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FRITZ MAUTHNER
Sprache und Sozialismus
I -02

"Der Kommunismus hat auf dem Gebiete der Sprache Wirklichkeit werden können, weil die Sprache nichts ist, woran Eigentum behauptet werden kann; der gemeinsame Besitz ist ohne Störung möglich, weil die Sprache nichts anderes ist als eben die Gemeinsamkeit oder die Gemeinheit der Weltanschauung."

Das nun aber ist gerade das ungeheure Gaukelspiel der Sprache, daß der Grund und das Zeichen ihrer kläglichen Armut, für maßlosen Reichtum gehalten wird, und von den Menschenmassen und Massenmenschen mit Recht dafür gehalten wird: weil die Sprache ein Gebrauchsgegenstand ist, der durch die Ausbreitung des Gebrauchs an Wert gewinnt. Das Wunder ist leicht aufzuklären. Alle anderen Gebrauchsgegenstände werden durch den Gebrauch entweder vernichtet wie die Nahrungsmittel, oder verschlechtert wie Werkzeuge und Maschinen. Wäre die Sprache ein Werkzeug, so würde auch die Sprache verschlechtert und verbraucht werden. Nur Worte werden aber verbraucht, verschlissen, entwertet. Werden aber dadurch erst recht wertvoll für die Masse. Die Sprache ist aber kein Gegenstand des Gebrauchs, auch kein Werkzeug, sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist gar nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch. Da ist es doch kein Wunder mehr, wenn der Gebrauch mit dem Gebrauche sich steigert.

Diese Tatsache, welche ja nicht ganz übersehen werden konnte, hat man seit HEGEL so zu verdrehen gesucht, daß man die Sprache mit der Kunst, der Religion und den Staatseinrichtungen zu den Schöpfungen des sogenannten objektiven Geistes rechnete. Eigentlich ist Geist das Subjektive im Menschen; indem man nun dieses Subjektive über den Einzelmenschen hinausschleudert und es objektiv nennt, schafft man sich einen neuen Gott, mit dem sich die Sozialdemokraten abfinden sollten. Denn dieser objektive Geist denkt und will und tut, was die Masse denkt und will und tut. In Wahrheit ist die Tatsache, welche so großwortig als objektiver Geist auftritt, nichts anderes als die Abhängigkeit des Einzelmenschen von der Sprache, die er von den aufeinander folgenden Massen seiner Volksvorfahren geerbt hat, und die nur darum einen Gebrauchswert für ihn besitzt, weil sie Gemeineigentum aller Volksgenossen ist. Gebrauchsgegenstände bleiben unverändert, wenn weder menschlicher Gebrauch noch ihr ungewollter Verbrauch durch die Naturkräfte sie verzehrt. Die Sprache dagegen, weil sie kein Gebrauchsgegenstand, sondern selbst Gebrauch ist, stirbt ohne Gebrauch. Und da ist es nun von ausschlaggebender Wichtigkeit, daß alle Teile der Sprache irgendwo im Volke immer im Gebrauch sind. Der Einzelmensch gebraucht vielleicht jahrelang kaum den zehnten Teil der Worte, die die Sprache ihm zur Verfügung stellt, und nur einen winzigen Bruchteil der Kombinationen dieser Worte. Der Einzelne beherrscht seine Muttersprache nicht - wie gesagt. Anderswo jedoch ist wieder ein anderes Zehntel im Gebrauch, und an das Ohr des Einzelmenschen schlagen von Zeit zu Zeit von den ungebrauchten Zehnteln so viele Assoziationszentren der Sprache, daß schließlich ein weit größerer Teil der Gesamtsprache durch passive Einübung in steter Bereitschaft steht.

Der Kommunismus hat auf dem Gebiete der Sprache Wirklichkeit werden können, weil die Sprache nichts ist, woran Eigentum behauptet werden kann; der gemeinsame Besitz ist ohne Störung möglich, weil die Sprache nichts anderes ist als eben die Gemeinsamkeit oder die Gemeinheit der Weltanschauuung. Die Menschenmassen und die Massenmenschen freuen sich staunend dieses Besitzes und ahnen nicht, daß er eine Selbsttäuschung ist. Licht und Luft sind auch gemeinsam, aber sie sind etwas, und jeder Wärmestrahl, jedes Luftatom, das der eine verbraucht, wird dem anderen entzogen. Licht und Luft sind noch Werte. Der Städter muß sie teuer bezahlen. Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch umso zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will. In dem weltumspannenden und fast majestätischen Gesellschaftsspiel der Sprache erfreut es den einzelnen, wenn er nach der gleichen Spielregel mit Millionen zusammen denkt, wenn er z.B. für alte Rätselfragen die neue Antwort "Entwicklung" nachsprechen gelernt hat, wenn das Wort Naturalismus Mode geworden ist, oder wenn die Worte Freiheit, Fortschritt ihn regimenterweise aufregen.

Von starken Naturen, welche den Menschenmassen in diesem Weltgesellschaftsspiel die Worte zurufen, wird Geschichte gemacht. Sie passen in die Welt. Die geistige Geschichte wird von Ausnahmsmenschen gemacht, welche nicht in die Welt passen, welche abseits vom Spiele die Welt anders betrachten, als die Vorgängermassen sie betrachtet haben und als die ererbte Sprache es verlangt, von Menschen, welche, erblos und eigen, die Welt neu zu erkennen glauben und sich's kaum eingestehen dürfen, daß auch sie mit Aufopferung ihres Lebens nichts weiter ersonnen haben als nur kleine Abänderungen der Spielregeln für das Gesellschaftsspiel der Welt. Man kann sie auch betrachten als zufällige Variationen, welche die feste Erblichkeit der Art durchbrechen und vielleicht zu einer leisen Abänderung der Art beitragen werden. Sie wissen wenig anzufangen mit dem Gemeineigentum der Sprache, und die Gesellschaft, die Gemeine, weiß nicht viel mit ihnen anzufangen.

Man hat die Sprache so oft ein bewunderungswürdiges Kunstwerk genannt, daß die meisten Menschen diese schwebende Nebelmasse in einem verfließenden Begriffe wirklich für ein Kunstwerk halten. Nur daß der eine dieselbe Bildung für eine Wiesenfläche, der zweite sie für einen alten Tempel und der dritte sie für das Porträt seines Großvaters hält.

Ein Kunstwerk kann die Sprache schon darum nicht sein, weil sie nicht die Schöpfung eines Einzigen ist. Ich kann es mir (wie gesagt) nicht eigentlich vorstellen, aber ich kann es mit Worten denken, daß die Menschheit wortlos und begrifflos jahrtausendelang dahin gelebt hätte, zweifellos und lügenlos wie die Tierwelt, und dann einmal plötzlich ein Riesenmensch entstanden wäre, ein Klaftermensch unter Ellenmenschen. Und der wäre ein Dichter gewesen. Weil die Sprache nie ein Kunstwerk war, aber immer das Kunstmittel der Poesie. Er hätte sich, er für sich ganz allein, als ob er in einem Donner die Spannung hätte entladen wollen, die Sprache ersehnt, erfunden und ausgebaut, Das wäre dann ein Kunstwerk geworden. Das Werk  Eines.  Aber auch ein Monolog. Die Ellenmenschen hätten ihn nicht verstanden. Die Sprache aus dem Donnerbedürfnis hätte ein Kunstwerk werden können. Die Sprache aus dem gemeinen Mitteilungstrieb ist schlechte Fabrikarbeit, zusammengestoppelt von Milliarden von Tagelöhnern.

Wie aber die Sprache kein Kunstwerk sein kann, weil nicht ein einziger sie geschaffen hat, so ist sie auch kein Kunstwerk, weil sie nicht gemacht ist für das große Bedürfnis der Klaftermenschen, sondern für die kleinen Bedürfnisse aller. Die Sprache ist geworden wie eine große Stadt. Kammer an Kammer, Fenster an Fenster, Wohnung an Wohnung, Haus an Haus, Straße an Straße, Viertel an Viertel, und das alles ist ineinander geschachtelt, miteinander verbunden, durcheinander geschmiert, durch Röhren und Gräben, und wenn man einen Botokuden (unzivilisierter Mensch) davorstellt und ihm sagt, das sei ein Kunstwerk, so glaubt es der Esel und hat doch zu Hause die eigene Hütte, rund und frei.

Ist die Sprache aber kein Kunstwerk, so ist sie dafür bis heute die einzige Einrichtung der Gesellschaft, die wirklich schon auf sozialistischer Grundlage beruht. Zwar hat auch die Stadt wie die Sprache ihre Gasröhren, die ein vergiftetes Licht in alle Kammern treiben, die Bleiröhren, die ein verseuchtes Wasser in alle Küchen liefern, die Kanäle, die den Unrat der Millionen in schöner Symmetrie zu dem oberirdischen Leben munter unter der Erde weiterplätschern lassen nach neuen Gebieten der kommenden Menschheit, den Rieselfeldern. Aber Kohlendunst, Sumpfwasser und Dünger sind noch nicht überall Gemeingut. Der Steuerexekutor steht am Hahn und verlangt Geld. Da ist die Sprache eine weit lustigere Sache. Um es grell auszudrücken: In ihren verrosteten Röhren fließt durcheinander Licht und Gift, Wasser und Seuche und spritzt umsonst überall aus den Fugen, mitten unter den Menschen; die ganze Gesellschaft ist nichts als eine ungeheure Gratiswasserkunst für dieses Gemengsel, jeder einzelne ist ein Waaserspeier, und von Mund zu Mund speit sich der trübe Quell entgegen und vermischt sich trächtig und ansteckend, aber unfruchtbar und niederträchtig, und da gibt es kein Eigentum und kein Recht und keine Macht. Die Sprache ist Gemeineigentum. Alles gehört allen, alle baden darin, alle saufen es, und alle geben es von sich.

Utopisten hoffen und lehren, die ganze Natur werde einmal so gemein werden wie die Sprache, wenn erst alles Eigentum gemeinsam und wohlfeil sein wird wie die Sprache.

Seitdem man gelernt hat, die Sprache wie alle Volkspsychologie als etwas zu betrachten, was nicht in meinem und nicht in deinem Kopfe vorgeht, sondern was zwischen den Menschen schwebt wie der Äther, seitdem hätte man auch die Logik der Volkspsychologie zuweisen und auch das Denken als etwas erkennen müssen, was als fließendes Gewässer die Menschen trennt, oder als federnde Brücke hinüberführt, was aber niemals dem festen Lande gleicht.

Insofern freilich das Denken oder die Sprache etwas Selbsterzeugtes ist, eine Sammlung von Erinnerungszeichen, um sich in der Fülle der Eindrücke nicht zu verirren, haftet die Sprache allerdings am Individuum, an meinem und deinem Gehirn. Das ist aber der kleinste Teil der Sprache, der wertvollste für die Persönlichkeit, der wertloseste auf der Börse des menschlichen Verkehrs; denn dieser Teil ist nicht verkäuflich, ist nicht übertragbar, ist unverständlich, unmitteilsam.

Insofern jedoch der Einzelne fertige Wortzeichen für fertige Begriffe von der Amme, vom Lehrer, von seiner Zeitung ins Gehirn gedrückt bekommt, ist die Sprache (die eben Denken genannt wird, sobald sie in Bewegung gerät) zwar durch solche Zeichen leise mit allen Einzelgehirnen in Kontakt gebracht, aber zitternd und flimmernd lebt sie ihr eigentliches Leben zwischen den Menschen. Aus der Tradition holt sie ihre Begriffe, auf der Börse des Verkehrs läßt sie ihre Werte prägen.

Wer darum vermessen genug wäre, sich aus diesem umstrickenden Verbindungsnetze der gemeinsamen Sprache zu lösen, um mit seinem einzelnen Gehirn nicht anschauend, sondern denkend oder sprechend über den Abgrund unseres Nichtwissens zu kommen, der würde sich gewiß vermessen in der Weite des Sprungs. Zum Glück für ihn kann er sich gar nicht loslösen von der gemeinsamen Sprache; auch ihm sind die gemeinsamen Zeichen eingedrückt worden, auch er denkt sein lautes Denken gewissermaßen außer seinem Kopfe zwischen den Menschen. Und wie die sympathischen Nerven, die das unbewußte Leben der Atmung und Verdauung bedienen, dennoch mit dem Zentralnervensystem in Verbindung stehen, so hängt auch der einsamste Mensch, sobald er spricht, eben von der Sprache ab, die zwischen den Menschen entstanden ist.

Und so berichtigt sich auch die Behauptung, es gebe zuletzt keine allgemeine Sprache, es gebe nur Individualsprachen. Wohlgemerkt: dabei bleibt es, daß die Individualsprache einer möglichen Wirklichkeit noch am nächsten kommt. Aber weil Sprache immer etwas zwischen den Menschen ist, sozial ist, so kann sie wieder bei einem Einzigen nicht sein. Wer nun darauf achtet, wird bald bemerken, daß man außer von Individualsprachen auch von Individualsprachen zwischen je zwei Menschen reden könnte. Man spricht mit jedem Freunde - Höflichkeit und Nachahmung bei Seite - eine etwas andere Sprache.

Wenn Begriff und Wort, wenn Denken und Sprechen ein und dasselbe ist, wenn ferner die Sprache sich historisch und im Gebrauche des Individuums nicht anders als sozial bilden konnte, so muß auch das Erkennen der Wirklichkeit eine gemeinsame Tätigkeit der Menschen sein. Ich könnte weiter schließen: und weil diese Gemeinsamkeit eine Abstraktion ist, so kann auch das Erkennen unmöglich etwas Wirkliches sein.Der Schluß ist bündig; aber ich würde dem Wortaberglauben verfallen, wollte ich mich bei dieser in Worten ausgeführten Schlußfolgerung beruhigen. Das Ergebnis erscheint schon zuverlässiger, wenn wir es auf einem Gebiete bestätigt finden, welches seit undenklichen Zeiten für Offenbarung aus dem Jenseits, also für das sicherste Erkennen galt, auf dem Gebiete der Ethik. Das Individuum, wenn wir es ohne Zusammenhang mit den anderen Menschen fänden, kann gar keine Ethik haben. Ethik ist eine soziale Erscheinung. Ethik ist wie die Sprache nur etwas zwischen den Menschen, weil die Ethik eben auch nur Sprache ist. Ethik ist die Tatsache, daß zwischen den Menschen Wertbegriffe entstanden sind, welche sich bei der Betrachtung von menschlichen Handlungen als Werturteile aufdrängen.

Um die Werturteile steht es aber ebenso wie um die meisten anderen Urteile; sie gründen sich nicht auf die individuelle Erfahrung des Urteilenden, sondern auf die Erfahrung der Vorfahren und der Mitlebenden, welche Erfahrung nicht nur in Religion und Sitte, sondern eigentlich in jeder Erkenntnis der Wirklichkeitswelt Glaube, Überlieferung ist. Und die Überlieferung ist nicht nur in der Sprache niedergelegt, sondern sie ist nebenbei die Sprache selbst.

Ich bin mit diesem letzten Satze der Untersuchung vorausgeeilt. Für uns, für die die Sprache nichts ist als das bequeme Gedächtnis des Menschengeschlechts und das sogenannte Wissen nichts ist als dieses selbe Gedächtnis in der ökonomischen Ordnung des Einzelmenschen, für uns kann es zwischen Sprache und Erkenntnis nur leise nüancierte Unterschiede geben. Beide sind Gedächtnis, beide sind Überlieferung. Wir differenzieren nur gern innerhalb der Sprache zwischen Wissen und Überlieferung oder Tradition, je nachdem die dem Gedächtnisse zu Grunde liegenden Wahrnehmungen nachzuweisen, zu wiederholen sind oder nicht. Weil das auf dem Gebiete der Religionen und ihres speziellen Glaubens besonders schwer ist, darum haben sich diese Begriffe dort ausgebildet und man scheut sich beinahe, Überlieferung und Glauben auch auf dem Gebiete des Erkennens zu entdecken. Und dennoch werden wir starr und rücksichtslos einsehen müssen, lehren müssen, daß auch das Wahrnehmungswissen, als auf den sozial erblich erworbenen Zufallssinnen beruhend, doch nur anthropomorphisch, konventionell, traditionell sein kann.

Wir wollen nun aber weitergehen und vorläufig von der Frage absehen, ob Erkenntnis etwas Wirkliches sei, wir wollen nur noch einmal und zwar induktiv erklären, weshalb wir die Erkenntnis eine soziale Erscheinung nennen. Die ethischen Urteile werden von schlechten Menschen nicht für voll genommen werden. Sie werden sagen, die Ethik enthalte überhaupt keine Erkenntnis. Nicht viel anders wird es uns gehen, wenn wir jetzt den sozialen Faktor in anderen Werturteilen nachweisen, in den ästhetischen Werturteilen. An der Tatsache wird nicht zu zweifeln sein, daß die scheinbar so individuellen Geschmacksurteile notwendig von dem Geschmacke der Zeit abhängen, welcher sich durch das Wort Mode ausdrückt. ("Mode" wie "modern" von modo: das Jetzige, das Heutige.) Von dem Zeitgeschmack läßt sich jeder schaffende Künstler beeinflussen, der gewöhnliche Kunstindustrielle nach seinem gemeinen Erwerbssinn, aber auch der stolzeste Künstler, weil der Mensch unfähig ist, sich ohne Wechselwirkung, sich ohne seine Umgebung zu entwickeln.

Wo immer nun wir den Versuch machen werden, das Wesen der Erkenntnis zu entdecken, da wird es sich so genau wie die Sprache als eine soziale Erscheinung, vielleicht als eine soziale Illusion enthüllen. Wir dürfen nur nicht zu sehr auf die Unterschiede zwischen Sprache, Denken und Erkenntnis uns berufen; haben doch jahrtausendelange Anstrengungen der besten Köpfe nicht vermocht, selbst zwischen den faßlichsten Begriffen dieser weiten Gruppen: der Sprache, des Denkens und der Erkenntnis (oder: zwischen dem Satze, dem Urteil und der Wahrheit) deutliche Grenzen zu ziehen.

Der weitere Verlauf aller Untersuchungen dieser Sprachkritik wird uns lehren, wie alle Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften, aus deren Vorrat die Sprachkritik schöpfen muß, zu der gleichen Resignation, zu dem gleichen Zweifel an der Festigkeit unseres Wissensgebäudes kommen.

Am schnellsten und stillsten mag der Teil zusammenstürzen, wie ein Kartenhaus, den wir die Logik nennen und den wir als das älteste, granitene Fundament alles Wissens zu betrachten pflegen. Wohl bindet die Logik die Menschengeister, aber nicht weil sie von irgendwoher übermenschliche Kraft besitzt, sondern weil sie ganz und gar, mit Haut und Haar, mit Urteilen und Schlüssen und Methoden, schon in den ursprünglichen Begriffen oder Worten drinsteckt, und weil diese Worte oder Begriffe erst dann einen Wert haben, wenn sie zwischen den Menschen kursieren, wenn sie die Menschen binden.

Unter dem Einfluß der heute herrschenden Ideen müssen wir dazu gelangen, den Kampf ums Dasein, die alltägliche Not, für die Entstehung der Worte und damit für die Entwicklung der Sprache oder der Vernunft verantwortlich zu machen. Da werden wir das scheinbare Wunder erleben, daß nichts auf der Welt uns davon überzeugen kann, es seien unsere Wahrnehmungen richtige Bilder einer Wirklichkeitswelt außer uns, und daß doch offenbar alle normalen Menschen dieselben Wahrnehmungen besitzen und nach einigen Studien in dieselben Zweifel verfallen. Unsere Betrachtung der Sinnesdaten wird uns lehren, daß unsere Zweifel berechtigt waren, daß die Unendlichkeit der Wirklichkeitsbewegungen nur durch die wenigen schmalen Tore unserer Zufallssinne zu uns gelangen können, daß alles draußen bleiben muß, was keinen Weg zu diesen Toren hat, daß wir uns mit Hilfe unserer fünf oder sechs Zufallssinne in unserer Umgebung orientiert haben. Wir werden aber einsehen, daß die Allgemeingültigkeit der Gesetze, welche wir unseren Sinnesorganen verdanken, also die Allgemeingültigkeit aller wissenschaftlichen Gesetze, sich verstehen läßt, sobald unsere fünf oder sechs Zufallssinne durch Vererbung bei allen Menschen die gleichen Zufallssinne sind. Die Gesetze der Natur- und Geisteswissenschaften werden dann zu einer sozialen Erscheinung, zu den natürlichen Regeln des Gesellschaftsspiels der menschlichen Welterkenntnis, sie sind die Poetik der fable convenue (vereinbarte Fabel) oder des Wissens.

Der Satz "der Zucker ist süß" ist ein Teil unserer Welterkenntnis, wenn auch ein kleiner. Doch diese kleine Erkenntnis läßt sich selbst wieder verschieden betrachten, je nachdem ich mit diesem Satze die subjektive Tatsache gemeint habe, daß dieses Stückchen Zucker eben die Empfindung süß in mir ausgelöst hat, oder daß nach meiner Erfahrung und der Erfahrung der Menschheit der Stoff Zucker allgemein oder objektiv süße Empfindungen verursacht. Im zweiten Falle ist es die Spielregel der Menschheit, den Stoff Zucker und die Empfindung süß zu nennen, aber es ist über das Sprachliche hinaus eine Spielregel des menschlichen Organismus, nach Berührung dieses Stoffes mit Zunge oder Gaumen die und die besonders differenzierte angenehme Empfindung zu spüren. Im ersten, subjektiven Sinne ist der Satz "der Zucker ist süß", nur eine besondere Anwendung der Spielregel; habe ich mich foppen lassen und Arsenik gekostet, so bin ich zu dumm zum Mitspielen; habe ich gelogen, beim Spiele gemogelt, so darf ich nicht mitspielen.

Es wird Sache psychologischer Untersuchungen sein, zu zeigen, wie der Glaube an ein Wissen, das nur eine soziale Illusion ist, dadurch mächtig werden konnte, daß uns nichts anderes übrig blieb, als die Welt anthropomorphisch zu verstehen. Auch das Wissen ist ein Glauben, ist eine Tradition. Wie die Sprache oder das Wissen zwischen den Menschen so entstand, daß jeder einzelne dem nächsten seine eigenen Wahrnehmungen und seine eigenen Willensakte zutraute, so ging es weiter zwischen den Menschen und der Natur, der der Mensch, zwar nicht seine Sinnesorgane, aber doch seine Willensakte zuschrieb, so zu den Begriffen Objekt und Subjekt, Ursache und Wirkung u.s.w. gelangte und das Gesellschaftsspiel des Wissens nun gar mit Bäumen und Tieren weiterspielte.

 Metaphorisch  kann man auch dieses anthropomorphische Wissen nennen, und wir werden sehen und in solchem Zusammenhange besser begreifen lernen, wie metaphorisch darum wieder die menschliche Sprache ist. Die Metapher als Grundquelle aller Sprachentwicklung führt wieder, da sie durchaus von der Sinnlichkeit ausgeht, zur Physiologie zurück und verbindet diese mit der Sprachwissenschaft, welche uns die Wissenschaft ist von dem, was zwischen den Menschen spielt. Es wird uns dies noch viel beschäftigen. Für jetzt nur ein Wort über die sprachliche Bedeutung des eben verwandten kindlichen Satzes "der Zucker ist süß". Wer die wenigen Worte dieses einfachen Satzes, jedes für sich, in ihrer Sprachgeschichte und in ihrem grammatischen Werte zu deuten vermöchte, wer dann den Gesamtausdruck des Satzes psychologisch mit den Vorstellungen vergleichen könnte, deren redseliger oder abgekürzter Ausdruck er ist, der könnte sich rühmen, die Sprachwissenschaft bis zu einer Sprachkritik geführt zu haben. Als vorläufiges Beispiel nur einige Winke über die Aufgaben einer solchen Analyse.

"Der" war ursprünglich demonstrativ und konnte so jeden augenblicklichen Bewußtseinsinhalt auch ohne Subjektwort ersetzen. "Das da ist süß". Der Bedeutungswandel dieses Wortes vom Demonstrativum herab bis zum Artikel geht recht gut parallel mit der Tatsache, daß wir ein Ding zuerst empfinden, ohne es nennen zu können, bis wir es endlich als einen Begriff im Urteil gebrauchen, ohne es vorstellen zu müssen. (Vgl. Kr. d. Spr. III, 3.)

Ein solcher Begriff ist "Zucker", sobald wir den einfachen Satz als eine objektive oder allgemeine Weisheit aussprechen. Versuchen wir jedoch den Begriff zu definieren, so wird selbst dieser Stoff, den jedes Kind zu kennen glaubt, zu einem Rätsel, welches die Chemiker in ihrer Geheimsprache unter das höhere Rätsel Kohlenhydrate bringen, während die Laien und die Kinder wirklich die Definition des Zuckers darauf beschränken müssen, er sei etwas, was süß schmeckt. Zu diesen logischen Fragen kommt dann noch der Umstand, daß "Zucker" in unserem einfachen Satze bald ein konkretes bald ein abstraktes Wort sein kann.

Alle Schwierigkeiten der Verbalformen, alle Schwierigkeiten der Copula drängen sich um das Wörtchen "ist" in unserem Satze. Ob das Wörtchen die Existenz des Zuckers mitbedeutet oder nur die Wahrheit der Beziehungen zwischen Süßigkeit und Zucker, ob die Eigenschaft eine Erscheinung des ruhenden Objekts Zucker ist oder eine Wirkung der Atombewegungen des Objekts, das alles verlangt am Wörtchen "ist" nach Aufklärung. Dazu hat die Präsensforrn des Wörtchens "ist" einen ganz anderen Sinn, je nachdem der einfache Satz ein subjektives oder ein objektives Urteil ausspricht.

Das Eigenschaftswort "süß" endlich regt zur Untersuchung an, ob wir von dem ganzen Komplex "der Zucker ist süß" in unserem Bewußtsein irgend etwas anderes vorfinden als die Empfindung süß, so daß der ganze Satz für den Metaphysiker nur ein wertloses Gerede über diese Empfindung wäre. Wertlos für unsere Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, wertvoll nur als ein Mittel, die Bemerkung zwischen spielenden Menschen hin und her geben zu lassen, ein kleiner Beitrag zu der sozialen Verständigung zwischen den Menschen. Und schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Empfindung "süß" bei allen Menschen die gleiche ist, nichts weiter als die Grundlage aller Sozietät, die Verwandtschaft der Zufallssinne; wie wenn die Menschen sich ihrer gleichgehenden Taschenuhren erfreuen, während doch der gleiche Gang zunächst durch die Konvention einer gleichen mitteleuropäischen Zeit und dann durch die weitere Konvention zu stande gekommen ist, daß wir die Bewegung der Erde um sich selbst und um die Sonne zu unserem Zeitmesser gemacht haben.

Trotzdem rühmt eine ewig wiedergekäute Lehre an der Sprache, daß sie die Menschen verbinde. Und noch ist der Jammerruf nicht erklungen, daß alles Elend der Einsamkeit nur von der menschlichen Sprache kommt.

Nur in der Herde ist Wohlsein. Nur im Herdenleben ist die stumme Überzeugung, daß alles, was geschieht, so und nicht anders am besten geschieht. Wir nennen diesen Zustand dumpfen Glücks den Instinkt. Die Tiere empfinden dieses Viechsglück. Auch die Instinktmenschen, die ein Herdenleben führen, bei denen die Sprache und das Denken nicht über du Verabreden von Herdenhandlungen hinausgekommen ist. Ob so eine Herde Menschen sich einmütig vor dem gemeinsamen Götzen auf die Kniee wirft, ob die Weibchen der Herde einmütig den gleichen Cape über ihre flachen Schultern werfen, ob die Männchen mit dem gleichen Hurraruf in den Krieg ziehen oder ob sie alle zur gleichen Stunde äsen, wiederkäuen und zur Tränke gehen, ist ein unbewußtes Viechsglück.

Bei wem aber die Sprache sich so weit differenziert hat, daß er die Kommandorufe des Instinkts anders versteht als die Herde, daß ihm ihr Götze, nicht Gott ist, daß er sich von den wattierten Schultern des Cape nicht täuschen läßt, daß er den Hurraruf des Feindes versteht und nicht mehr mittut, daß er dann frißt, wenn er selber hungert, und dann erst Mittag schlagen hört, der ist einsam geworden durch die Sprache und hat als letzten Trost nur sein Lachen über daß Blöken der Herde. Die blökende Herde aber hat vollkommen recht, wenn sie seine einsame Sprache für irr erklärt. Irr ist, wer sich von der Herde und ihrer Tränke entfernt, verirrt hat.

wahn Die Herdensprache ist so wenig Gegenstand der Kritik wie das Zwitschern der Vögel. Sie steht unter der Kritik. Sie verbindet die Menschen nicht, aber sie ist ein Zeichen der Verbindung. Zu dieser Herdensprache gehört der Glockenklang, der zur Kirche ruft, die Trommel im Felde und der Gong, der im Hotel die Dinerstunde anzeigt. Irre wird auch die Sprache erst, wenn sie sich nicht mehr damit begnügen will, zwischen den Menschen zu sein, ihre Notdurft stöhnend zu begleiten, wenn sie über den Menschen, von Menschennotdurft gelöst, überreizten, geistigen Bedürfnissen dienen will.

Wie der Ozean zwischen den Kontinenten, so bewegt sich die Sprache zwischen den einzelnen Menschen. Der Ozean verbindet die Länder, so sagt man, weil ab und zu ein Schiff herüber- und hinüberfährt und landet, wenn es nicht vorher versunken ist. Das Wasser trennt, und nur die Flutwelle, die von fremden Gewalten emporgehoben wird, schlägt bald da, bald dort an das fremde Gestade und wirft Tang und Kies heraus. Nur das Gemeine trägt so die Sprache von einem zum anderen. Mitten inne, wenn es rauscht und stürmt und hohler Gischt zum Himmel spritzt, wohnen fern von allen Menschenländern Poesie und Seekrankheit dicht beisammen.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906