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FRITZ MAUTHNER
Persönlichkeit
- Wörterbuch der Philosophie -

"Nur ein Haufe wandelbarer Gestaltungen ist dies; nicht findet sich hier eine Person."

Persönlichkeit gehört zu einer Gruppe künstlicher Worte, die eigentlich den Prinzipien aller Sprachgeschichte zu widersprechen scheinen. Analogiebildungen ohne Sinn und ohne Inhalt, von Wortphilosophen einem Wortsysteme zuliebe geformt, schleppen sie ihr leeres Dasein innerhalb des Systems eine Weile fort, bis eine popular-philosophische Mode das Wort der Gemeinsprache der Halbgebildeten zuführt und es dort, weil es als Wort einmal existiert, mit einem eigenen Inhalt füllt. So mag ein Wanderer eine leere Tasche, die er zufällig gefunden hat, mit Geld füllen, er muß nur Geld besitzen.

Aus  qualis, quantum, quid  usw. wurden solche Scheinsubstantive gebildet. Aus  idem  wurde die Eigenschaft auszudrücken versucht,  idem  und nicht  alter  zu sein, die  Identität;  und heute stellen Gendarmen nach dem neuen Erkennungsverfahren die Identität eines Strolches fest.  Persönlichkeit  ist uns seit GOETHE etwas wie ein höchstes Gut geworden, das letzte Ziel von Menschen, die sich nicht mehr als Atome einer Masse, eines Staates fühlen, sondern den Kern ihres eigensten Wesens zur Geltung bringen wollen: ihre  Individualität.  ( Atom, Staat, Geltung, Individualität,  besonders  Wesen,  lauter solche nachgefüllte Worte.) "Höchstes Glück der Erdenkinder ist nur die Persönlichkeit." Und auch dieses Wort war einst eine leere scholastische Analogiebildung, die Eigenschaft auszudrücken, daß ein Mensch eine  Person  ist.

Jurisprudenz, Theologie und Psychologie glaubten den Begriff der  personalitas  nötig zu haben. Die Frage war etwa, ob ein unvernünftiges Tier schon, ob der allweise Schöpfer der Welt noch eine Person sei. Die Jurisprudenz wollte den Tieren die  personalitas  absprechen, sie sollten keine Rechtssubjekte sein; die Theologie zermarterte sich, um den Personen der Trinität die  personalitas  zugleich zu- und abzusprechen. Diese  personalitas  wurde als eine Eigenschaft besessen; die Person  hatte  Persönlichkeit, wenn sie eine Person  war. 

Bis das Wort eigenes Leben gewann und erst ausgezeichnete, hervorragende Menschen Persönlichkeiten waren und endlich, in unseren Tagen, jeder Bummler, für jede Unterscheidung von dem verachteten Alltagsmenschen, für jedes Talentchen und jedes Laster, für jede Warze und jedes Verbrechen die Formel bereit hat: ich bin eine Persönlichkeit. Wir stehen in der Entwicklung dieser Wortgeschichte noch mitten drin und können nicht wissen, ob der Individualismus schon wieder in Rückgang begriffen ist oder im Fortschreiten. Beachtenswert ist, daß vorzüglich ganz junge Leute Persönlichkeiten sind, daß mit der Reife der Weltanschauung das Trotzen auf die Persönlichkeit nachzulassen pflegt.

Wir werden noch sehen, wie KANT auf diesen neuesten Bedeutungswandel eingewirkt hat. Vorläufig möchte ich nur bemerken, daß just KANT, weil er ethische Vorstellungen an den Begriff heranbrachte, wohl die Veranlassung wurde, daß die Persönlichkeit im Sinne GOETHEs sich theoretisch von der Ethik, von der allgemeinen Anschauung emanzipierte.

KANT nun, der mit unerhörter Kraft das Denken von religiösen und metaphysischen Abhängigkeiten befreit hatte, um leider mit fast gleicher Kraft die hergebrachte Ethik apriorisch zu begründen, erklärte den Begriff der Persönlichkeit daraus, daß der Mensch ein Zweck sei, ein Zweck an sich selbst, also doch wohl von einem lieben Gott als Zweck gesetzt.
"Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die  Menschheit  in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch  bloß als Mittel  gebraucht werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist  Zweck an sich selbst.  Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit ... die Persönlichkeit stellt uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Bestimmung nach) vor Augen." - Kritik der praktischen Vernunft
Aus dieser neuen Vorstellung kamen dann neue Hoheitsrechte des Menschen. Der Mensch hatte eine  Bestimmung,  wenn er ein Zweck war; es ist eigentlich eine Tautologie. Und weil der Mensch kein Mittel mehr war, so besaß er, was es sonst auf der Welt nicht gab.  Würde.  Über die Bestimmung des Menschen macht sich SCHILLER lustig; die Würde, die doch auf der Bestimmung ruhte, predigte er.

Machte man aber Ernst mit dem unmöglichen Begriff Zweck an sich selbst, löste man die Persönlichkeit von dem Schöpfer los, der allen Menschen den gleichen Zweck gesetzt hatte, so konnte das neue Wort Selbstzweck kaum mehr etwas anderes heißen als: der eigenste  Wille  der Persönlichkeit, des Individuums, weil doch irgend ein Wille hinter dem Zweck stecken muß. Und so führte die Persönlichkeit, nachdem KANT sie anstatt in der Erkenntnislehre in der praktischen Philosophie behandelt hatte, geradezu in den Individualismus, der sich nachher Anarchismus nannte. Für seine Person hatte GOETHE anarchische Neigungen.

KANT und GOETHE haben das alte Wort neu belebt. KANT hat die menschliche Persönlichkeit zu einem Selbstzweck gemacht, hat dadurch den Menschen, das auserwählte Geschöpf Gottes, außer die Natur, wenn nicht gar über die Natur gestellt, weil doch die übrige Natur niemals Zweck, immer nur Mittel sei - für den Menschen. GOETHE war weit entfernt von solchem Menschenhochmut; er war der erste Abendländer, der nicht mehr schmerzlich, der freudig, der fast jenseits der Sprache und fast jenseits logischer Begründung den Menschen in der Natur, als Teil der Natur erblickte, Einheit mit der Natur lehrte.

Trotz der Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte wirkten beide dennoch wieder auf die Gegenwart, besser gesagt, schenkten beide der Gegenwart die Begriffe, deren sie bedurfte. Und auf KANT wie auf GOETHE berufen sich heute mit gleichem Rechte die besten Köpfe eben dieser Gegenwart, die Modernen, wenn sie nicht nur alle abgestandene Religion, sondern auch die Vernunftmoral der letzten Jahrhunderte und die politische Moral der letzten Jahrzehnte zu ersetzen suchen durch die neue individualistische Lehre, durch die Forderung, die ihre fertige Form nocht nicht gefunden hat, weil sie von heute ist. Nachfolge WOLFGANGI GOETHE, der nichts wollte als sich ausleben. Freilich der Nachahmer ist nicht mehr individuelle! Werde wie du bist. Aber wer weiß, vor dem Ende, bevor er geworden ist, wie er ist? Wolle wie du bist? Dann kommt es aber schon mehr auf das Bewußtsein an als auf das Sein.

Alle diese Einwendungen stammen als Nutzanwendung von den Lehren der Wortgeschichte. War es ein hohler Wortschall, was der Persönlichkeit zu so hohem Rang in den Jahrhunderten der römischen Jurisprudenz und der Dogmenstreitigkeiten verhalf, an denen sich doch die Besten jener Zeiten beteiligten, wird nicht auch das Aufkommen der neuen Begriffe der individualistischen Persönlichkeit auf den alten hohlen Wortschall zurückgehen?

Der Sprachgebrauch bei KANT und bei GOETHE ist nicht ganz der gleiche, wie gesagt; GOETHE kannte keinen kategorischen Imperativ und hätte in seinem Kosmopolitismus nicht politisch nachwirken können, wie KANT es durch FICHTE in den Freiheitskriegen getan hat; aber beider Sprachgebrauch steht auf dem gleichen schwachen Unterbau. "Wolle wie du mußt" lehren beide, und beide bemerken nicht die Tautologie in dem klingenden Satze. Ist der Charakter des Menschen unveränderlich, wie KANT und GOETHE angenommen haben, wenn auch nicht ganz so schroff wie nach ihnen SCHOPENHAUER, so ist der Wille zwischen dem Motiv und der Handlung eine subjektive Nebenerscheinung, eine Täuschung, meinetwegen eine schöne Täuschung, wie der Regenbogen eine ist für das Auge zwischen Sonne und Regenwolke. "Handle wie du mußt." Aber ich kann ja nicht anders. "Wolle wie du mußt", d.h. handle wie du mußt. Oder höchstens: wolle wollen, d.h. wolle, wie du wollen mußt. Die Tautologie scheint von der Sprache gewollt.

Und da ich einmal für  Persönlichkeit  das andere Wort  Charakter  eingeführt habe, möchte ich zu SCHOPENHAUER allzu wortabergläubischer Lehre von der Unwandelbarkeit des Charakters etwas hinzufügen. Was ist denn das, was am Charakter unwandelbar, unveränderlich ist? SCHOPENHAUER war im Grunde ein Materialist auf einem idealistischen Isolierschemel. Er dachte sich beim Charakter etwas Reales. In Wahrheit ist der angeborene und unveränderliche menschliche Charakter nicht wirklich, nur vom Beobachter konstruiert, etwa wie der Schwerpunkt eines Körpers in den Körper hineingedacht ist und dennoch bei jeder Berechnung benützt werden kann. Löst sich ein Stück vom Felsen los, so hat es einen anderen Schwerpunkt, als der Felsen hatte. Mein Arm hat einen andern Schwerpunkt als mein ganzer Körper. Der Mensch in jeder Stunde seines Lebens einen anderen Charakterschwerpunkt als in einer früheren oder späteren Stunde. Ganz unveränderlich ist der Charakter eines Menschen erst nach seinem Tode bestimmt. Er wird vom Beobachter bestimmt.

KANT sagt einmal:
"Die Idee des moralischen Gesetzes allein, mit der davon unzertrennlichen Achtung, kann man nicht füglich eine Anlage für die Persönlichkeit nennen; sie ist die Persönlichkeit selbst (die Idee der Menschheit ganz intellektuell betrachtet) Aber daß wir diese Achtung zur Triebfeder in unsere Maxime aufnehmen, der subjektive Grund hierzu scheint ein Zusatz zur Persönlichkeit zu sein und daher den Namen einer Anlage zum Behufe derselben zu verdienen." - Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft
Ein andermal sagt KANT:
"Was den Menschen über sich selbst als einen Teil der Sinnenwelt erhebt ... ist nichts anderes als die Persönlichkeit, das ist die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur."
Und in den Reflexionen:
"In der Einheit des Charakters besteht die Vollkommenheit des Menschen."
KANT wußte von sich selbst, daß "die menschliche Vernunft ihrer Natur nach architektonisch ist", kannte aus sich selbst den "unüberschreibaren" Anspruch der Vernunft auf Einheit; daher seine Größe, aber auch sein System.

GOETHE war ein Dichter und Weiser, kein Architekt.
"Charakter im großen und kleinen ist, daß der Mensch demjenigen eine stete Folge gibt, dessen er sich fähig fühlt." - Sprüche in Prosa
Und ich glaube bestimmt, daß GOETHE an NAPOLEONs Lob: "Voila - ein Mensch" gedacht hat, als er im Diwan die schon erwähnten ehernen Worte schrieb:
"Volk und Knecht und Überwinder,
Sie gestehn zu jeder Zeit:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Sei nur die Persönlichkeit.
Jedes Leben sei zu führen,
Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist."
Wie reimt sich dazu die andere Weisheit GOETHEs, die in unzähligen Variationen  Beschränkung  lehrt, nicht nur die Beschränkung, "einen Gegenstand, wenige Gegenstände recht zu bedürfen"; wie reimt sich damit sein wachsender Haß gegen " unbedingte  Tätigkeit", die "von welcher Art sie sei, zuletzt Bankrott macht"?

Es reimt sich wie bei KANT, schlecht. KANT und GOETHE übersehen beide, daß sie von jeder Persönlichkeit, von jeder Person, von jedem Menschen also aussagen, was sie selbstbewußt an ihrer eigenen großen Persönlichkeit erlebt haben, was nur auf große Persönlichkeiten paßt: das unaussprechliche Gefühl, sich selbst allein Zweck und Gesetz zu sein, sprechen sie aus mit dem Wortschalle  Persönlichkeit,  und der edle GOETHE denkt wohl ergänzend an eine starke, der starke KANT an eine edle Persönlichkeit. Und Doktordissertationen sprechen es nach.

Und nicht nur Doktordissertationen. Keiner von uns mag gern auf das Wort verzichten, nachdem KANT und GOETHE uns das unaussprechliche Gefühl geschenkt haben. Keiner kann sich von der Sprache befreien, die mit ihm, in die er geboren war, die er von anderen hat, die nicht sein ist. Die Persönlichkeit, mein Ich ist ja bedingt, hat keine eigene Sprache, hat eine Sprache nur mit dem ganzen Volke, das doch nur aus Personen besteht, nicht aus Persönlichkeiten. Die eigene Persönlichkeit hat also doch auch ihre Moral und am Ende ihre Wissenschaft nur von der Sprache, keine eigene Moral, keine eigene Wissenschaft. Die Persönlichkeit ist gar nichts anderes als die Selbsttäuschung des Ichgefühls oder des Bewußtseins, ist gar nichts anderes als das bißchen Gedächtnis.

An einem begrifflich nah verwandten Worte will ich kurz zeigen, wie zufällig der Bedeutungswandel und wie unfaßbar die Bedeutung eines Wortes werden kann. (Ich verdanke die Anregung wie manche andere einer gut empfundenen kleinen Schrift von HANS DREYER: "Personalismus und Realismus".)  Individuum,  ein weniger höfliches Synonym zu Persönlichkeit, war ursprünglich eine Lehnübersetzung von  atomos.   Atom  und  Individuum  wurden aber zu Gegensätzen. Individuum ist, was nicht geteilt werden darf, wenn wir noch von einem Individuum sprechen wollen; Atom ist, was nicht weiter geteilt werden kann, solange wir an Atome glauben. Das Atom stellen wir uns analytisch vor, als etwas Relatives, Konkretes; das Individuum stellen wir uns synthetisch vor, als etwas Absolutes, Abstraktes.

Aber in der Bedingtheit des sozialen Lebens, im Staate, in der Statistik wird eben das Individuum zum Atom. Will das Individuum eine Persönlichkeit sein, unbedingt sein, sich der Statistik und den Moralgesetzen nicht fügen, so wird es ein schlechter Staatsbürger. Und KANT, der Lehrer von FICHTE und von WILHELM von HUMBOLDT, dürfte den Selbstzweck dieser Persönlichkeit nicht mehr anerkennen, GOETHE müßte mit dem Bankrott der unbedingten Tätigkeit drohen.

Was bleibt von dem stolzen Begriffe Persönlichkeit noch übrig? Vielleicht nicht mehr als ein seltsamer Hilfsbegriff der Astronomie, der exaktesten aller angewandten Wissenschaften. Die Astronomen haben bemerkt, daß nicht nur die Instrumente systematische oder zufällige Fehler verzeichnen lassen, sondern daß auch die einzelnen Forscher bei der Zeit- oder Helligkeitsbestimmung wie bei der Winkelmessung Fehler mit einer ganz bestimmten Tendenz machen. Der eine hat die Neigung, Hundertstel von Sekunden nach dem Dezimalsystem abzurunden, der andere die Hundertstel zu erhöhen oder zu verkleinern. Diese Fehlerquelle hat man die  persönliche Gleichung  genannt; die Fehler können durch Kontrollberechnungen verkleinert, niemals aber völlig aus der Welt geschafft werden. Das scheint mir übrig zu bleiben: die Persönlichkeit ist die Fehlerquelle der nach ihren persönlichen Möglichkeiten handelnden Menschen. Und sollte jemand das wieder skeptisch finden, so möchte ich mich auf KANT berufen:
"So ist der Skeptizismus ein Ruheplatz für die menschliche Vernunft, da sie sich über ihre dogmatische Wanderung besinnen und den Entwurf von der Gegend machen kann, wo sie sich befindet, um ihren Weg fernerhin mit mehrerer Sicherheit wählen zu können, aber nicht ein Wohnplatz zum beständigen Aufenthalte." - Kritik der reinen Vernunft
KANT sagt das, wo er mit besonderem Stolze seinem eigenen Werke die Stelle anweist. Skepsis ist kein Wohnplatz, nur ein Ruheplatz. Wer sich völliger Gewißheit, die KANT unmittelbar darauf für einen Wohnplatz verlangt, nicht rühmen kann, der wird in seiner Obdachlosigkeit den Ruheplatz nicht schelten. Und sich auf BUDDHA berufen dürfen, den ältesten Lehrer der  docta ignorantia,  trotzdem er kein Skeptiker war. In den Sprüchen buddhistischer Nonnen ist zu lesen (für die deutschen Worte ist der Übersetzer verantwortlich):
"Nur ein Haufe wandelbarer Gestaltungen ist dies; nicht findet sich hier eine Person."
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, München und Leipzig 1910