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FRITZ MAUTHNER
Sprachkritik - Skepsis - Mystik
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"Gewiß, die Vorstellung eines bleibenden Ich ist nicht mehr zu retten, wie die Vorstellung eines seienden Gottes nicht mehr zu retten ist."

Man fragt: Was ist die Welt noch, außer dem, daß sie unsere Vorstellung ist? Ein einziger Philosoph war so gläubig, daß er sich bei dem Gedanken des Idealismus beruhigte, die Welt sei nur unsere Vorstellung: GEORGE BERKELEY; aber er belog sich selbst, weil die Welt für ihn doch wieder etwas war, nämlich Gott. Und so belogen sie sich selbst alle, die das zu benennen suchten, das hinter der Vorstellung steckte. KANT nannte es überaus vorsichtig  Ding-ansich,  SCHOPENHAUER mit scheinbar unwiderleglicher Selbstbeobachtung den  Willen,  immer war es eine Gottheit. Ich rühme mich, daß die "Kritik der Sprache" allein die Frage nach dem  hinter der Vorstellung  gar nicht erst stellt; daß ich mich beschieden habe, frei von dem Selbstbetrug, der das hinter der Vorstellung auch noch benennen möchte. Es sind nur die Tiere und die Pflanzen, die in ihrer stummen Naturandacht entsagt haben, sich eins wissen mit der Welt, die frömmer sind als die redenden Menschen, weil ihnen die Schlange nicht in den Schwanz beißt, weil sie die beiden Sprachschnitzer der Menschen gar nicht mitmachen können: den Träger der Vorstellungen, das  Ich,  als eine neue Vorstellung anzusehen, und das ganze der Vorstellungen - ihre Ursache und ihre Sache zugleich - zu vergotten.

Die Kritik der Sprache allein hat die kleine Wahrheit erkannt, die ebenso schlicht, wie erschöpfend ist: die Welt ist nur einmal da. Es ist töricht, in der Sprache der Vorstellungen nach der Gottheit hinter der Vorstellung zu fragen.  Gottheit  ist ein sinnleeres Wort. Nur ein lebendiges Symbol für einen poetischen Sprachgebrauch. Nicht lebendiger, als Teufel, Hexe, Fatum, Sterngeister; nicht einmal als Fiktion brauchbar, wie für die Wissenschaft Äther oder Ursache. Die Pflanzen und die Tiere sind von jeher unbewußt so weise gewesen wie der weise HUME; sie verstanden den Begriff Ursache nicht und kamen darum auch nicht auf die kindliche Wortspielerei des kosmologischen Gottesbeweises. Sie brauchten ihn gar nicht erst zu widerlegen, wie es der erstaunliche Kant tun mußte, weil er eben auch ein Mensch war.

Ein Beispiel mag uns zeigen, wie groß dieses sprachliche Elend des kosmologischen Beweises war. Ein Idiot im ursprünglichen Sinne, der gemeine Mann also, hört, daß der neu eingerichtete Eisenbahnzug von hundert Pferdekräften oder Pferdestärken bewegt werde; er weiß nichts davon, daß ein PS ein veralteter Ausdruck für die Größe von fünfundsiebzig Sekundenmeterkilogramm und nur eine ungefähre Rechnungseinheit ist; er hält sich gläubig an das Wort und weiß jetzt, daß in der Maschine hundert Pferde verborgen sind. Wie der Gott in dem Schlusse des kosmologischen Beweises. Wer einen kleinlichen Anstoß daran nimmt, daß in meinem Beispiel von Pferdestärken die Rede ist und nicht von Pferden, der wähle für den kosmologischen Beweis den vornehmeren Ausdruck  Gottheit  anstatt des konkreteren  Gott.  Was wir jetzt als eine bloße Endsilbe empfinden, die Silbe  heit,  war auch einmal so ein dingliches Wort und bezeichnete so etwas wie  Stärke:  einen Zustand, eine Beschaffenheit, eine Person. Der Fromme weiß, daß sich hinter der letzten Ursache eine Gottheit verbirgt, eine Person mit göttlichen Eigenschaften; der Idiot weiß, daß sich hinter der Dampfmaschine hundert Pferde verbergen, Pferdestärken mit pferdmäßigen Eigenschaften.

Grab von Mauthner und Hedwig Straub in Meersburg
Grab von Fritz Mauthner und Hedwig Mauthner-Straub in Meersburg (Oktober 2000)
Die Anwendung der Sprachkritik auf die Physik ist darum nicht minder nötig, als eine auf Theologie; nur daß in den Naturwissenschaften eine Verbesserung der Terminologie möglich ist, eine Säuberung theologischer Begriffe aber so unmöglich, wie die nützliche Bedeutung eines Traums. Mit dieser Einsicht kommt natürlich auch die andere, zu einem ungeschickten Lächeln zwingend, daß es doch nichts ist mit dem bloßen Wortstreit, als welchen ich oben den Gegensatz zwischen Naturerkenntnis und Theologie, zwischen Atheismus und Frömmigkeit - für einen Augenblick - hinzustellen suchte. Für den freiesten Standpunkt muß ja doch die Geschichte Gottes mit einer Auflösung des Gottesbegriffs enden.

Was noch übrig bleibt, nach der vernunftgemäßen Erledigung aller und jeder äußeren Religion, das ist für uns, die wir letzten Fragen nicht ausweichen und deren Beantwortung von den nächsten bis vorletzten Wissenschaften nicht erwarten, das Weltgefühl, das Einsgefühl der gottlosen Mystik, das man gern ein "religiöses" Gefühl nennen mag, weil ein Gefühl letztlich nur geschwiegen werden kann, nicht in harten Worten ausgedrückt. Diese Rettung der ewigen Sehnsucht in die uralte Mystik, bei bewußter Preisgabe des Gottesbegriffs, ist nur für das Abendland neu, ist für das Morgenland Urväterweisheit. Abschiedmüde will ich wieder die Erinnerung an Tao wecken, das Rätselwort, das vor 2500 Jahren von dem chinesischen Weisen LAOTSE geprägt oder gebraucht wurde, um die tiefste Selbstbesinnung des Ostens, das Einsgefühl mit einer Welt ohne Gott in einem Menschenlaute zusammenzufassen.

Wir wissen fast nichts von dem Leben des Laotse, wir haben nur sein Buch Tao-te-king. Einen Weg, den der Weise eher geht, als zeigt. "Tao" ist zugleich der Weg zum letzten Ziele und der erste Grund des Weges und des Zieles; "Ursache" wäre schon zu abendländisch, zu wissenschaftlich, zu klein, zu arm menschlich. Die Unpersönlichkeit, die Ungöttlichkeit des Tao erhellt schon daraus, daß wir nicht wissen, ob wir  der  Tao oder  das  Tao sagen sollen;  das  Gott würde die Vorstellung vielleicht nicht übel wiedergeben.

Nun stehen im vierzehnten Kapitel des Tao-te-king über das Tao die Sätze, die mich allein schon berechtigen würden, den "alten Weisen" (das sollen die Zeichen Laotses bedeuten) als einen Bekenner des Agnostizismus oder einer gottlosen Mystik vertraulich anzusprechen: "Du suchst das Tao und siehst es nicht; es ist farblos. Du horchst und du hörst es nicht; es ist stimmlos. Du willst es berühren und erreichst es nicht; es ist körperlos (5). Fast noch hübscher klingt der Verzicht bei einem Schüler von Laotse, bei Tschuangtse (6): "Tatenlos weiß Tao. Es kann nicht gesagt werden. Was gesagt werden kann, ist nicht Tao. Was den Gestalten Gestalt gibt, ist selbst gestaltlos; also ist Tao namenlos. Wer einem antwortet, der nach Tao fragt, kennt Tao nicht."

Tao ist namenlos, ist eigenschaftslos, ist ohne aussagbaren Begriffsinhalt. Man könnte  das Tao  durch eine neutrale Silbe ersetzen, durch  das.  Und weil ich doch der Erzketzer bin, der Welterkenntnis durch Menschensprache nicht für möglich hält, so kann man mich kaum mißverstehen, wenn ich nun hinzufüge: mit so etwas wie  das,  wofür auch bei Menschen ein bloßer Blick eintreten kann, wäre die Weltanschauung und die Theologie der Pflanzen wiederzugeben.

Ist dies nun aller Menschenweisheit letzter Schluß: daß wir von der letzten Ursache der Natur und unseres Lebens innerhalb dieser Natur nichts kennen als Tao, daß wir nur "das" lallen dürfen auf alle Fragen nach dem Göttlichen, dann haben wir uns vielleicht doch über das substantivische Bild der Welt erhoben, über die karge Einsicht, der Gottbegriff gehöre eben zu der Scheinwelt, der Kunstwelt, der Nichtwelt der Substantive. Das lallelnde "das" kann ebensogut oder schlecht den persönlichen Gott bezeichnen wollen wie seine Eigenschaften oder wie sein Wirken. Genauso gut oder ebenso schlecht. Steht es nicht ebenso wie um den hohen Begriff "Gott" und um den niedrigen Begriff  das  auch um eines der meistgebrauchten und meistmißbrauchten Sprachworte? Können wir leugnen, daß der Ichbegriff "unrettbar" ist seit HUME und MACH, weil das Ich, das der substantivischen Welt angehört, doch wieder - wie Gott und Feuer und  das  - leicht und gern in die adjektivische und in die verbale Welt hinüberspielt?

So wie  Ich  gewöhnlich gebraucht wird, steht es freilich, als Pronomen, als Vertreter von höchst substantivischen Personen. Als Träger von adjektivischen Empfindungen und verbalen Tätigkeiten. Dieses Ich ist (nach HUME) ein Bündel von Vorstellungen (und von Wollungen). Wenn aber dieses selbe  Ich  traumlos schläft? Der traumlos schlafende Mensch besitzt ja kein Ich mehr, ist kein Träger mehr, weder von adjektivischen Empfindungen noch von verbalem Tun oder Wollen. Der traumlos schlafende Mensch (in dem also auch das bewußte Gedächtnis nicht mehr arbeitet) ist nur noch in der adjektivischen Welt da (mit seinen Eigenschaften, wie ein schlafender Apfel) und für die verbale Welt (mit den vegetativen Tätigkeiten seines Herzens, seiner Lunge usw.)

Gewiß, die Vorstellung eines bleibenden Ich ist nicht mehr zu retten, wie die Vorstellung eines seienden Gottes nicht mehr zu retten ist. Die agnostische Mystik, zu welcher ich hinführe und die beileibe nichts zu schaffen hat mit irgendeiner Kirche oder sonstiger Zaubermagie, die Mystik oder das Bekenntnis zu einer Mythologie aller Wissenschaft, ist ganz sicher gottlos, des Gottes ledig. Wie das Denken und das Wollen dieser Jahre ichlos geworden ist, ledig des Ichwahns. Und doch habe ich den Gegnern der bloßen Negation, wenn sie nur nicht zu einer Kirche zurückstreben, eine Möglichkeit zu bieten, eine biologische Möglichkeit, in dieser kalten und dünnen Höhenluft zu atmen.

Das  Ich,  der  Wille, , das  Denken,  die  Seele  sind nicht, gewiß nicht. Sie sind nicht einmal mehr notwendige Fiktionen für eine Psychologie der Zukunft. Sie sind aber, was ich einmal normale Täuschungen genannt habe; gesunde Lebenslügen, unvermeidliche, nur mit dem Leben selbst auszulöschende Illusionen. Ich glaube fast - und ich fürchte es nicht -, auch der Gottesbegriff, von dem Unrat der Theologen gereinigt, ist so eine normale Täuschung, eine gesunde Lebenslüge, eine unvermeidliche, lebenslange Illusion.

Nur hüte sich der Leser, dem ich in dieser Stunde den ichlosen, den traumlosen Schlaf wünsche - auch wenn er wach ist -, davor, in diese Lebensillusionen etwas anderes, etwas "Positiveres" hineinzudenken, als ich im Sinne habe. Illusion ist niemals Wirklichkeit. Der handelnde Mensch mag eine Illusion als eine Fiktion benützen ("als ob es Götter gebe"), der dichtende Mensch mage eine Illusion zu gestalten suchen (als sein  Ideal);  beide dürfen an ihre Illusionen nicht glauben, dürfen nicht Ja zu ihnen sagen.

Grabinschrift vermutlich eine Verfügung von Ortspfarrer Wilhelm Restle
Grabinschrift "Vom Menschsein erlöst" (vermutlich eine Idee vom befreundeten Ortspfarrer Wilhelm Restle)
Sprachkritik war mein erstes und ist mein letztes Wort. Es gab in den Monaten der Umarbeitung meiner "Beiträge zu einer Kritik der Sprache" hochmütige Stunden, in denen ich die Macht fühlte, erdenfeste und erdennahe Mystik mit himmelheiterer und himmelferner Skepsis zu verbinden, in denen ich meine Aufgabe gelöst zu haben glaubte: Unmöglichkeit von menschlicher Welterkenntnis zu lehren. Denn unsere vielgerühmte Beherrschung der Natur ist nur Ausbeutung der Natur ohne Verständnis. Wie das Altertum seine Sklaven ausbeutete, ohne das Menschliche in ihnen zu erkennen. Ein Lehrer müßte kommen, um Achtung vor dem wimmernden Menschen zu predigen. Unser Geständnis des Nichtwissens wird Achtung vor der sprachlosen Natur lehren.

Es gab demütige Stunden, in denen alle aufreibende Arbeit an sprachkritischen Aufgaben nur geringwertig erschien gegen die Tätigkeit von Männern, die kämpfend im Leben stehen, gegen das Bemühen der Naturwissenschaft der Menschheit mehr Lebensfreude, einem armen Kinde ein dickeres Butterbrot zu verschaffen. Und ich könnte nicht einmal sagen, ob die hochmütigen oder die demütigen Stunden die besseren waren.

Nach rückwärts blickend ist die Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, ist sie eine Sehnsucht nach Einheit, ist sie Mystik. Epimetheus oder Prometheus, immer gottlos, in Frieden entsagend.

Wir müssen zurück zu HUME, um von da aus weiter zu schreiten in der erkenntniskritischen Skepsis, die wohl zu unterscheiden ist von der dogmatischen Skepsis der antiken Welt. Auch Wahrheit ist nur ein Wortfetisch. Fürwahrhalten ist auch etymologisch soviel wie  glauben.  Die Sprache ist kein geeignetes Werkzeug zum Erfassen der Natur, weil weder die Sprache, noch die Natur stillhalten; ewig jagt das kreisende Wort hinter der kreisenden Wirklichkeit her und kann sie nicht einholen.

Aber diese ganze Skepsis ist nur Resignation an den Grenzen der Menschhheit, ist nicht Verzweiflung über den Widerspruch des Weltganzen. Widersprüche gibt es nur in der Sprache. Die Natur, wie sie nur einmal da ist, ist auch einheitlich. Diese Einheit können wir nicht entdecken, wenn wir denken oder sprechen, diese Einheit können wir fühlen, wenn wir leben, ungetrennt von der Natur, wie Kinder im Mutterleibe der Natur. Man kann das auch Mystik nennen, erkenntniskritische, sprachkritische Mystik, zum Unterschied von der dem Meister Eckhart nachgestammelten Schablone der vielzuvuelen gottseligen Mystiker.

Das sind ungefähr die Leitgedanken, die ich in meiner  Kritik der Sprache  auf Sprachwissenschaft, Grammatik, Logik, Metaphysik angewandt und in meinem  Wörterbuch der Philosophie  auf einige ethische Probleme ausgedehnt habe. Mein erster Plan war, Sprachkritik zu üben an den Grundbegriffen aller Natur- und Geisteswissenschaften. Das ging über meine Kraft. Andere haben angefangen, mich abzulösen. Ich könnte bereits einige Naturwissenschaftler, auch Juristen und Ärzte nennen, sogar Dichter (Christian Morgenstern), die meine Leitgedanken weitergeführt haben. Über die Langsamkeit der Wirkung will ich nicht klagen; die schnellen Erfolge sind nicht die dauerhaften. Und ich gedenke dankbar des gütigen Wortes, das ERNST MACH mir schrieb, als er den zweiten Band meiner  Kritik der Sprache  gelesen hatte(7):
    "Ihr Werk wird langsam aber sicher seine Wirkung tun. Die Zunftgelehrten sind etwas schwerfällige Gewohnheitsmenschen. Auf zehn bis zwanzig Jahre Überlegung kommt es ihnen nicht gerade an. Manches, was ein Mensch von lebhaftem Temperament für Bosheit halten möchte, ist größtenteils auf Rechnung dieser Schwerfälligkeit zu setzen." Gerade jetzt, da ich in diesem Kreise von Zunftgelehrten zu Wort kommen darf, sind die von MACH vorausgesagten zwanzig Jahre um.
Ein gründlicher Fachmann, den ein Kollege mahnte, sich mit den Gedanken meiner Sprachkritik auseinander zu setzen, rief in menschlich begreiflicher Entrüstung aus: "Soll ich vielleicht meine Kollegienhefte verbrennen?" Ich wollte darauf nicht gern mit einem einfachen "Jawohl" antworten.
LITERATUR - Fritz Mauthner, "Beiträge zu einer Kritik der Sprache", 3 Bände, Leipzig 1923 und "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande", Stuttgart/Berlin 1920-234
    Anmerkungen
  1. Von Max Müller nach Julien
  2. in der Auswahl von Martin Buber
  3. 24. Dezember 1902