum und Zeit. Das Infinitesimale dagegen ist trotz seines Zusammenhangs mit der antiken Tradition ein durchaus moderner Begriff, dessen Ursprung und Entwicklung uns klar vorliegt: dessen Zusammenhang mit der philosophischen Spekulation daher wohl auch genau nachweisbar sein möchte.

16. Leibniz' Anteil an der Begründung des Infinitesimalbegriffs. -  Zumal bei LEIBNIZ muß ein solcher Zusammenhang vermutet werden. Es wäre doch sicherlich ein sonderbarer Leitgedanke der historischen Arbeit, anzunehmen, daß LEIBNIZ die eigentliche Beziehung ganz und gar entgangen sein sollte, welcher der Differentialbegriff angehört, den er - entdeckt hat. Ein Anderes ist es, die systematische Rechtfertigung eines Begriffs zu leisten, ein Anderes, den Zusammenhang und die Richtung der Probleme zu erkennen, welche durch einen Begriff bezeichnet werden. Die erkenntniskritische Begründung erfordert beides. Und freilich durch die Monadologie war die systematische Legitimation nicht zu erreichen. Aber so atomistisch können in keines Menschen Kopf, geschweige denn im Hirn eines Genius die Gedanken beieinander lagern, daß der monadologische Metaphysiker sich nicht um die charakteristischen Zeichen gekümmert haben sollte, welche der Analyst und Geometer ersann und kultivierte. Es ist eine verkehrte Meinung, daß NEWTON zwar auf dem Weg seiner Forschungen dieses Instrument gebaut und geschliffen, also in seinem logischen Gebrauchswert erkannt habe, LEIBNIZ dagegen in der Hauptsache nur ein bequemes förderliches Zeichen selbständig hinzugebracht, für die logische Begründung des Verfahrens jedoch selbst die Richtung verfehlt habe. Diese Meinung ist nicht nur aller historischen Voraussetzung und, wie sich glücklicherweise zeigen läßt, den  literarischen Urkunden  widersprechend: sie ist zugleich aber auch geeignet, das natürliche Recht und den einzigen Sinn des Begriffs zu verdunkeln.  Beide nämlich werden deutlicher bei Leibniz als bei Newton.  Diesen Hauptpunkt hat selbst GERHARDT übesehen; denn durch den Nachweis, daß LEIBNIZ den  Algorithmus  selbständig und "fast zufällig" entdeckt habe, wird der leidige Streit über den wahren Entdecker keineswegs in der Weise geschlichtet, welche der Tat LEIBNIZens gerecht wird. Nach GERHARDT aber ruht die Fluxionsrechnung NEWTONs "auf einem vollkommen sicheren Fundament", der Wert des Differentials hingegen besteht in der praktischen Nützlichkeit, welche mit der  "unbestimmten  Vorstellung des Unendlichkleinen" (4) verbunden war. In der Tat ist LEIBNIZ nicht nur der Entdecker jener glücklichen Bezeichnungsweise, sondern der Erfinder des Gedankens, der auf dem Weg seine  gesamten Denkens und Rechnens  lag.

17. Newtons Verhältnis zur Philosophie. -  Und dieses Denken ist immerhin einheitlicher bei LEIBNIZ zusammengefaßt, als bei NEWTON. Wie sehr daher auch für NEWTON wie für LEIBNIZ die Voraussetzung gilt, daß die Richtung, in welcher die Begründung zu erfolgen hat, vom Entdecker nicht übersehen sein könne, so besitzen wir doch zum einen von NEWTON viel weniger gedruckte Bemerkungen zur Logik des Fluxionen-Kalküls, als nunmehr von LEIBNIZ bezüglich seines Differentialbegriffs; vor allem aber ist es bekannt, wie NEWTON für die Charakteristik der Kräfte sich aller  "Hypothesen"  nachdrücklich enthalten, und die Geometrie selbst als die genauere Mechanik bezeichnet hat. Sein Entdeckergeist hat nichtsdestoweniger solide Hypothesen ersonnen und der sogenannten Erfahrung durchaus entlegene Zaubermittel der Analysis zu bewundernswürdiger synthetischer Darstellung gebracht. Aber es ist begreiflich, daß die Frage: was im Zusammenhang des Denkens ein Begriff zu bedeuten habe, eine weniger ergiebige Behandlung bei dem Manne erfahren haben werde, welcher aus Scheu vor den verborgenen Qualitäten und vor den "Hypothesen  der Cartesianer"  alles apriorische Voraussetzen, alles schöpferische Disponieren, kurz das Zugrundelegen reiner Begriffe mit der großartigen Einseitigkeit eines weltgeschichtlichen Standpunktes von sich fern gehalten hat.

18. Differential und Realität. -  Wenn wir demnach vorzüglich bei LEIBNIZ nach den Spuren und Keimen erkenntniskritischer Begründung des Infinitesimalbegriffs und zwar vorzugsweise in demjenigen Material suchen, welches GERHARDTs Herausgabe zugänglich gemacht hat, so nähern wir uns auf diesem historischen Weg der systematischen Aufgabe. Unsere Absicht nämlich ist der erkenntniskritische Nachweis:  daß jene vermißte logische Begründung des Differentialbegriffs in einem erkenntniskritische Grundsatz,  und zwar in dem  der Kategorie der Realität  entsprechenden, mithin  im Grundsatz der intensiven Größe oder der Antizipationen enthalten sei.  Um diesen Nachweis eingänglich zu machen, muß die LEIBNIZsche Diskussion und Terminologie beachtet und verstanden werden.

Denn ein solcher Versuch muß vor allem dem Einwurf begegnen: wie es zu verstehen sei, daß KANT selbst eine so wichtige und allem Anschein nach neue Sache so wenig ausgeführt, um nicht zu sagen versteckt gehalten habe, während die Auseinandersetzung mit einem vergleichsweise so leichten Problem wie der HUMEschen Kausalität ihn zu stets neuen Anknüpfungen gereizt hat. Dieser alle unbefangene Aufnahme unseres Versuches störende Einwand wird am bestimmtensten von vornherein durch die späterhin zu erweisende Erinnerung beseitigt:  daß die Identität der intensiven und der unendlichkleinen Größe zu Kants Zeiten eine allgemeine Annahme war.  In dieser Beziehung brauchte also KANT nicht ausführlicher zu sein. Aller Nachdruck war vielmehr auf den Gedanken zu legen: daß die Leistung der intensiven Größe der Bedingung der Realität entspreche; daß derjenige Geltungswert, welcher der Forderung und Voraussetzung der Realität Genüge leistet, im Grundsatz des  Grades  gewährleistet werde, durch welchen die  Verbindung  von Mathematik und Naturwissenschaft tatsächlich gestiftet und innerlich begründet wird.

Hierin besteht das Neue, das Kant zu lehren hatte: Realität  liegt nicht im Rohen der sinnlichen  Empfindung  und auch nicht im Reinen der sinnlichen  Anschauung,  sondern muß als eine  besondere  Voraussetzung des Denkens geltend gemacht werden, gleichwie Substanz und Kausalität, als eine Bedingung der Erfahrung, die derselben nur entnommen werden kann, sofern sie ihr zugrunde gelegt, für ihre Möglichkeit vorausgesetzt wird. Darauf mußte es KANT ankommen, die Realität als eine  besondere Kategorie  auszuzeichnen, im Unterschied auch von der der  Wirklichkeit. 

19. Differential und intensive Größe. -  Für diesen Höhepunkt kritischer Naturerkenntnis bildet  die Charakteristik der infinitesimalen Größe als intensiver die notwendige Vermittlung;  denn die kritische Bedeutung der Realität wird  vorzugsweise  an der  infinitesimalen Intensität  durchgeführt. Und diese Gleichwertigkeit des Differentialen und des Intensiven ist bei LEIBNIZ ausgesprochen, seinen Korrespondenten geläufig, und im WOLFFschen Zeitalter ein bei den bekannteren Autoren sich wiederholender Paragraphensatz.

20. Intensiv und extensiv.   Wir treten nunmehr sogleich in medias res, indem wir uns an dieser Gleichsetzung zu orientieren suchen. Denn wie vage und zweideutig der heutige Gebrauch des Intensiven genannt werden muß, wie sich darin schon zeigt, daß es inbesondere mit der  Intensität  fast durchgängig verwechselt wird: im 17. Jahrhundert scheint das Intensive vornehmlich das  Inextensive  bedeutet zu haben. Damit aber kommen wir sogleich zum Kernpunkt der Frage: dem  Verhältnis von Anschauung und Denken im Differentialbegriff.  Die Bestimmung dieses Verhältnisses soll nach erfolgter historischer Ermittlung noch genauer in Bezug auf das gegenseitige Verhältnis der  beiden Arten  der Anschauung versucht werden; vorerst jedoch seien die allgemeinsten Bedenken erwogen.

21. Anschauung und Denken sind erkenntniskritische Abstraktionen. -  Das Unendlichkleine entzieht sich der Bedingung der Anschauung - und in Anschauung muß alle Erkenntnis darstellbar sein. Der Widerspruch steigert sich, indem das Unendlichkleine, obwohl es der Anschauung nicht teilhaft wird, nichtsdestoweniger der Anschauung dient und vorzugsweise an den Interessen derselben, insbesondere dem  Tangenten-Problem  entstanden ist. Dieser angebliche Widerspruch kann durch eine  elementare erkenntniskritische Erinnerung  gehoben werden, die von jedem Standpunkt aus zugegeben werden wird. Es ist ein Irrtum, weil alle Erkenntnis in der Anschauung darstellbar sein muß, darum auch  alle anderen Mittel, Bedingungen und Grundlagen  der Erkenntnis ihrerseits der Anschauung zu unterwerfen. Die Anschauung ist nach der allgemein rezipierten Kantischen Lehre eine Quelle der Erkenntnis, ebenbürtig dem Denken, also ist das Denken nicht minder eine solche Erkenntnisquelle. Für jede gegenständliche Erkenntnis müssen sich die beiden Erkenntnisquellen verbinden; jede spezielle Erkenntnis ist durch diese Verbindung beider Erkenntnismittel bedingt. Eine Erkenntnis von objektivem Umfang kann weder allein durch Anschauung, noch allein durch Denken zustande gebracht werden. Aber in diesem methodischen Satz ist zugleich deutlich ausgesprochen, daß Anschauung und Denken  nicht selbst  auch Erkenntnis objekte,  sondern lediglich  erkenntniskritische Abstraktionen  sind.

Der Wert dieser Abstraktionen besteht offenbar in der Reinheit ihrer Bestimmung und Behandlung. Die Abstraktion der Anschauung ist umso wissenschaftlicher, strenger, mithin beziehungsmächtiger, je bestimmter ihre Merkmale von denen des Denkens unterschieden und abgetrennt gehalten werden können. Dasselbe Erfordernis gilt für die Abstraktion des Denkens: daß sie mit keinerlei Elementen der Anschauung vermischt und verunreinigt werde. Denn wenn in der Tat die genannten Abstraktionen die notwendigen und zureichenden  formalen  Bedingungen aller Erkenntnis sind, so fordert der Begriff der Abstraktion, daß eine jede als solche selbständig in sich bestimmt werde.

22. Leistung des Denkens im Infinitesimalbegriff. -  Während sich nun die Bedingung der Anschauung nur in zwei Unterarten verteilt, so ist die Bedingung des Denkens in einer größeren Anzahl von Grundbegriffen spezialisiert. Eine solche Kategorien-Spezialität bildet der Begriff der  Qualität dem die der Realität und der Limitation untergeordnet sind. Wenn nun das Infinitesimale dieser Kategorienart entspricht, der Forderung der Realität gerecht zu werden geeignet sein soll, so ist es begreiflich, daß es der Anschauung entzogen sein muß, wenn anders die Realität einen "reinen Verstandesbegriff", eine Bedingung der Erfahrung  von Seiten des Denkens  zu bedeuten hat.

Man kann nun einwerfen, daß diese Verwertung der Kategorie, des reinen Grundbegriffs der Erfahrung für wie auch immer umfassende, aber doch spezielle wissenschaftliche Probleme nur erst  kraft Überführung der Grundbegriffe in die Grundsätze  verstattet werde. Die Realität als Kategorie ist nicht schon ansich das Infinitesimale, sondern erst die Ausführung der Kategorie zum synthetischen Grundsatz kann diese Deutung möglich machen und sofern es gelingt, rechtfertigen. Im Grundsatz aber muß ja Anschauung und Denken bereits verbunden sein. Also müsse die Infinitesimalgröße, sofern sie einem Grundsatz entspricht, auch anschaubar sein.

Sehen wir von der Kantischen Terminologie ab, wenigstens soweit in unserer modernen Ausdrucksweise und zum Einvernehmen mit derselben eine Emanzipation von ihr möglich ist - so dürfte sich der Einwand folgendermaßen bestimmen lassen. Das Unendlichkleine sei keineswegs ein formales Gebilde des Denkens, etwa wie Bejahung und Verneinung, sondern als ein Größenbegriff der Wissenschaft von den Größen zugehörig. Größe aber setzt Anschauung voraus und somit entspringe die infinitesimale Größe der Anschauung, der sie dennoch - und das ist der Widerspruch in ihrem Begriff - sich entziehen muß.

Indessen muß auch dieser Formulierung gegenüber der obige Satz wiederholt werden: daß der Einwurf auf einer  Verwechslung materieller Erkenntnis mit einer formalen Erkenntnisbedingung  beruhe. Wollten wir diese Unterscheidung am Unterschied von Grundbegriff und Grundsatz beleuchten, so würde die Bedeutung des  Schematismus  zu erklären sein. Da wir jedoch hier von der genaueren Terminologie der Kantischen Schulsprache Abstand nehmen, so soll an denjenigen Ausdrücken, welche die moderne wissenschaftliche Sprache von KANT rezipiert hat, eine genauere Bestimmung versucht werden. Eine solche ist unumgänglich, wenn Termini, welche einer systematischen Lehrverfassung angehören, von derselben abgelöst und in einen allgemeinen, von Autor zu Autor, und oft bei demselben Autor schwankenden Sprachgebrauch entlassen werden.

23. Anschauung ein Kantischer Terminus. -  Dieses Schicksal ist dem Kantischen Grundbegriff der Anschauung widerfahren, freilich uns selbstverständlich nicht ohne alle Schuld des Urhebers. Wer einen neuen Begriff schmiedet, der vermag niemals die ganze und volle Deutlichkeit desselben, seine vielfachen Unterschiede von denjenigen Begriffen, in deren Zusammenhang er verflochten bleibt und bleiben soll, zur unzweideutigen Darstellung zu bringen. Die Verhältnisse der  reinen  Anschauung zur  empirischen,  und innerhalb der reinen wieder der  äußeren  zur  inneren  sind so fein und zweischneidig, und die Bestimmung derselben ist so innig mit der gesamten Aufgabe und mit den weit verzweigten Interessen der Vernunftkritik verwachsen, daß niemand, der sich auf Stilfragen bei den Auserwählten versteht, hier eine kompendiöse Klarheit erwarten wird. Erst im Aufbau des Systems müssen sich die einzelnen Steine aneinander glätten und abgrenzen; während der eigenen Zubereitung können sie nicht schon zu einer schulgerechten Definition gelangen. Umso notwendiger ist es daher, wenn Spätere den Ausdruck annehmen, die Vorsicht dabei zu gebrauchen, welche mehr beinahe als bei einem Wort der Umgangssprache dem Terminus eines fremden Systems gegenüber geboten ist. Diese Vorsicht hat unser Zeitalter am Wort "Anschauung" nicht geübt, vielmehr den Ausdruck, als ob er selbstverständlich wäre, in den eigenen wissenschaftlichen Gebrauch genommen.

24. Anschauung als Anschauen. -  Die Anschauung ist eines der bedeutsamsten und fruchtbarsten Worte unserer wissenschaftlichen Sprache, mit dem sich weder  Intuition noch  Imagination  messen können; trotzdem aber scheint insbesondere die Endung des Wortes zu einer ungenauen Ansicht zu verleiten, aus welcher schwere Fehler hervorgehen. Anschauung im Sinne des erkenntniskritischen Terminus darf nämlich nicht als eine konkrete gedacht werden, auf einen Gegenstand bezogene Erkenntnis, sondern lediglich als ein Erkenntnis mittel,  als das  Element  einer Methode. Die Anschauung darf als nichts anderes gedacht werden, denn als  Anschauen.  Anschauung bedeutet das vom Denken zu unterscheidende Verfahren, welches sich in jeder einzelnen Anschauung mit dem Denken verbündet haben muß. Die Anschauung als erkenntniskritischer Terminus ist das  Element  einer Erkenntnis, nicht selbst eine solche. Bezüglich des Denkens ist schon durch den gang und gäbe gewordenen Unterschied von Denken und Erkennen diese Einschränkung verständlich. Ebenso aber sollte man Anschauuen und Erkennen unterscheiden, während die objektive Anschauung ein Erkennen ist, welches durch Anschauen und Denken bedingt wird.

25. Anschauung Bezogenheit des Bewußtseins als auf ein Gegebenes. -  Demgemäß ist am erkenntniskritischen Element der Anschauung eine weitere Abstraktion zu vollziehen, durch welche die zweideutigen Zusammenhänge der  reinen  Anschauung mit der  empirischen  zerrissen werden. Wenn andersrum, was man reine Anschauung nennen darf, die  mathematische  Anschauung zu bedeuten hat, im Unterschied von der physisch-psychischen schlechthin, so ist es durch den Inhalt des Begriffs derselben geboten, daß er das Infinitesimale in seinen Umfang aufnehme. Um das leisten zu können, muß der Begriff der Anschauung eine Determination erhalten, welche seine Tendenz,  die allgemeine mathematische Gesetzlichkeit zu charakterisieren,  bestimmter und schärfer zum Ausdruck bringt; und dabei muß die Vorsicht getroffen werden, die Anschauung im Unterschied von der Erkenntnis als ein Element derselben zu bestimmen.

Zu einer solchen genaueren Fassung fordert schon der Umstand auf, daß die Anschauung, und zwar wiederum im allgemein wissenschaftlichen Sprachgebrauch, als Gattungsbegriff für eine  innere  und  äußere  gilt. Also auch eine nicht auf den Raum bezogene Anschauung erkennen wir an. Also ist Anschauung nicht ausschließlich auf  Extension  bezogen, sondern bedeutet zumindest auch sukzessive Protension [Zeitdauer - wp] also ein beiden Gemeinsames.

Auf dieses Gemeinsame, und damit auf die eigentümliche Art des Anschauungs-Inhaltes, gegenüber dem des Denkens, kommt man vielleicht am eindringlichsten, wenn man unter den Modifikationen des Denkens auf die  Negation  achtet. Diese liegt uns doch nicht, wie dem ARISTOTELES, in den Dingen; sondern, wie zwar alles auf ein Etwas bezogen sein muß, an welchem die Tat des Denkens sich vollziehe, also auch die Negation auf ein zu negierendes Etwas, so ist doch die Beziehung auf dieses Etwas eine gänzlich andere als diejenige, welche im Element der Raum- oder Zeitanschauung ausgezeichnet wird. Das  Etwas,  auf welches die Anschauung bezogen ist, gilt uns in einem solideren Sinn derselben dargestellt, als in welchem es in der Negation gedacht wird, - und als Operation des Denkens objektiviert die Verneinung gerade so gut wie die Bejahung.

Könnte man von diesem Unterschied absehen, der in der  Art  des Bezogenseins auf ein Etwas zwischen Anschauung und Denken besteht, so dürfte man den Unterschied zwischen Anschauung und Denken getrost antiquieren. Im Übrigen ist diese Unterscheidung nämlich mit vielerlei psychologischem und, was schlimmer ist, erkenntniskritischem Aberglauben behaftet; daher glauben die Metageometer das Denken in die Anschauung hineinzuziehen müssen, und andererseits ebenfalls in einem vermeintlichen Gegensatz zu KANT das Denken mit der Anschauung beschwängert wurde. Der Wert dieser Distinktion, ihre erkenntniskritische Brauchbarkeit liegt in der Tat in nichts anderem, als in der Hervorhebung dieser Verschiedenheit  in der Beziehung des Bewußtseins auf das transitive Etwas.  Im Element der Anschauung wird das Etwas  als ein Gegebenes  Inhalt des Bewußtsein. Diese  Beziehung des Bewußtseins auf ein Gegebenes,  das will sagen, auf ein  X als  ein Gegebenes, nennen wir Anschauung.

Man darf nun aber nicht etwa meinen, diese Gegebenheit rekurriere auf ein Land oder Gebiet  jenseits des Bewußtseins,  auf welchem jenes Etwas der Anschauung gegeben wäre. Das Gegebene ist  im Bewußtsein  gegeben; dieser Grund und Boden ist solide genug, die Anschauung und somit jenes Etwas zu legitimieren. Und das Mittel, jenen Boden zu bearbeiten und zu bebauen, das ist die  reine,  die  mathematische  Anschauung.

Auch darf man nicht fragen wollen:  wie  es zugehe, daß eine solche Bezogenheit des Bewußtseins auf ein Gegebenes stattfinde; denn diese Frage überschreitet die Grenzen wissenschaftlicher Wißbegier, weil sie nicht auf die Bedingungen und Arten des  wissenschaftlichen Bewußtseins  gerichtet ist, sondern auf die  Möglichkeit  des  natürlichen Bewußtseins,  der  Bewußtheit.  Es ist die eigentlich  transzendente  Frage. Auf alle statthaften Fragen nach dem Wie und Wo der Gegebenheit antworten die Arten und Bestimmtheiten der Anschauung als Raum und Zeit.

26. Das Infinitesimale im Verhältnis zur Zeitanschauung und zur Zahl. -  Aus dieser Gleichsetzung von Anschauung mit  Bezogenheit auf ein Etwas als Gegebenes,  oder kurz mit  Gegebenheit,  ergibt sich nun sogleich, daß das Unendlichkleine nicht notwendig in der Raumanschauung gegeben sein müsse, da es ja Element der Anschauung bleiben würde, wenn es nur in der Zeitanschauung gegeben werden könnte, wenn es zwar in ex tensiv, aber  pro tensiv, mithin sukzessiv wäre. Man wendet vielleicht ein, daß das Infinitesimale doch vornehmlich an zum Zweck der geometrischen Anschauung erdacht worden sei, wie es ja schon bei den Alten in derselben latent gewesen ist. Jedoch die wohlverstandene Selbständigkeit der Geometrie dürfte nicht beeinträchtigt werden, wenn ein Moment, welches wir der Zeit zurechnen, zu ihrer Vervollkommnung beigetragen hat, wie ja doch der Größenbegriff unbedingt die Zeit voraussetzt. Das Differential aber ist ebensosehr, wie wir sehen werden, innerhalb der Untersuchungen, die zur Erweiterung des  Zahl begriffs geführt haben, entstanden, wie im Zusammenhang mit dem  Tangenten-Problem.  Die Zahl aber wird ja auch heute noch ausschließlich von der Raumanschauung unabhängig aus der  inneren  Anschauung abgeleitet. (5) Dasjenige Motiv des Differentialbegriffs, welches auf dem Gebiet der Analysis liegt, wird daher hinlänglich dadurch gerechtfertigt, daß das Element der  inneren  Anschauung für das Differential geltend gemacht werden kann. Dem Gattungsbegriff nach könnte damit das Infinitesimale in der Anschauung geborgen zu sein scheinen.

27. Das mechanische Motiv des Differentialbegriffs. -  Indessen ist der Inhalt fundamentaler Voraussetzun, dem der Differentialbegriff entspricht, durch dieses Zeit-Motiv, welches etwa die Zahlenbedeutung desselben an seinem Teil zu decken vermöchte, keineswegs erschöpft. Vielmehr ist für die Entdeckung des Differentialbegriffs  ein anderes Motiv ausschlaggebend,  welches die nicht infinitesimale Auffassung der Zahlgröße, bei all ihrer fortdauernden Bedeutung für das Infinitesimale selbst, dennoch als einseitig kennzeichnet und als unzugänglich für die definitive Lösung derjenigen Probleme, zu welcher sie wie für den Anfang so für allen Fortgang die unersetzliche Hilfe leistet. Es ist ein  neues,  dem Begriff der diskreten Zahl  fremdes Prinzip,  ein gedankliches Postulat, welches in letzter Instanz bei LEIBNIZ wie bei NEWTON die Entdeckung gezeitigt hat, die seit mehr als hundert Jahren vorbereitet war. Und gerade dieses neue Motiv macht es erklärlich, daß weder die Geometer noch die Analysten, was sie in Händen hatten, zu gestalten vermochten; daß dagegen mit LEIBNIZ und NEWTON in der Definition dieses Begriffs sich mit GALILEI und KEPLER begegnen, deren Genius jenem anderen Motiv gewidmet war.

Suchen wir diesem neuen Motiv nachzugehen, so führt uns der  Ursprung der Zahl  auf dasselbe. Die  empiristische  Erklärung von der Entstehung der Zahl ist weder selbstverständlich, noch ernsthaft zureichend. Für den Beitrag, den der Zahlbegriff zum  Erkennen  leistet, muß man nach einer tieferen Begründung ausspähen, als welche in der Auskunft liegt: Dinge sind gegeben, wollen unterschieden sein müssen also - gezählt werden. Nicht einmal psychologisch kann diese Vorstellungsweise die Frage aufklären; denn wenn Dinge in Mehrheit gegeben sind, so fehlt noch viel, daß sie einem  zählenden Geist  gegeben seien. Diesen Geist können wir jedoch nur in seiner Tat erkennen, also in der Zahl. In dieser aber ist er präzise zu erfassen. Mithin kann man den Ursprung der Zahl nicht in den sogenannten Dingen suchen, sondern in der  Einheit des Bewußtseins.  Schon der erste Schritt jener angeblichen genetischen Erklärung war unbefugt: Dinge sind nicht schlechthin gegeben, sondern  im  Bewußtsein (siehe Punkt 25), in diesem aber nur in den eingeschränkten Modifikationen von Raum und Zeit. Durch welche Elemente des Bewußtseins werden nun diese  so und nur so gegebenen  Dinge dergestalt weiter ausgebaut, daß sie sich zu  Objekten  auswachsen, wie wir solche in der  Naturwissenschaft  annehmen, und auf welche sich eigentlich und ursprünglich die Zahl erstreckt? Dieser Ausbau der Objektivierung bedarf anderer Mittel als der Zahl-Benennungen.

In Raum und Zeit allein sind die sogenannten Dinge günstigstenfalls nur als mathematische Körper gegeben. Die Zahl die diese zält, würde daher zwar einen solchen Idealgestalten gewachsener Maßstab sein; aber sowie jene mathematischen Gestalten nicht als  physische  Objekte gegeben wären, so würde die Zahl nur eine  fiktive  wissenschaftliche Größe sein, korrelativ zu jenen idealen Dingen, die als Größen der reinen Anschauung gemessen werden. Indessen soll mittels der reinen Anschauung mehr geleistet, sollen die geometrischen Körper  physische  werden. Diese fernere Bedeutung vermag die antike Zahl nicht zu gewährleisten. So tritt an die Zahl selbst die Nötigung heran, sich durch ein neues Prinzip schärfer ausrüsten zu lassen, wenn anders sie dieser gesteigerten Bedeutung der Dinge, auf die sie doch ihrem ganzen Gebrauch nach gemünzt ist, gerecht werden soll können. Die Wissenschaft, welche sich mit der letzten Instruktion für diese materielle Bedeutung der Dinge beschäftigt, welche die geomentrischen Körper zu physischen ausrechnet, die  Mechanik  wurde in jener Zeit neu begründet; und aus dem  Quell und Prinzip der mechanischen Probleme ist im letzten Grund der Differentialbegriff entsprungen.  Um die Dinge als physische Körper, als reale Gegenstände zu bestätigen, dazu bedurfte es infinitesimaler Zählung. In dieser  dritten  Bedeutung entspricht das Differential einem Grundbegriff des reinen  Denkens,  der Kategorie der  Realität.  Und auch dieses abschließende Motiv wird von den Entdeckern deutlich geltend gemacht.

28. Übergang zur selbständigen Bedeutung der Realität. -  Wenn man jetzt von Neuem das Ansinnen stellte, daß auch in dieser Realitätsbedeutung das Differential in die Anschauung eingehen müsse, so ist das nicht mehr bloß eine Verwechslung von Erkenntnismittel und Erkenntnisobjekt, sondern hier steigert sich der Irrtum ins Absurde. Denn wozu bedürfte man eines  Denk- Mittels der Realität, wenn die Anschauung zulänglich wäre, Realität zu liefern und zu sichern. Es gilt nunmehr, den besonderen Geltungswert auszuzeichnen, der der Kategorie der Realität und damit dem Grundsatz innewohnt. Nicht allein die  Sicherung  dessen, was man unter Realität der Dinge versteht, obliegt einer besonderen Denkbestimmung; sondern die Fordrung der Realität selbst muß in einer  besonderen  Leistung des  Denkens  dargereicht werden. Wenn es zu irgendeinem Grundwert der Erkenntnis einer besonderen Veranstaltung bedarf, so zu diesem.

Es ist verwunderlich, wie diese Frage, deren Erledigung doch beim Stand der mathematischen Naturwissenschaft unserer Tage eine leichte und unzweifelhafte sein müßte, dennoch  sachlich  wie  historisch  im Unklaren liegt. Die Objektivität der Dinge beruth in erster Instanz auf ihrer geometrischen Idealität und Idealisierbarkit. Wenn es keine Kegelschnitte gäbe, so wären die KEPLERschen Planetenbahnen nicht einzurichten, und die Planeten selbst aus und in denselben nicht zu objektivieren. So bildet die reine, die mathematische Anschauung das  Fundament allen Naturerkennens.  Diese Trivialität bedeutet die transzendentale Ästhetik.

29. Descartes' Substanz der Ausdehnung. -  Indessen besitzen wir diese erkenntniskritische Wahrheit nur was die systematische Begründung betrifft erst seit KANT. Denn die ganze neuere Philosophie bleibt ein versiegeltes Buch von Redensarten, wenn man diesen roten Faden nicht auch in seinen blaßeren Phasen zu erkennen vermag. DESCARTES ist nicht dadurch etwa der Begründer der neueren Philosophie, daß er allein diesen Gedanken hätte, sondern dadurch, daß er denselben schärfer und gewaltiger bearbeitet, als GASSENDI und HOBBES. Die Bewältigung durch diesen modernen Gedanken, die er selbst erleidet, zeigt sich in der Vergewaltigung, die er an demselben begeht: die erstere erklärt somit auch die letztere. Es ist daher nicht nur unhistorisch, wenn man, wie DÜHRING dies tut, DESCARTES' fundamentale Leistung für die Erkenntniskritik geringschätzig beurteilt; es ist zugleich eine systematische Unklarheit, die sich in einem solchen Urteil verrät, wie sie folgerecht auch KANT gegenüber zum Ausdruck kommt - und im eigenen System. DESCARTES' Substanzialisierung der Ausdehnung begreifen wir historisch und würdigen wir sachlich als den Keim des Kantischen Grundgedankens: Begriffe ohne Anschauung sind leer. Was Gegenstand der Erfahrung werden soll, muß zu allernächst den  Idealgebilden der Geometrie  entsprechen, in denselben darstellbar sein.

Aber darum bleiben wir im cartesischen Taumel nicht befangen, in seinem Schwanken zwischen dem Zubehör der Empfindung und den reinen Momenten des Denkens. Trotz aller Ansätze und Dispositionen, deren urkundliche Untersuchung und projizierende Interpretation eine so reizende und lohnende Aufgabe der historisch sich orientierenden erkenntniskritischen Arbeit ist, ist DESCARTES' Bestimmung der Substanzen, auch der des Denkens, durchaus unzulänglich und zweideutig geblieben. Von aller mangelnden Sicherheit in der  Stellung des Problems  abgesehen, bildet schon die  Gleichsetzung von Ausdehnung und Materie  ein schwerverbesserliches Hemmnis, selbst wenn hinterher durch das Denken der Begriff der Materie gründlicher bestimmt wird. Für diesen Fortgang in der Konstituierung gedanklicher  Voraussetzungen  zur Begründung des Naturerkennens bedarf es der den  Kraftbegriff  konstituierenden Bedingungen. Unter diesen aber sind die Begriff der  Substanz  und der  Kausalität  die allgemein zugestandenen; aber nicht schlechthin als Begriffe, sondern auf die Anschauung bezogen und beschränkt. Und diese Einschränkung fehlt bei DESCARTES, während die Beziehung durchsichtig angestrebt wird.

30. Die Abstraktion der Kategorie und der Grundsatz. -  Es kommt also darauf an, daß der Begriff  als Denkmittel isoliert werde, umso lebendiger mit den Mitteln der Anschauung vereinbart werden zu können.  Und dazu bedarf es der  Kategorie der Realität.  Schon bei der Substanz zeigt sich dieses Verlangen und der lallende Ausdruck derselben bei LOCKE, wie er das Fundament der Substanz mit dem  tritos anthropos  [dritten Menschen / Idee der Idee - wp] von der Schildkröte und dem Elefanten verspottet. Ganz besonders aber tritt dieser Mangel an der Kausalität zutage, sie es indem man sie a priori annimmt, nicht aber einen ihr entsprechenden Raum, sei es indem man sie direkt und unverhüllt mit  sinnlichem  Dasein ausstattet, als Einzel- oder Gesamtexistenz eines Kraftapparates aufrichtet oder fragwürdig hinstellt. Will man den Aberglauben des  Influxus physicus  [Wechselwirkung zwischen Leib und Seele - wp] mit der Wurzel ausrotten, so muß man die Notwendigkeit einsehen,  zunächst  das  Denkelement  als solches zu isolieren, seine besondere Leistung für das Erkennen auszuzeichnen, um es nicht vorzeitig durch die erforderliche Rücksicht auf die Anschauung trüben und verschränken zu lassen. Darauf erst kann der Rücksicht auf die Anschauung das Wort verstattet und zu fruchtbarer Verständigung gegeben werden: zum Zweck der  Grundsätze,  in denen Anschauung und Denken sich verbinden.

Vielleicht ist nun gerade an der mangelhaften Durchdringung von der Bedeutung der Grundsätze der Umstand schuld, daß man die  dynamischen  Kategorien lediglich mit dem  extensiven Größenbegriffe  zu vereinbaren bestrebt war, und nicht bemerkte, daß bei alledem noch immer  ein wichtiger Stein fehle.  Wenn Substanz und Kausalität als  Grundsätze  gedacht werden, so kann es nicht genügen, sie mit den  extensiven  Zahlgrößen in Verbindung zu setzen (siehe Nr. 27) diese das Ideale der Zahlen an sich tragen. Daher blieb man bei der Vorstellung einer kompakten Solidität in der Substanz selber stehen, anstatt diesem Postulat durch die Auszeichnung eines besonderen  Begriffs  zu genügen. Dieses Desiderat soll die Kategorie und nach ihrer Vereinbarung mit der Anschauung der Grundsatz der Realität befriedigen.

31. Verhältnis von Substanz und Kausalität zur Realität. -  In der Tat setzen Substanz und Kausalität die Realität voraus. Denn Substanz und Kausalität sind  Verhältnisbegriffe.  Zu einem  B  ist  A  die Substanz, zwischen  C  und  D  gibt es Kausalität. Wenn  B  und  A, C  und  D  gedacht werden, so können zwischen ihnen diese beiden Verhältnisse obwalten, zu denen noch ein drittes hinzutreten kann. Daß dagegen  B  und  A,  oder  B  oder  A  gegeben seien, oder gedacht werden müssen, das liegt  keineswegs  im  Grundsatz der Analogien.  Diese wichtigen Grundlagen schweben also sämtliche in der Luft, auch wenn man sie mit Raum und Zeit verbindet; denn alsdann bleiben sie immer nur in der Schwebe mathematischer Gestalten. Auch genügt es nicht etwa, sie mit der  extensiven  Zahlgröße zu füllen; denn auch diese vermag nur Strecken abzugrenzen, die in der wechselnden Vergleichung hängen. Und doch hält man jene in der Verbindung mit der Anschauung haltlosen Grundsätze für die Stützen des  Naturerkennens,  für zureichend, um  geometrische und Zahlengebilde zu physischen Körpern zu erfüllen.  Vielmehr bedarf es der ausdrücklichen und selbständigen Setzung des  A  und des  B,  um ein Verhältnis unter ihnen gliedern zu können. Und diese Setzung muß in einem besonderen Grundsatz geführt werden.  Dieses Fundament liefert der Grundsatz der Realität. 

Wie konnte man ernsthaft glauben, daß die logische Tatsache des  bejahenden Urteils  für KANT hätte die Veranlassung bieten können, die Realität zur synthetischen Einheit desselben zu machen, neben welcher die Negation als koordinierter Grundbegriff figuriert - während auf diese logische Trivialität der Grundsatz der  Antizipationen  gepfropft wird, durch den die Wahrnehmungen garantiert werden! Hätte nicht dieser Grundsatz mit dem Schwergewicht des Realen, das er herbeibringt, jene Realität aus der logischen Bejahung in eine positivere Situation versetzen sollen?

Indessen wurde diese Einsicht wiederum gehemmt durch die äußerliche, gar nicht mehr logische, sondern schlechtweg grammatische Bedeutung, die man der  Limitation  einräumte, und darum den innersten Zusammenhang derselben mit der Realität nicht einsah. Es ist, wie wir nunmehr von der anderen Seite bemerken, der  Mangel einer erkenntniskritischen Begründung des Differentialbegriffs zugleich der Grund für die Lücke,  die der Grundbegriff der Realität in der Reihe der Kategorien bildet. Er scheint im synthetischen und die Erfahrung begründenden Sinne überflüssig zu sein, weil entweder durch Substanz und Kausalität, oder durch die Kategorie des  Daseins  ersetzt; daher beläßt man ihn lediglich für die logische Funktion des Jasagens in Wirksamkeit.
LITERATUR - Hermann Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte [Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik] Berlin 1883
    Anmerkungen
    1) LAZARE CARNOT, Reflexions sur la Métaphysique du Calcul Infinitesimal, 1797, § 42
    2) KANT an TIEFTRUNK vom 5. April 1798, Werke XI, ed. ROSENKRANZ, Seite 190
    3) Vgl. APELT, Epochen der Geschichte der Menschheit, Bd. 1, Seite 257
    4) KARL IMMANUEL GERHARDT, Die Entdeckung der höhern Analysis, 1855, Seite 93; vgl. Seite 62
    5) RUDOLF LIPSCHITZ, Lehrbuch der Analysis, Bd. 1, Seite 1