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FRITZ MAUTHNER
Wahrheit und Skepsis

"Der Schrecken vor dem Relativismus kam eigentlich daher, daß die Dogmatiker ewige, absolute Wahrheiten nicht nur auf dem Gebiete der Erkenntnis annahmen, sondern auch innerhalb des Heiligtums der Moral. Wurden auch die moralischen Wahrheiten für relativ erklärt, dann mußte die Welt zugrunde gehen. Dann waren die Lüge und der Teufel nicht mehr schwarz. Dann war Lüge keine Sünde mehr, und der Menschheit war aller Wert geraubt."

Skepsis ist Zweifel. Wer glaubt, glaubt an Wahrheit. Fast grotesk steht die personifizierte Wahrheit, die ewige Wahrheit, die  stabilis veritas  weil sie Gott selber ist, für den gläubigen AUGUSTINUS da. Ob die Wahrheit an den Dingen hafte oder am menschlichen Denken, an unseren Vorstellungen oder an unseren Urteilen, darüber ist endlos philosophiert worden. Alle Logiker haben den Wahrheitsbegriff auf das Denken oder das Urteil eingeschränkt: ARISTOTELES, THOMAS, DESCARTES, aber auch HOBBES.

Jetzt, wo wir uns dem Ende der Untersuchung nähern und das Wort Wahrheit kein Fetisch mehr für uns ist, können wir mit freier Heiterkeit an die alte Streitfrage herantreten. Wer die Wahrheit in die Dinge verlegt, der hat den Glauben an seine Sinne; indem er seine Sinneseindrücke zweimal glaubt, zweimal setzt, einmal subjektiv und einmal objektiv, stellt er Übereinstimmung zwischen Sein und Wirklichkeit her und nennt es  Wahrheit,  daß identische Dinge identisch sind. Wer die Wahrheit in sein Urteil verlegt, gibt dem Wahrheitsbegriff womöglich noch geringeren Inhalt: einmal urteilt er (selbstverständlich richtig, d.h. nach seinem besten logischen Gewissen), sodann glaubt er an die Richtigkeit seines richtigen Urteils und nennt diesen seinen Glauben an die  Wahrheit.  HOBBES, den ich eben unter den Denkern aufgeführt habe, die die Wahrheit ins Urteil allein verlegten, zog schon die Konsequenzen aus dieser Ansicht. Wir kennen keine anderen Urteile als sprachliche; also sind  wahr  und  falsch  Attribute der Rede, der Worte, eines Satzes. Und ein Satz ist wahr, wenn das Prädikat das Subjekt in sich mitenthält. Ich glaube nicht, daß ich die Ansicht des starken HOBBES mißverstehe, wenn ich sie nun so ausdrücke:  nur tautologische Sätze sind wahr. 

Immer waren es nur gläubige Menschen, ob sie nun an den allweisen und allgütigen Gott, der uns doch mit dem Glauben an seine Wahrheit nicht betrogen haben konnte, oder ob sie an ein starres System glaubten, immer waren es Dogmatiker, die von einer göttlichen, einer ewigen, einer absoluten Wahrheit redeten. Immer waren es die freien Geister, die Ketzer in Religion und Philosophie, die Zweifler, die die Vorstellung, alle menschliche Erkenntnis sei relativ, auch auf den höchsten Erkenntnisbegriff anwandten, auf die Wahrheit. HERBART ("wir leben einmal in Relationen und bedürfen nichts weiter"), SPENCER ("we think in relations") haben eigentlich dem Ketzerworte  Relativität  seine Schrecken genommen; sie leugnen ja das Absolute gar nicht, das Reale, es ist für uns nur  unknowable.  Wir wissen ja nichts als Relationen, weil unser Wissen selbst nur eine Relation ist, eine Beziehung des Ich zu dem Anderen. Nur ein Stocklogiker wie HUSSERL kann das leugnen wollen: "was wahr ist, ist absolut, ist an sich wahr". Im Grunde ganz richtig: man sollte nur das  absolut  Wahre  wahr  nennen, also das Wort  wahr  gar nicht gebrauchen.

Diesen Relativismus des Wahrheitsbegriffs hat GOETHE all in seiner Weisheit schön ausgesprochen: "Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiße ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben und es ist doch immer dieselbige." Nebenbei hat GOETHE einmal auch das Haften des Wahrheitsbegriffes an den Worten klar ausgedrückt: "Der Irrtum wiederholt sich immerfort in der  Tat,  deswegen muß man das Wahre unermüdlich in Worten wiederholen." Es wäre nützlich, wenn der weiseste Deutsche, öfter als es geschieht, im philosophischen Wortstreite zu Worte käme.

Der Schrecken vor dem Relativismus kam eigentlich daher, daß die Dogmatiker ewige, absolute Wahrheiten nicht nur auf dem Gebiete der Erkenntnis annahmen, sondern auch innerhalb des Heiligtums der Moral. Wurden auch die moralischen Wahrheiten für relativ erklärt, dann mußte die Welt zugrunde gehen. Dann waren die Lüge und der Teufel nicht mehr schwarz. Dann war Lüge keine Sünde mehr, und der Menschheit war aller Wert geraubt. Das Werturteil am Wahrheitsbegriff, die internationale Vermischung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit, wirkten zusammen, als man sich über NIETZSCHEs antimoralische Verteidigung der Lüge entsetzte. Über NIETZSCHEs Lehre: daß der Irrtum das lebenerhaltende Prinzip sei.

Die Deklamationen gegen die Lüge als das eigentlich teuflische Laster sind den christlichen Theologen seit jeher geläufig gewesen. Philosophisch hat erst KANT diesen Abscheu vor der Lüge zu begründen gesucht. SCHOPENHAUER billigt die Lüge mindestens überall da, wo Notwehr gestattet wäre. Auch der feine Menschenkenner BACON ist ein Verteidiger der Lüge. In seinem Essay "Von der Wahrheit" vergleicht er die Wahrheit mit einer Perle, die sich am schönsten bei Tage ausnimmt, nie aber den Preis eines Diamanten erreicht, der sich am besten bei schimmerndem Kerzenlicht, dem verlogenen Mummenschanz der Welt, betrachten läßt. Die Mischung mit Lüge und Betrug gleicht dem unedlen Zusatz in Gold- und Silbermünzen, der das Metall erst zum Verarbeiten geschickt mache. Unendlich oft ist die Lüge von Dichtern entschuldigt oder gar gepriesen worden, dei ja die nächsten dazu sind; niemals gütiger von Grillparzer am Ende seines menschlich-weisen Lustspiels "Weh' dem, der lügt": "Das Unkraut (die Lüge) merk ich, rottet man nicht aus. Glück auf, wächst nur der Weizen etwa drüber."

Niemals grimmiger als von Ibsen in der "Wildente": der Arzt Relling rettet die Leute, die er lieb hat, dadurch, daß er die Lebenslüge in ihnen konserviert, das stimulierende Prinzip, die Fontanelle, die er ihnen in den Nacken setzt. So eine Lebenslüge ist der Quatsch, den er erfunden hat, um den Mann am Leben zu erhalten. "Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge und Sie nehmen ihm zur gleichen Zeit das Glück ... gebrauchen Sie doch nicht das Fremdwort  Ideale;  wir haben ja unser gutes Wort  Lügen." 

IBSENs konservierte und konservierende Lebenslüge deckt sich überraschend gut mit NIETZSCHEs Gedanken über die biologische Nützlichkeit des Irrtums. Es ist schwer, wie bei NIETZSCHE immer, diesen Gedanken rein und klar auszulösen. Nicht weil NIETZSCHE kein System hinterlassen hat, nicht weil er ein Aphorismenschreiber war. Von NIETZSCHE selbst stammt ja das prächtige Wort: "Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Aphorismen sind immer Halbwahrheiten; da wir aber niemals die ganze Wahrheit haben, so wird da das Halbe mehr sein, als das Ganze. Auch die oft bis zum Krankhaften gesteigerte Sucht, auf den Krücken der Sprache, über wortspielerische Antithesen zu sich übersteigernden Paradoxien zu kommen, kann die helle Lust an der skeptischen Persönlichkeit Nietzsches nur selten trüben.

Aber NIETZSCHEs leidenschaftliches Denkinteresse in allen seinen  Begriffsdichtungen  galt dem Leben, galt der Umwertung der Lebenswerte; erkenntnistheoretische Untersuchungen trieb er nur nebenbei und war mit diesen Einfällen, Feuerwerk- und Blitzfunken, so wenig zufrieden, daß er sie fast nie veröffentlichte, daß er uns das Gerüst seines Philosophierens nicht zeigte, undeutsch genug, da doch der größte deutsche Philosoph zumeist um des Gerüstes willen berühmt geworden ist, mit dem er sich und uns oft erdrückt. Deutsches Gelehrtenideal wäre es, das Gerüst um jeden Dom für ewige Zeiten stehen zu lassen. Was nun Nietzsche nur selten fertig gedacht hat, hat pietätvolle Leichenschändung auf den Markt geworfen, und aus den wüsten Nachlaßbänden allein versucht man jetzt NIETZSCHEs Erkenntnistheorie zu rekonstruieren.

 Irrtum  und  Lüge  werden für NIETZSCHE zu Wechselbegriffen, weil er, auch darin  undeutsch  und wieder der deutscheste der Deutschen, nicht ein Geschäftsmann des spekulativen Denkgeschäftes war, sondern zutiefst an seinem Denken litt, das er erlebte. Wie kann man weiterleben, wenn man die Lebenslügen durchschaut hat? Wenn man die lebenerhaltenden Lügen aufgedröselt hat? In der Antwort auf diese faustische Frage steckt der ganze kranke entzückende NIETZSCHE. Die Masse glaubt an die Illusionen, läßt sich also gar nicht stören. Der Denker, der hinter das Geheimnis des Lebensirrtums oder der Lebenslüge gekommen ist, geht zugrunde, wenn er ein Schwächling ist. Nur der stärkste, der arme, kranke NIETZSCHE, hält die Wahrheit aus, daß es keine Wahrheit gibt.

"Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urteil ... die Frage ist, wie weit es lebensfördernd, arterhaltend, vielleicht gar artzüchtend ist; und wir sind grundsätzlich geneigt, zu behaupten, daß die falschesten Urteile ... uns die unentbehrlichsten sind, ... daß Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre." Die Wahrheit hat einen moralischen Wert, die Unwahrheit einen biologischen. Wahrhaft sein heißt "herdenweise lügen". Einverleibte Irrtümer nennen wir wahr. NIETZSCHE nennt  wahr,  was uns nützt, wie die Menschheit seit Urzeiten  gut  genannt hat, was ihr nützte. Die Pragmatisten verstehen unter derselben Wortfolge etwas anderes.

Was immer SPINOZA gegen den Begriff  gut  vorgebracht hat, hätte NIETZSCHE gegen den Wahrheitsbegriff wiederholen können. Und eine einzige Überlegung müßte ihm recht geben: die Menschheit hat seit ihrer Existenz die Wahrheit niemals besessen und hat dennoch weitergelebt. Nur daß es wieder ein Spiel mit Worten ist, das Positive, das allein lebenserhaltend sein kann, weil wir es nicht kennen, mit der beschimpfenden Negation  Irrtum  oder  Lüge  nennen.(1) Was unknowable ist, ist unknowable, mag man es feierlich als das Absolute oder respektlos als Irrtum bezeichnen. Das englische Schlagwort  agnosticism  ist so übel nicht.

In sprachlicher Beziehung recht unglücklich hat RICHTER in seinem übrigens lesenswert und tapferen Buche den individuellen Agnostizismus NIETZSCHEs als biologischen Skeptizismus klassifiziert; NIETZSCHE bewertet Wahrheit und Irrtum biologisch; "biologischer Skeptizismus" erinnert ein bißchen an die reitende Artilleriekaserne (an die mich auch der "linguistische Skeptizismus" erinnert, womit Richter meine eigenen Ideen beehrt.)

NIETZSCHE wollte, wie HUME, nicht ein Skeptiker heißen. Die konsequenten griechischen Skeptiker, die jedes Urteil für unmöglich erklärten, hätten ja nicht leben können, wenn sie ganz konsequent gewesen wären. Buridans Esel, der wegen der Unfreiheit des Willens, des menschlichen Willens (hätte ich fast gesagt), zwischen zwei völlig gleichen Heubündeln verhungern muß, scheint noch ein kluger Esel neben dem skeptischen Esel, der sein einziges Heubündel nicht fressen kann, weil er an der Wirklichkeit des Heus zweifelt, auch nicht weiß: ob er ein Esel sei, ob er wirklich fressen könne.

Wie dieser skeptische Esel hätte die Menschheit verhungern müssen, wenn sie nach der skeptischen Theorie, der einzigen Wahrheit gelebt hätte. Der lebensbrünstige NIETZSCHE wollte kein solcher Skeptiker sein, gewiß auch kein biologischer Skeptiker. "Individuellen Relativismus" mag man seine Lehre nennen, wenn man schon klassifizieren will: "Woran ich zugrunde gehe, das ist für mich nicht wahr - d.h. es ist eine falsche Relation meines Wesens zu anderen Dingen. Denn es gibt nur individuelle Wahrheiten - eine absolute Relation ist Unsinn." Wir besitzen also keine Wahrheit, die absolut wäre, wir müssen uns mit Meinungen begnügen. Mit dem  Glauben,  der uns als Ersatz für die  Wahrheit  nun zum dritte Mal begegnet.

Die Sprache zappelt sich an solchen Begriffen jämmerlich ab.  Wahr  sollte sein, was der Wirklichkeit entspricht.  Glauben  nennen wir unser Verhältnis zu Vorstellungen oder Urteilen, wenn wir sie für  wahr  halten, d.h. wenn wir nicht wissen, daß sie wahr sind, wenn wir sie also  nicht  für wahr halten. Es wäre wohl besser, die Resignation zu wählen, in Goethes Orden der  Ent-sagenden  einzutreten.

Die deutsche Sprache hat einmal einen tollen Witz gemacht und mit dem Wahrheitsbegriff Schindluder getrieben. Eine Beteuerung der Wahrheit war im Mittelhochdeutschen  allwaere  (althochdeutsch  alawâr  = verissimus). Als seine Herkunft nicht mehr gefühlt wurde, wurde daraus durch Lautwandel  alber,  seit GOTTSCHED und GELLERT  albern.  Wir wissen, was dieses alte  alwaere  jetzt bedeutet. LUTHER übersetzt (Spr.Sal.14,15):  ein Alber gläubet alles. 
LITERATUR - Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, 3Bde., Leipzig 1910/11
    Anmerkungen
  1. Ein vielzitiertes Wort SCHILLERs gehört höchstens als Ornament hierher: "Nur der Irrtum ist das Leben, Und das Wissen ist der Tod." Die Verse finden sich in dem Gedicht "Kassandra", sind dramatisch in die Seele der Wahrsagerin hineingedacht und meinen eigentlich das prophetische Wissen vom künftigen Schicksale; diese Stimmung wird von dem Kantschüler noch schärfer ausgesprochen in den Versen: "Zukunft hast du (der Gott) mir gegeben, Doch nahmst du mir den Augenblick." Freilich verallgemeinert Schiller die Stimmung Kassandras: Alles Wissen macht unglücklich. "Frommt's den Schleier aufzuheben?" "Wer erfreute sich des Lebens, der in seine Tiefen blickt?"
    Trotzdem ist noch ein weiter Abstand zwischen Nietzsches Paradoxon von dem biologischen Nutzen des Irrtums und Schillers klingender Antithese. Aus einem sehr einfachen Grunde. Schiller meint gar nicht den Irrtum, den Gegensatz zur Wahrheit. Er meint das Nichtwissen, den Gegensatz zum Wissen. Er hat wohl nur - mit dem Hute in der Hand bemerke ich's - des leidigen Rhythmus wegen  Irrtum  für  Nichtwissen  gesetzt. Und zur Strafe dafür und weil der Gegensatz zu  Irrtum  es fast fordert, wird die Stelle oft falsch zitiert, von Fontane, von R.Richter: "Nur der Irrtum ist das Leben, Und die Wahrheit ist der Tod."