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FRITZ MAUTHNER
Stimmung und Wortbildung
I -24

"Gute Stimmung ist gute Gedankenklarheit, Heiterkeit ist Klarheit, wie am Himmel."

"Stimmung" ist ein vieldeutiges Wort. Zwischen der Stimmung einer Stimmgabel, die sich mathematisch auf 870 Schwingungen in der Sekunde für das eingestrichene  a  angeben läßt, und zwischen der sogenannten Stimmung einer Landschaft, die sich weder beschreiben noch erklären läßt, liegen zahlreiche Schattierungen des Begriffs. Seine Herkunft ist ebenso deutlich, wie die des zu Grunde liegenden "Stimme" undeutlich ist. Es kommt von der Musik her. Früher, mehr intransitiv, "stimmten" die Saiten, wenn sie den richtigen Klang gaben. (Heute noch: "das stimmt".) Später stimmte man, transitiv, die Saiten auf den richtigen Klang. Dann spielte man, metaphorisch, auf der Seele; man stimmte sie lustig, traurig u.s.w. Jedes Gemeingefühl der "Seele" wurde zu einer Stimmung.

Da für uns die Seele aber nichts weiter geworden ist oder noch werden wird, als die Summe unserer bewußten und und größte Grad der Langsamkeit, kann uns traurig, verzweifelt, wahnsinnig machen. Es ist bekannt, daß ein mäßiger Alkoholgenuß eine heitere Stimmung und zugleich eine lebhaftere (nicht eine richtigere, aber darauf kommt es der Heiterkeit nicht an), eine raschere Geistesarbeit zur Folge habe; zugleich, weil eines nur ein anderes Wort für das andere ist. Es ist sogar beobachtet worden, daß Melancholiker bei leichteren Fieberanfällen heiterer wurden. Gute Stimmung ist gute Gedankenklarheit, Heiterkeit ist Klarheit, wie am Himmel.

Gute Arbeitsstimmung ist also eine leichtere Erregbarkeit unseres Gedächtnisses, und da dieses nichts ist als unser Sprachschatz, so können wir diese Stimmung als die bessere oder schlechtere Bereitschaft unseres Sprachschatzes erklären. Wer ein Gespräch am raschesten mobil zu machen weiß, gilt für einen Mann von bester Stimmung.

Um zu erfahren, daß auch die andere Stimmung, d. h. der Grad unserer Vergnügtheit etwas Ähnliches sei, wollen wir als Übergang die mechanische Arbeitsstimmung ansehen. Auch die Sängerin, auch der Klavierspieler, auch der Glasschleifer, auch der abgerichtete Pudel sind nicht immer gleicher Stimmung. Vieles gelingt in guter Stimmung, was in schlechter mißlingt. Wie nennen wir das? Wir müssen sagen, daß das eine Mal die Nervenbahnen der Gedächtnisse oder die Gedächtnisbahnen glatt durchfahren werden, das andere Mal mit Hemmungen. Die Sängerin, der Glasschleifer, der abgerichtete Pudel sind in guter Arbeitsstimmung, wenn ihr wortloser Gedächtnisschatz in guter Bereitschaft ist, wenn der ganze ungeheuer komplizierte Apparat (die Feinheiten in den Fingern des Glasschleifers sind nicht geringer als im Kehlkopf der Sängerin) unbewußt oder doch regelmäßig, d.h. nach der geübten Weise, arbeitet.

Nun kann man, ohne den Worten irgendwelche Gewalt anzutun, sagen, daß unsere allgemeine Stimmung, unser Gemeingefühl davon abhängt, ob die physiologischen Arbeiten unseres Körpers (besonders Verdauung und Atmung samt dem Blutkreislauf) glatt und ohne Störung verlaufen, ob also die Gedächtnisse der sympathischen Nervenbahnen, ob unsere physiologischen Gedächtnisse in tadelloser Bereitschaft sind. Wir sind vergnügt, in guter Stimmung, wenn das alles ganz unbewußt funktioniert, wenn keine Hemmung diese physiologischen Vorgänge zum Bewußtsein bringt.

Wem also an hübschen, zusammenfassenden Definitionen etwas gelegen ist, der darf sagen: Unsere (körperliche oder geistige) Stimmung ist der Grad der Bereitschaft unserer (unbewußten oder bewußten) Gedächtnisse. Die allgemeine körperliche Stimmung verläuft darum, solange sie gut ist, wortlos und greift erst in bösen Stunden - oder aber in der schmerzlichen Wollust, wie in deren Heuchelei - zum Wort oder doch zur Interjektion, als zu den Zeichen der Gedächtnishemmung oder des Schmerzes oder des Bewußtseins. Die geistige Arbeitsstimmung ist der Grad der Bereitschaft des Wortschatzes und kann oft durch Talent oder Fleiß, durch Alkohol oder durch fixe Ideen vorübergehend gehoben werden.

Wer nicht die Notwendigkeit, d.h. Bedingtheit alles Geschehens vor dem Denken will Halt machen lassen, der wird nicht leugnen, daß das menschliche Denken, namentlich das unbewußte oder bewußte Sinnen, Ersinnen, Nachdenken und Grübeln durchaus abhängig ist von den scheinbar frei aufsteigenden Assoziationen der Vorstellungen oder Begriffe. (Das erste für die Dichter näher, das zweite für die Denker.) Nun hat die Psychologie einige Gesetze für die Assoziationen von Vorstellungen ermittelt; Gesetze, welche leider an das einzige Gesetz der Nürnberger erinnern, die keinen hängen, sie hätten es denn vor. Der menschliche Wissensdrang will immer seine Gesetzmäßigkeit an Stelle der erkannten Notwendigkeit setzen.

Aber eines ist bisher vergessen worden, daß die Anfangsvorstellung beim begrifflichen Denken fast immer von einem Worte ausgeht, oder sich um des lieben Friedens willen rasch in ein Wort wandelt, daß dieses Wort einer bestimmten Sprache angehört und daß das Spiel der Assoziationen nun im Rahmen dieser individuellen Sprache zu Ende geführt werden muß. Es gibt last kein Wort im Französischen, welches genau die gleiche Assoziationssphäre (ein glückliches Wort LIEBMANNs) hätte, wie das entsprechende deutsche Wort. Man denke an die Assoziationssphäre von  empereur,  an die von Kaiser,  amour  und Liebe,  monde  und Welt,  ville  und Stadt. Jedes Wörterbuch ist eine Sammlung von Beispielen. Ebenso rufen die Worte in den verschiedenen Dialekten derselben Sprache verschiedene Assoziationen hervor. "Berg" und "Schiff" sind für den Norddeutschen Anfangsglieder anderer Gedankenketten als für den Süddeutschen, schon dem Dialekt nach. Und da schließlich jede Stadt, darin jeder Stand, da wieder jede Familie und in der Familie jeder einzelne seine individuelle Sprache hat, so bewegt sich das Denken keines Menschen genau in den Bahnen irgend eines anderen Menschen. Äußerlich läßt es sich dann á peu près über einen Leisten schlagen; genau stimmt es so wenig wie Übersetzung und Original.

Wollte ich mich "systematisch" auf früher Gesagtes berufen, so könnte ich die Subjektivität alles höheren, begrifflichen, wertvolleren Denkens einfach genug beweisen. Wir haben ja gesehen, daß es Sprache an sich nicht gibt, daß es nur Individualsprachen gibt. Da nun das begriffliche Denken seine Assoziationen stets an Worte bindet, also an die Worte der Individualsprache des Denkenden, so muß der Assoziationsverlauf in potenzierter Weise individuell sein, subjektiv. Aber die Assoziationen, welche allem Denken das Material liefern, sind nicht immer begrifflicher Art, werden uns nicht immer als Sprache bewußt, sind nicht immer apperzeptive Assoziationen. Es wäre also möglich, daß wir die Assoziationen in objektive und in subjektive einzuteilen hätten. Das leise Lachen, das mir die Wortzusammenstellung "objektive Assoziationen" sofort erweckt, bin ich außer stande, dem Leser assoziativ mitzuteilen, wenn nicht eine ähnliche Seelensituation bei ihm sofort ein ähnliches leises Lachen auslöst.

Kein Gebiet der Psychologie ist von alters her so sauber ausgearbeitet worden, wie die Lehre von der Assoziation der Gedanken. Selbst noch der kleinste Katechismus der Psychologie weiß davon zu erzählen, wie eine Vorstellung immer durch eine andere hervorgerufen wird, und wie diese sogenannten Ideenassoziationen bald auf die Ähnlichkeit der Vorstellungen, bald auf den äußeren Zusammenhang in Raum und Zeit zurückzuführen seien. WUNDT (Phys. Ps. 11, 376) hat die Assoziationen schärfer in weitere Unterabteilungen geordnet, zuerst in äußere und innere Assoziationen, die äußeren wieder in die der gleichzeitigen Vorstellungen jeder Art und in die der sukzessiven Schall- und Gesichtsvorstellungen; die inneren Assoziationen hat er nach den Kategorien des Begriffs, der Ähnlichkeit und der Kausalität in ein System zu bringen gesucht. Diese "Ordnung" unbeobachteter Phänomene ist seitdem von den Schülern WUNDTs oft zerbrochen, geleimt, wieder zerbrochen und wieder geleimt worden. Lesenswert sind die Ausführungen von ZIEHEN, MÜNSTERBERG, HELLPACH und JERUSALEM. Eine gründliche Revision der psychologischen Sprache fehlt besonders auf diesem Gebiete.

Als letzte Unterlage der Gedankenassoziation muß die Wissenschaft die Übung der Nervenbahnen zugeben. Wenn die Geleise oder Spuren in den Nervenbahnen auch für unsere Instrumente nicht nachweisbar sind, ja selbst wenn man das Wort  Spur  vermeiden möchte, so muß man doch glauben, daß die verhältnismäßig leichtere Verbindung miteinander eingeübter Vorstellungen eine Veränderung der Nervenbahn voraussetze und verstärke, sowie sich die Übung des Athletenarms oder der Klavierspielerhand ganz deutlich im Wachstum des Muskels darstelle. Diese Zurückführung der Gedankenassoziation auf Nervenbahnübungen, also auf die eigentlichen Erzeuger unserer Worte, sollte leicht darauf schließen lassen, daß die Gedankenassoziation nichts weiter sein werde als eine andere Bezeichnung für die menschliche Sprache.

Und sehen wir uns irgend eine Tafel der Assoziationen daraufhin an, so werden wir die Entdeckung machen, daß sich alle Formen der Assoziationen zurückführen lassen auf Vergleichungen oder Ähnlichkeiten, aus denen wir Begriffe oder Worte bilden, und auf solche, die wir aus den Begriffen oder Worten bilden. Die ersten, die begriffbildenden Assoziationen nennen wir in ihrer Hauptmasse (den reinen Gedächtniskram ausgenommen) ganz gut die äußeren Assoziationen; die Geschöpfe unserer Worte nennen wir ganz schlecht die inneren Assoziationen. Wir müssen zuerst die Kategorien der über- und untergeordneten Begriffe, der Ähnlichkeit und des Gegensatzes, des Zwecks und der Kausalität gebildet haben, bevor mir uns einbilden können, derartige Spiele der Worte in uns vorzufinden. Und weil Psychologie nicht Erkenntnistheorie ist, darum ist es für die Assoziations-, ebenso wie für die Apperzeptions-Psychologie nicht erforderlich, zu wissen, was Subsumtion, was Ähnlichkeit und Gegensatz, was Zweck und Kausalität eigentlich sei. Der Streit darüber, ob zuerst Psychologie oder Philosophie zu treiben sei, wird doch nicht am Ende lächerlich sein für die geistige Wirklichkeit?

Das Urphänomen ist also das der Wortbildung. Wir vergleichen zwei Vorstellungen und üben uns für die ähnlichen Lautzeichen ein. Die Verbindung tritt uns hier oft als eine Art Nachbarschaft (in Raum oder Zeit) entgegen, und das, was vergleicht, ist unser Gedächtnis, das uns sonst als die letzte Wirklichkeit des mythischen Bewußtseins erschien, hier aber sofort selbst wieder mythologisches Gewand annimmt. Man kann sagen: Bewußtseinselemente (Vorstellungen, Worte) kommen einander nahe, wenn sie einander nahe waren.

So zerfließt jeder Begriff bei der Berührung, und wenn hinter dem Gedächtnis das Ich sich nun zu Worte melden will, so lassen wir uns nicht mehr täuschen. Wir kennen kein dauerndes Ich, wir kennen nur Momente des Lebensdranges und das Gedächtnis jedes einzelnen Moments. Und wie dieser Wille in uns (der Mythus Wille ist natürlich nicht besser als ein anderer) aus dem gewaltigen Gesichtsfeld seiner Netzhaut einen Punkt vor den benachbarten auswählt, weiter sein Interesse gereizt hat, und ihn auf die Stelle des deutlichsten Sehens einstellt, so wählt er unter den Worten, die die Gedankenassoziation mit kupplerischer Gefälligkeit darbietet, nach seiner Neigung eine aus und wirft ihr das Taschentuch zu. So entscheidet auch hier unser Leben über unser Sprechen und Denken, und nicht umgekehrt.

Es ist eine oft beobachtete Tatsache, daß von zwei Vorstellungen oder Anschauungen, Begriffen oder Worten, die miteinander assoziiert sind, das erste für das zweite nicht immer ebenso zugkräftig, nicht ebenso leitungsfähig ist, wie das zweite für das erste. Das könnte anfangs überraschen. Denn sonst ist ja die Entfernung von A nach B nicht größer oder kleiner als die von B nach A.

Schon der Vergleich aber mit der Anziehung zweier Körper hätte die Überraschung mildern können. Die Anziehungskräfte zwischen Erde und Mond haben ihre Gesetze, darum ist die Zugkraft des Mondes nicht gleich der Zugkraft der Erde.

Aber bei den Gedankenassoziationen liegt der Fall noch einfacher. Es handelt sich bei ihnen durchaus um Gedächtniserscheinungen, fast immer um die Erinnerung und Geläufigkeit von Wortbahnen. Um die Erinnerung an Bahnen; also nicht um Strecken, sondern um Kenntnis der Strecken. Man braucht bloß daran gemahnt zu werden, daß man einen Weg in der einen Richtung recht genau kennen kann, ohne ihn in entgegengesetzter Richtung so leicht zu finden; wenn ich gewohnt bin (aus Bequemlichkeit gewohnt bin), den Spaziergang von Berlin nach Schlachtensee zu Fuß zu machen, zurück aber jedesmal die Eisenbahn zu benutzen, so werde ich schließlich den Hinweg gedankenlos gehen und ihn selbst bei Nacht finden, werde aber den Rückweg, wenn ich ihn endlich einmal zu Fuß machen will, mühsam suchen müssen. Ebenso sagen wir das Abc vorwärts ganz geläufig auf (wir üben es ja täglich in dieser Richtung beim Nachschlagen alphabetisch geordneter Reihen), stottern aber, wenn wir es rückwärts aufsagen sollen. Es hat ja auch keinen Zweck, es rückwärts zu lernen, sagt man.

Es hat keinen Zweck. Und der Zweck bestimmt nicht allein das absichtliche Lernen, sondern eben erst recht das unabsichtliche Lernen durch die Gewohnheit.

Wenn wir eine fremde Sprache lernen, so ist unser Interesse viel häufiger, sie zu verstehen als sie zu sprechen; bei uns anderen wenigstens, die wir mehr lesen als sprechen. Daher bildet sich die Gewohnheit, zum fremden Wort das der Muttersprache zu assoziieren oder gar das Objekt selbst, schneller als die andere Bahngewohnheit, vom deutschen Worte aus oder gar vom Objekt aus das fremde Wort zu assoziieren. Das Interesse also bestimmt die Gewohnheit und diese sodann die Richtungskraft der Assoziation.

Wie untergeordnet das Amt des Bewußtseins oder des bewußten Gedächtnisses dabei ist, kann man daraus ersehen, daß auch die Bahnen der unbewußten Gewohnheiten nicht nach allen Richtungen gleich schnell arbeiten. Ich bin wenigstens so frei zu glauben, daß es mit dem sofortigen Urindrang nach Wassertrinken (während Urinieren keinen Durst erweckt) ganz ähnliche Bewandtnis haben mag, wie mit der Geläufigkeit des Abc nach den zwei Richtungen. Nur daß wir in diesem physiologischen Beispiele wohl das Interesse nicht kennen, das die eine Bahnrichtung vor der anderen geläufiger gemacht hat.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906