cr-3Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele 
 
FRITZ MAUTHNER
Seele und Leib
I -17

"Fast zweitausend Jahre lang hat man auch in der Psychologie die hölzernen Gerüste des Aristoteles für Kunstwerke gehalten."

Man kann die Seele zehnmal nachgewiesen haben als ein leeres Wortgespenst, der Begriff bleibt dennoch wichtig für die Geschichte des menschlichen Denkens. Der große Zwiespalt, der die eine Partei auf den Materialismus, die andere auf den Spiritualismus schwören läßt (wie wenn das eine Kind nur das weiche Brot, das andere nur die Kruste gern hat), ist zu seiner jahrhundertelangen Bedeutung in der Geschichte der Philosophie hauptsächlich durch die Frage gekommen, ob die Seele materiell sei oder nicht. Die Geschichte des Seelenbegriffs ist eine unendlich langsam wachsende Einsicht in seine Widersprüche. Einige Proben aus der Geschichte des SeeIenbegriffs werden uns zeigen, wie wir dazu gelangt sind, ihn schließlich nicht mehr mit Anstand definieren zu können. Zunächst werden wir sehen, daß die Trennung des Menschen in eine geistige Seele und in einen physischen Leib eine viel jüngere Vorstellung ist, als man glaubt.

Wenn wir aus den Vorstellungen der sogenannten Wilden auf die Weltanschauung der vorhistorischen Zeit schließen dürfen, so dachte man sich auch bei den ältesten Griechen das Verhältnis zwischen Seele und Leib so, daß beide Körper waren, die Seele jedoch ein feinerer, ein dünnerer Körper. Geist war etwa so viel wie Gespenst. Unter diesem Gespenst stellte man sich, wie heute noch, gern einen Schatten vor, das heißt ein Ding, das die wichtigsten körperlichen Eigenschaften nicht besaß, aber trotzdem ein Körper war. Denn damals wußte man ja noch nicht, daß der Lichtschatten eine negative Erscheinung ist. Oder man benannte die menschliche Seele nach dem Atem ( Psyche, Pneuma, Anima, Spiritus, duse, ruach),  und wenn man den menschlichen Atem auch nicht chemisch analysiert hatte, so sah man in ihm doch eine Art Luft, also einen Körper. Alle Versuche, das deutsche Wort "Seele" etymologisch mit einem materiellen Begriffe zu verbinden, sind als verfehlt anzusehen; aber eine materielle Vorstellung liegt dem vielfältigen Gebrauche des Wortes immer zu Grunde. Nicht ohne Humor ist es vielleicht, daß das ältere "Herz" im bildlichen Sinne das allerfesteste innerste Stück eines Gebildes bezeichnet (Herz im Krautkopf), daß aber das jüngere "Seele", weil ihr Organ immer unsichtbarer wurde, schließlich das allerhohlste innere Stück bezeichnen mußte (so in: Seele der Kanone, Seele der Rakete). Es ist wohl ursprünglich ein Scherz gewesen, daß der Bäcker (dem Volke stets ein Urbild des Wucherers) seine Seele ins Brot gebacken habe, die Hohlräume der Ware mit bezahlen lasse; nachher wurden Sprichwörter daraus. Ich sehe in der "Seele" des Brotes, d. h. der Stelle, wo für das Auge nichts ist, und in der "Seele" des Bäckers, die, für den Wucher in der Hölle leidet, die gleiche grobe Sachvorstellung.

Auf diesem Standpunkte der Naturwissenschaft ist die Seelentheorie der älteren Griechen von BAIN richtig ein doppelter Materialismus genannt worden. Die Sehnsucht nach dem Glauben an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele war wohl immer vorhanden; unkörperlich vermochte sich aber niemand die Fortdauer zu denken.

Man täuscht sich, wenn man glaubt, PLATON habe diesen doppelten Materialismus überwunden. Er unterscheidet drei Seelen, welche man bequem die Bauchseele (für Ernährung u.s.w.), die Brustseele (für Mut u.s.w.) und die Kopfseele nennen kann. Die Kopfseele war ihm die oberste, die denkende, unsterbliche Seele; aber auch sie war materiell. Gab es für ihn eine rein geistige Idee der Seele, so hatte das mit den einzelnen Seelenindividuen nichts zu tun; immaterielle Ideen waren ja als "Mütter" auch für die Baumindividuen, die Tierindividuen ebenso gut wie für die Seelenindividuen vorhanden.

Ungefähr an Stelle der Ideen setzte ARISTOTELES die logischen Kategorien der Form (im Gegensatze zum Stoff) und die Wirklichkeit oder Wirksamkeit (im Gegensatze zur Möglichkeit). Seine verworrene Definition der Seele ist für den späteren Spiritualismus sehr wohl verwendbar gewesen, weil sie aus entsetzlich abstrakten Begriffen besteht, und weil ARISTOTELES mit fast astrologischen Phantasien den Stoff der Seele dem der Sterne gleichstellt, die er für höhere Geister hält. Läßt man sich von den logischen Hilfskonstruktionen nicht blenden, so erkennt man bald die Unvorstellbarkeit all dieser Rederei. Wie so häufig bei ARISTOTELES ist das Gerüst haltbarer gewesen als der Bau. Fast zweitausend Jahre lang hat man auch in der Psychologie die hölzernen Gerüste des ARISTOTELES für Kunstwerke gehalten.

"Die ersten Kirchenväter waren, ehe sie Christen wurden, heidnische Philosophen gewesen." Die christliche Philosophie der ersten Jahrhunderte war der alte, doppelte Materialismus. In ihren moralischen Anschauungen waren diese ältesten christlichen Lehrer etwa Stoiker; in ihren Vorstellungen von der Seele aber mußten sie schon darum an einer Materie, wenn auch einer feineren, dünneren Materie festhalten, weil sie sonst für die Belohnung und Bestrafung im Jenseits fürchteten. Diese Männer besaßen die naiven und robusten Vorstellungen der sogenannten Wilden. TERTULLIANUS lehrt ganz einfach: Nichts ist unkörperlich, als was nicht ist. Alles , was ist, ist in seiner Art körperlich. Gott besteht für ihn aus etwas Ähnlichem, wie: was man heute unter Äther versteht. Wer sollte leugnen, daß Gott Körper sei, obwohl er Geist ist? Ein Geist ist ein Körper eigener Art. So ein Geist ist auch die Seele, wie die Seele von den Christen überhaupt mit Gott in engste Beziehung gebracht wurde. Die Seele besitzt die menschliche Gestalt, dieselbe wie der Leib. Sie ist nur zart und hell und luftartig. Man sieht, der Kirchenvater TERTULLIANUS stellt sich die Seele ebenso vor, wie der robuste und naive Glaube unserer Spiritisten sich die Schatten der Verstorbenen vorstellt.

Der Erste, der eine wirklich immaterielle Seele lehrte, war der logische Begründer des Christentums, der heilige AUGUSTINUS. Ihm ist es in dieser Beziehung darum zu tun, die Unsterblichkeit der Seele aus ihrer reinen Geistigkeit zu beweisen. Mit seinem außerordentlichen Scharfsinn, mit seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem jenseitigen unkörperlichen Gottesstaat wittert er, daß sich seine Phantasie von Gott auf die Länge mit dem doppelten Materialismus der alten Welt nicht verbinden ließe. War Gott ein reiner Geist, so mußte es auch die Seele sein. Seine Beweise für die Unsterblichkeit der Seele erscheinen uns kindisch; aber wir finden in ihnen mit Vergnügen eines der krassesten Beispiele menschlichen Wortaberglaubens. Er scheint sich gegen TERTULLIANUS zu wenden, wenn er die Ansicht bekämpft, die Seele wäre gar nicht, wenn sie nicht die körperlichen Ausdehnungen der Länge, Breite und Dicke hätte. Aber - ruft er triumphierend aus die Gerechtigkeit habe auch keine Ausdehnung, sei auch kein Körper und dennoch ein reales Ding, besitze sogar eine höhere Realität als irgend ein anderes Ding.

Der heilige AUGUSTINUS hat den Grund gelegt zu der heute noch unklar vorhandenen Vorstellung des Verhältnisses zwischen Seele und Leib, zu dem Köhlerglauben der Menge wie zu dem Dualismus der geschulten Denker. Aber nicht nur in der Darstellung des heiligen AUGUSTINUS wird dieser Dualismus gepredigt, sondern in der Philosophie des nicht minder heiligen THOMAS von AQUINO, derjenigen Philosophie, welche eine päpstliche Enzyklika im Jahre 1879 der modernen Welt als Norm des Denkens vorzuschreiben gewagt hat. THOMAS weiß Bescheid, als ob er dabei gewesen wäre. Die Seele ist von Gott unmittelbar geschaffen, nicht von Engeln. Die Seele ist mit dem Körper zugleich geschaffen. (Einen besonderen Sitz der Seele gibt es nicht.) THOMAS mischt des AUGUSTINUS Gottessehnsucht mit den Spitzfindigkeiten des ARISTOTELES. Die Seele ist kein Körper, sondern die Ursache körperlicher Erscheinungen. Die Seele ist kein Körper, sondern eine besondere Substanz. Substanz ist aber bei Leibe nicht Materie. Im Dienste theologischer Forderungen erklärt aber THOMAS die überlieferten drei Seelen, die Bauchseele, die Brustseele und die Kopfseele (er nimmt auch wohl fünf oder gar acht SeeIenkräfte an), für eine Einheit. Im Zeitalter der Streitigkeiten um die Dreieinigkeit war das leichte Arbeit. Über den Zustand der Seele nach dem Tode weiß Thomas ganz genau Bescheid; der gläubige Schuft Dusterer in ANZENGRUBERs  Gewissenswurm  kennt sich in der Hölle nicht besser aus. Die Bauchseele und die Brustseele verschwinden mit dem Leibe; nur die Kopfseele bleibt erhalten und hat es mit sich selbst abzumachen, wie sie nachher die den Bauch betreffenden Höllenstrafen empfinden kann. Die höllengläubigen Reformatoren, wie CALVIN, hatten nachher genug zu tun, sich mit diesen Theorien des Thomismus abzufinden.

Dem naturwissenschaftlich gebildeten und theologisch etwas freieren DESCARTES war es vorbehalten, die Welt mit einem scheinbar faßbareren Dualismus von Seele und Leib zu beschenken. DESCARTES heißt insofern mit Recht der Vater der modernen Philosophie, als er eine psychologische Methode anzuwenden suchte und als seine Schlagworte Teile der Gemeinsprache geworden sind. Der Halbgebildete, der z. B. heute anzunehmen meint oder bloß sagt, das Wesen des Stoffes bestehe in der Ausdehnung, werde von den Sinnen wahrgenommen und sei Objekt der Physik, das Wesen des Geistes sei das Denken und könne nur vom Bewußtsein wahrgenommen werden - dieser Halbgebildete hat sicherlich keine Ahnung davon, daß er ein Cartesianer ist. Der Dualismus ist die Hypothese des DESCARTES; er steckt offen oder verborgen fast in allen philosophischen oder populären Schriften bis auf die Gegenwart; und der Grundirrtum des neueren Materialismus, der einen materialistischen Monismus lehren möchte, scheint mir darin zu bestehen, daß er wortabergläubisch den cartesianischen Dualismus auf dem Standpunkte DESCARTES' bekämpfen möchte. Materie und Geist, Leib und Seele sind Korrelatbegriffe wie rechts und links. Solange der Materialismus an die Materie glaubt und sie zur Ursache des Geistes macht, solange der Materialismus rechts anerkennt und links leugnet, solange ist er ahnungslos cartesianisch.

Man glaube ja nicht, der Seelenbegriff sei der einzige, bei welchem das Karussell- oder Ringelspiel um eine immaterielle Substanz gespielt werde. Man nimmt solche Phantasiegeschöpfe immer zu Hilfe, wo man den stofflichen Träger einer Erscheinung nicht wahrnimmt. So hat man für die Lichtwellen und neuerdings für die elektro-magnetischen Licht- und Wärmewellen einen stofflichen Träger gesucht und, da man ihn nicht fand, den Äther zum Träger des Lichts gemacht. Ganz ähnlich war die Seele der Träger seelischer Erscheinungen; nur der Zufall der Sprache hat für Äther ein besonderes Wort geschaffen. Das geht noch weiter. Dem Phantasiegebilde Äther gegenüber scheint Licht etwas relativ Wirkliches zu sein, den einzelnen Lichterscheinungen gegenüber ist "Licht" doch wieder nur eine Personifikation; es wird als die Ursache der Sichtbarkeit der Körper definiert, also als die Seele der Lichterscheinungen. Zu diesen gehören - ich schreite noch weiter - wieder die Farben. Mit demselben Rechte, mit dem man den Äther zum Träger des Lichts und das Licht zur Ursache der Lichterscheinungen macht, könnte man "die Farbe" zur Ursache der vielen einzelnen Farben machen; hat man sich doch vor der Ungeheuerlichkeit nicht gescheut, das Gesicht, das Gehör, das Gefühl als Ursache sichtbarer, hörbarer und fühlbarer Erscheinungen zu hypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp]. Und niemand nimmt Anstoß an diesen ganz gemeinen Worten: Gesicht, Gehör, Gefühl, die doch für meinen "Geschmack" relative Neubildungen sind wie die scholastischen Quidditäten (Washeiten) und Haecceitäten (Diesheiten). Nach Analogie dieser Worte müßte man auch von einem "Geseel" sprechen. Oder von einem "Gedenk", nur daß wir dieses letzte Wort zufällig wirklich und sehr lebendig in dem gemeinsprachlichen "Gedächtnis" besitzen. Es ist, wie oft in diesem Werke hervorgehoben werden muß, das ewige Bedürfnis der Menschen, die Wirkungen, die sie erfahren, und die sie unmittelbar als Adjektive und höchstens als Verben ausdrücken können, durch Erfindung von Substantiven in die Welt zurückzuwerfen und so den Schein einer wahrgenommenen Wirklichkeit zu erzeugen.

Das Wort Äther bezeichnet in der Mythologie einen Enkel des Chaos, einen Sohn des Erebos und der Nacht, also eine Art Mephisto. Und wirklich ist schon zur Griechenzeit in den Orphischen Hymnen die mythologische Figur zu einem Patron der Weltseele verblasen worden, wie denn der Äther auch in der heutigen Physik halb mythologische Maske, halb Weltseele ist. Wer nicht glauben sollte, daß in den hellen Hallen der Mechanik von heute solche Unwesen herumspuken, der bedenke folgendes.

Unsere gesamte Mechanik, ja unsere gesamte Naturwissenschaft, soweit sie bereits exakte Wissenschaft zu heißen Anspruch macht, ist Atomistik. Das wird die eine Partei gern zugeben, die andere nicht gut leugnen können. Was immer wahrnehmbar ist auf der Welt, was auch nur dem Fernrohr oder dem Mikroskop erreichbar ist, das sucht man auf eine ziffermäßige Bewegung unendlich kleiner Teile zurückzuführen, eben der Atome, worunter sich freilich seit den zweitausend Jahren ihrer Wortexistenz noch niemand etwas Reales hat vorstellen können. Weshalb denn auch gegenwärtig eine Atomistik ohne Atome gelehrt wird, die sogenannte Energetik. Es ist beinahe wie in der Ethik, wo auch das Staats- und Völkerleben immer mehr atomisiert, auf das Recht des Individuums ( atomos  = individuum) zurückgeführt worden ist, bis die Definition des Individuums neue Schwierigkeiten machte. Nun sollte man glauben, daß die Wissenschaft nach ihrem letzten Wort nicht weibisch noch ein allerletztes vorzubringen haben sollte, daß sie ehrlich genug sein sollte, nach ihrer Bankerotterklärung nicht sofort neue Schulden zu machen. Das tut aber die Mechanik, indem sie ihre Blöße gröblich mit den durchsichtigen Latten "Äther" zu decken sucht und zwar so:

Die mathematisch faßbaren Sätze der Mechanik (in ihrem weitesten Sinne) haben eine Grenze ihrer verständlichen Anwendbarkeit, eine Grenze nach unten und eine Grenze nach oben. Nach oben hin kann die Astronomie die Gravitation bis auf die sinnlos weit entfernten Doppelsterne ausdehnen, die Spektralanalyse ihre Theorie des Lichts bis zum letzten Sternchen, das jenseits des Vorstellbaren vor Jahrhunderten das Licht entsendet haben soll, das wir heute erblicken. Aber Gravitation und Lichttheorie können die Körper nicht entbehren und mit den Körpern müssen sie zu Grunde gehen. Darum wirft die Naturwissenschaft in den schwindelweiten Abgrund des körperlosen Raums ihren Äther, das wesenlose Etwas, das unwägbare Gewicht, das Spinnennetz ohne Faden. Und ebenso haucht die Physik und Chemie in der Welt des unendlich Kleinen den lebendigen Widerspruch, den Mephisto Äther, zwischen die Reigentänze der Atome und der Moleküle, um dort die Zweifel und Ratlosigkeiten der höheren Mathematik zu vernichten.

Was die Wissenschaft dazutut, ist also wieder mythologisches Beiwerk. Sie müßte ehrlich sagen: Hier, an der untersten wie an der obersten Grenze des Wahrnehmbaren versagt uns mit der Sprache das Denken. Wir können nichts mehr beobachten, nichts mehr vorstellen, nichts mehr wissen. Und selbst die Widersprüche, auf die wir stoßen, sind nicht klar gewußte Widersprüche, sie sind in Wahrheit metaphysisch, spielerisch, witzig, also dumm. Anstatt so zu sprechen, handelt die stolze Wissenschaft von heute genau so, wie die Barbaren des einstigen Griechenlands; sie sucht die Rätsel der Welt mit mythologischen Figuren zu lösen, und wie jede Reklame für ein Schwindelheilmittel nach Fremdworten greift, so hat auch die Mechanik den alten Äther, den Enkel des Chaos, den Sohn des Erebos und der Nacht, bemüht, und unsere Studenten bemühen sich, mit dem ganzen Apparat des Kehlkopfs und den Nebenapparaten den Hauch Äther nachzusprechen, und beim Examen wiederholen sie auch vielleicht noch die Faxerei, daß das Gewicht des Äthers fünfzehn Trillionen mal leichter sei als das der Luft. Wollte aber einer von ihnen eine Aktiengesellschaft zur Errichtung einer Zuckerfabrik gründen, in welche Ameisen den Saft der von ihnen gezüchteten Läuse zu liefern hätten, so käme er wohl ins Irrenhaus.

Ein Wortführer der Energetik, WILHELM OSTWALD, hat neuerdings (Vorlesungen über Naturphilosophie, S. 151) den Ätherbegriff, den er "immaterielle Materie" nennt, vortrefflich charakterisiert.
"Alle Versuche, die Eigenschaften des Äthers nach Analogie der bekannten Eigenschaften der Materie gesetzmäßig zu formulieren, haben zu unlösbaren Widersprüchen geführt. So schleppt sich die Annahme von der Existenz des Äthers durch die Wissenschaft, nicht weil sie eine befriedigende Darstellung der Tatsachen gewährt, sondern vielmehr, weil man nichts Besseres an ihre Stelle zu setzen versucht oder weiß."
OSTWALD weiß das Bessere (S. 239): ein Träger für seine Energie ist überflüssig; die Energie ist im Raume ohne Äther vorhanden und wandelt sich ohne Äther. "Irgend eine Schwierigkeit in der Darstellung und Auffassung entsteht dadurch nicht." Man könnte dem Naturphilosophen antworten: eine Schwierigkeit in der Darstellung und Auffassung sehe auch die naive Weltanschauung nicht bei ihrem robusten Glauben an die Körperwelt.

"Seele" ist also etwas, was die Materialisten leugnen, und wovon die Spiritualisten nicht wissen, was es ist. "Sitz" deutet auf eine ausgedehnte Wohnstätte. Die Frage nach dem Sitz der Seele ist also etwa so klug, wie wenn eine Leiche gefunden worden wäre, die Leute noch darüber stritten, ob natürlicher Tod oder Mord vorliege, ein eifriger Reporter aber gleich fragte: Wo wohnt der Mörder?

Spaßeshalber kann ich auf der Stelle eine mathematische Bestimmung vom Sitz der Seele geben, die so wohlklingend ist, daß ein Charlatan sie ernsthaft hätte geben können: "Der Kreuzungspunkt des Koordinatensystems für den individuellen Raum ist der Sitz der Seele in jedem Individuum." Nur daß wir in unseren Raumvorstellungen um so unsicherer werden, je näher wir diesem Sitz der Seele kommen. Der Mund ist unterhalb der Seele. Das Kopfhaar oberhalb. Nasenwurzel und Stirn aber lassen im Zweifel, ob sie ober- oder unterhalb der Seele liegen. Ebenso dürfte es bei den Schläfenpartien schwer sein, mit Sicherheit das Hinten oder Vorn zu bestimmen. Die Begriffe rechts und links schließen sich schon mehr der Symmetrie des Körpers an. Wer wüßte nicht rechts und links zu unterscheiden? Freilich nur praktisch, - nicht theoretisch.

Es gibt gar kein besseres Mittel, die Hilflosigkeit der Sprache und die Kopflosigkeit der dogmatischen Philosophien nachzuweisen, als die Beobachtung, daß der schärfste menschliche Geist über die Begriffe oben und unten, hinten und vorn, rechts und links nicht mehr weiß, als etwa die Raupe, die von ihrem abgefressenen Blatt hinweg ein neues sucht und mit dem freistehenden Vorderleib den Raum abtastet. Praktisch geht das tiefsinnige Koordinatensystem auch durch den Kopf der Raupe, und theoretisch -ist KANT auch nicht weiter gekommen. Kein Unteroffizier kann dem Rekruten begrifflich sagen, was rechts und links ist, und kein Philosophieprofessor seinem Studenten. KANT (und nach ihm SCHOPENHAUER) hat darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen dem rechten und dem linken Handschuh nur durch Anschauung (eigentlich nur durch Vergleichung mit den Händen) begriffen werden könne.

Es ist kaum zu glauben, aber selbst der geistreiche und tiefsinnige OTTO LIEBMANN (Zur Analysis der Wirklichkeit, II. Auflage, S. 46) glaubt rechts und links folgendermaßen erklären zu dürfen: "In der Breitendimension heißt , wenn man sich auf unserer nördlichen Hemisphäre nach dem Mittagspunkt der Sonne hinwendet, die Richtung nach Sonnenaufgang links, die nach Sonnenuntergang rechts. " Eine nützliche Regel! Da der Beobachter um die, Mittagszeit die Sonne nicht auf- und nicht niedergehen sieht, des Morgens und Abends wieder nicht ihren Mittagspunkt, so braucht er einen ganzen Tag (im Sommer bis achtzehn Stunden), um zu erfahren, was rechts und links ist. Und ich habe es immer anders gehört: Wenn man sich auf unserer nördlichen Hemisphäre nach dem Mittagspunkt der Sonne hinwendet, so hat man zur Linken Osten und zur Rechten Westen. Denn immerhin wissen wir ja doch, wo rechts und links ist, früher und sicherer, als wo Osten und Westen ist. Nur begrifflich wissen wir es nicht; und begrifflich scheint mir LIEBMANNs Definition eben auch nicht zu sein.

Wenn ich so lachend die Frage nach dem Sitz der Seele abweise, so verlasse ich die Absicht dieses Kapitels nicht, das überall nur sprachlichen Schutt beiseite schaffen möchte. Die Kinderfrage enthielt zwei Begriffe: die Frage nach dem "Sitz" wollte die Lage im Raume kennen von einem bestenfalls immateriellen, raumlosen Wesen; der Inhaber des Sitzes sollte die "Seele" sein, die wir schon als ein Wort achten gelernt haben.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906