ra-2cr-3ra-1L. PohorillesG. Mehlis WindelbandB. RussellG. Landauer 
 
PETER KAMPITS
Fritz Mauthner -
oder Sprachskepsis und Mystik


"In der Logik ist das Wort frech geworden, wie in der Ethik und Ästhetik."

Wir sind heute gewöhnt, daß die "Sache der Sprache" nicht zuletzt durch die überragende Gestalt LUDWIG WITTGENSTEINs eine Art Dauerbrenner oder Evergreen auf der philosophischen Bühne darstellt. Sprache ist in der verzweigten Landschaft der Gegenwartsphilosophie eines der beherrschenden Schlüsselthemen geworden. Nicht von ungefähr gehen auch die Kritik an der ehrwürdigen Denkgestalt der Metaphysik und die Beschäftigung mit Sprache miteinander Hand in Hand. Von der Sprache aus wird eben diese traditionelle Philosophie einer harten, wenn nicht vernichtenden Kritik zu unterziehen versucht.

Daß die Beschäftigung mit Sprache gerade im österreichischen Raum eine um die Jahrhundertwende nahezu beherrschende Stellung einnimmt, läßt sich an Hand der Dichtung von HOFMANNSTHAL bis RILKE oder KAFKA, ebenso zeigen wie in der Philosophie. FRITZ MAUTHNER war beides: Dichter und Philosoph, Journalist und Parodist obendrein, aufgewachsen in Prag sprachlich von Kind an mit Deutsch, Tschechisch und Hebräisch konfrontiert, aber in keiner der drei Sprachen eigentlich zu Hause. Dies hinderte ihn nicht, ein brillianter Journalist und Parodist zu werden, allerdings nicht in Österreich, sondern in Berlin, im Deutschen Kaiserreich, dessen Begründer OTTO von BISMARCK er glühend verehrte.

Als Lyriker, Verfasser von Novellen, Romanen und Dramen verstand er sich gleichermaßen durchzusetzen wie als Journalist und beißender Kritiker. Zur Berühmtheit verhalf ihm in erster Linie der Parodienband "Nach berühmten Mustern", den er 1878 veröffentlichete und der dem "langen, spindeldürren jungen Kerl mit einem ganz wüsten Haarschopf, langer scharfer Nase und einem wilden Vollbart" Anerkennung, aber auch viele Feinde einbrachte. Die Dichter AUERBACH, SCHEFFEL und FREYTAG gehörten zu den Parodierten, SACHER-MASOCH, die MARLITT und RICHARD WAGNER.

Mag sein, daß auch der Sinn für die Parodie die bis zur Verzweiflung an der Sprache gehende Sprachkritik MAUTHNERs mitbestimmt hat neben jenem "Sprachschreck", der ihn - ähnlich wie HOFMANNSTHAL im Chandos-Brief - auf einem langen Spaziergang überfiel und der ihm mit einem Male klarmachte, daß weder der Sprache etwas in der Wirklichkeit entspricht noch daß sie uns als Instrument der Erkenntnis dienen kann.

Dies ist im Grunde der Leitgedanke seines zweibändigen Werkes "Beiträge zu einer Kritik der Sprache", das 1901 erschien und von den Zeitgenossen auch bald in seiner Radikalität und Negation aller Kultur der Zeit begriffen wurde. "Das Buch ist ein unerhörter Protest gegen Welt, Mensch und Gott", hieß es in einer zeitgenössischen Rezension. Im gesamten Europa und natürlich auch im deutschsprachigen Raum und in Österreich um die Jahrhundertwende herrschte eine Art Aufbruchsstimmung, die Erwartung des Anbruches einer neuen Zeit, während das Fin de siècle (Ende des (19.) Jahrhunderts) immer noch in einer elegischen Grundstimmung schwelgte.

Einerseits gefiel man sich in einer langwährenden friedlichen, von aufblühender Industrialisierung, Wohlstand der Gründerzeit und bürgerlicher Sicherheit ausgeprägten Epoche. Andererseits schoben sich aber auch die Schattenseiten dieser Entwicklung in den Vordergrund: neben der sozialen Problematik verdüsterten Nationalismus und Antisemitismus besonders in Österreich -Ungarn des Ästhetizismus und Impressionismus den Horizont des politischen und kulturellen Lebens. Apolitische Einstellungen prallten auf heftiges politisches Engagement, die scheinbar genußfreudige Kaffeehauskultur fand in latenter Todesahnung, ja Todessehnsucht ihre Ergänzung.

So sehr Thron und Altar, Bürokratie und Militär eine nach außen unverrückbare und unverserte Ordnung darstellten, so sehr mehrten sich bereits Zerfallserscheinungen, wie sie im puristischen Streben nach absoluter Moral etwa eines WEININGER, KRAUS oder WITTGENSTEIN sichtbar werden und nim nach außen hin amoralischen Ästhetizismus und Genußstreben.

Gewiß, MAUTHNER lebte seit 1876 in Berlin, und seine deutsch-nationalistische Gesinnung, seine Bewunderung für BISMARCK scheinen wenig an österreichischen Zügen zu verraten. Seine Verwurzelung im böhmischen Judentum konnte MAUTHNER aber nicht nur nie ablegen, sie macht erst viele seiner Grundgedanken verständlich.

MAUTHNER wurde in Horzitz, einem kleinen Städtchen zwischen Königgrätz und Prag, als Sohn eines Fabrikanten geboren. Wohl war der Vater ein Repräsentant jenes assimilierten Judentums, dem die eigene Abstammung auch durch die äußeren Umstände kaum zum Problem wurde, der Großvater aber, der das biblische Alter von 111 Jahren erreichte, hat die philosophische und religiöse Haltung seines Enkels zutiefst geprägt. MAUTHNER betont auch in seiner Biographie, daß sich seine Sprachkritik "zuerst und zumeist an religiösen Begriffen entwickelt habe", auch wenn er hinzufügt, daß ihm eine Befreiung von den religiösen Lügen dringend geboten schien.

Bereits nach wenigen Jahren siedelte die Familie nach Prag über, und MAUTHNER entwickelte im Gegensatz etwa zu vielen Prager Dichtern, wie beispielsweise JOHANNES URZIDIL, eine ausgesprochene Abneigung gegen das Prager Deutsch und gegen das Kuchelböhmische, ein von Deutsch durchsetztes Tschechisch. Der kaufmännischen Ausbildung seiner beiden älteren Brüder, die später eine beachtliche Stellung im österreichischen Finanz- und Wirtschaftsleben einnahmen und ihren Bruder zeitlebens finanziell unterstützten, entzog er sich, um als freier Schriftsteller und Journalist zu leben.

Sein Jusstudium brach er nach einem Erlebnis der Todesnähe ab (auf einer einsamen Wanderung im Böhmerwald erlitt er einen Blutsturz). Wohl bezeichnet er rückwirkend die Sprachkritik bereits als entscheidendes Lebensziel dieser Zeit, es dauert aber immerhin noch über zwanzig Jahre, bis er dieses Unternehmen verwirklichen kann. Unzählige Artikel, Parodien, Romane und Kritiker sichern ihm einen wichtigen Platz im geistigen Leben Berlins, obwohl ihn sein Witz und Spott gelegentlich zu nicht gerade feinen Mitteln greifen lassen:
    des damaligen Modephilosophen EDUARD von HARTMANNs "Philosophie des Unbewußten" wird für MAUTHNER zu einer "Philosophie des unbewußten Hühnerauges", und in seinem Roman "Xanthippe" heißt es über SOKRATES: "Herr Sokrates hat zur Bildhauerei soviel Talent wie eine Eule zum Flötenblasen. Er hat die schönsten Einfälle und kann die Werke anderer vortrefflich rezensieren. Wenn er aber selbst den Meißel zur Hand nimmt, leistet er nicht viel mehr als jeder Steinklopfer auf der Straße, er macht Marmor klein. Zum Steinmetz ist der Herr zu vornehm, zum Baumeister zu geistreich und zu verrückt."
In diesen Jahren entstehen die Freundschaften zu MAXIMILIAN HARDEN, GERHART HAUPTMANN und, die vielleicht wichtigste, zum religiösen Anarchisten, Sozialutopisten und Mystiker GUSTAV LANDAUER. LANDAUER wird in der Periode der Entstehung der "Sprachkritik" zu wichtigsten Kritiker und Gesprächspartner. Als eine Netzhautblutung MAUTHNER unfähig zum Lesen und Schreiben macht, bietet LANDAUER den Verzicht auf jede politische Agitation an, um MAUTHNER als Mitarbeiter zur Verfügung zu stehen.

LANDAUER begreift MAUTHNERs Arbeit letztlich als das Werk eines Mystikers. Andere, wie etwa LUDWIG WITTGENSTEIN, dessen eigenes Denken MAUTHNER so ähnlich und unähnlich zugleich ist, greifen die grundlegende Sprachkritik auf, um sie auf andere Weise zu vollziehen. Und CHRISTIAN MORGENSTERN, der MAUTHNER als "unseren ehrlichsten, wichtigsten und fleißigsten Vorposten" feiert, hat einen FRITZ-MAUTHNER-TAG angekündigt:

Aus dem Anzeigenteil einer Tageszeitung des Jahres 2407
Vorankündigung
22.November Fritzmauthnertag
Spectaculum Grande
Großes Wörterschießen! Preise bis zu 1000 M!

Mittelpunkt der Veranstaltung:
Zehnmaliges Erschießen des Wortes
"Weltgeschichte"
durch je zehn Scharfschützen
zehn deutscher Stämme...

KURT TUCHOLSKY freilich fragte im Hinblick auf MAUTHNER: "Is er denn e Ozean, daß er kann sein zugleich tief und flach?" Und andere sprechen von einem "auf sprachphilosophischem Gebiet dilettierenden Journalisten" oder der "Anekdotensammlung eines alternden Lokalredakteurs". Wieder andere sehen darin den mittelalterlichen Nominalismus mit seinem Infragestellen aller Allgemeinbegriffe bis zur letzten Konsequenz und damit ad absurdum geführt oder einen extrem linguistischen Skeptizismus.

Freilich bereites MAUTHNERs gelegentlich in Monströs-Skurrile abschweifende Darstellungsweise dem Leser einige Mühen. MAUTHNER macht sich auch aus prinzipiellen Gründen wenig aus Systematik und ist sich auch aus prinzipiellen Gründen wenig aus Systematik und ist sich auch dessen bewußt, daß seine radikale Sprachskepsis und Sprachkritik sich paradoxerweise der Sprache bedienen muß:
    "Will ich emporklimmen in der Sprachkritik, die das wichtigste Geschäft der denkenden Menschheit ist, so muß ich die Sprache hinter mir und vor mir und in mir vernichten, von Schritt zu Schritt, so muß ich jede Sprosse der Leiter zertrümmern, indem ich sie betrete. Wer folgen will, der zimmere die Sprossen wieder, um sie abermals zu zertrümmern. In dieser Einsicht liegt der Verzicht auf die Selbsttäuschung, ein Buch zu schreiben gegen die Sprache in einer starren Sprache."
Auch WITTGENSTEIN verwendet dieses Leiterbeispiel, wenn er gegen Ende seines "Tractatus logico-philosophicus" darauf verweist, daß derjenige, der ihn verstehe, seine Sätze überwinden, auf ihnen über sie hinaus steigen müsse, um dann die Leiter wegzuwerfen. Aber für Wittgenstein gibt es eine Entsprechung zwischen der Struktur der Sprache und derjenigen der Wirklichkeit, ja sogar eine abbildende Beziehung. Der sinnvolle Satz bildet die Wirklichkeit gleichsam ab, und nur dort, wo wir Unsinniges sagen, das heißt zugleich die Grenzen des Sagbaren überschreiten, geht die Sprache ins Leere.

MAUTHNER spricht der Sprache radikal und grundsätzlich diese Beziehung zur Wirklichkeit ab. Darum ist sie weder ein Medium oder ein Werkzeug für unsere Erkenntnis noch ein solches der Verständigung oder Kommunikation, wie wir heute sagen würden, unter den Menschen. Im Gegenteil, wenn auch die Sprache unsere Erscheinungswelt gewissermaßen konstituiert, ähnlich wie nach KANT die Anschauungsformen Raum und Zeit dies tun, so verstellt sie uns zugleich auch den Zugang zur "wirklichen" Wirklichkeit. So wie die Sprache, weil zwischen Menschen gesprochen, scheinbar als Verständigungsmittel dient, so sehr macht sie "wirkliche" Verständigung unmöglich.

MAUTHNER sieht in der Sprache vielmehr einen Gebrauchsgegenstand, ein Spiel, ein Regelsystem, das nur durch seinen Gebrauch Bedeutung erlangt. Gerade dadurch wird sie für die Wirklichkeit irrelevant:
    "Die Sprache ist nur ein Scheinwert wie eine Spielregel, die auch um so zwingender wird, je mehr Mitspieler sich ihr unterwerfen, die aber die Wirklichkeitswelt weder ändern noch begreifen will."
Gerade aber der Gebrauch der Sprache, der für WITTGENSTEINs Spätphilosophie so bedeutsam werden wird, enthält nach MAUTHNER Gründe für die Disqualifikation der Sprache - als Verständigungsmittel des täglichen Lebens liegt die Sprache nachgerade unter der Würde einer kritischen Betrachtungsweise:
    "Für das irdische Wirtshaus natürlich, für das Mitteilungsbedürfnis ist sie brauchbar, für das Schwatzvergnügen der Wirtshausgäste und für die Zurufe an den Speisenträger. Da kommt man mit der Sprache recht weit."
Denn mit der Sprache ist es so wie mit gewissen elektrotechnischen Maschinen: der Fachmann weist auf Unzulänglichkeiten hin, erklärt, daß dies Ding theoretisch gar nicht funktionieren kann, und dann funktioniert es doch. Freilich gibt MAUTHNER andererseits der Umgangssprache insofern einen gewaltigen Vorsprung, als er sie - und den Gebrauch - gegen Logik und Definition ausspielt. Von professioneller akademischer Philosophie hält er ohnedies nichts.

Philosophie ist ihm in sich selbst eine Täuschung, wenn auch eine aus einer wahren Sehnsucht. Der Ursprung dieser Täuschung liegt in der Sprache, die keine Kriterien für sinnloses oder sinnvolles Sprechen bereithält und darum in der Philosophie zum bloßen Geschwätz herabsinkt, zum Mißbrauch einer völlig entleerten Sprache. Das gilt auch für die Logik, die nur die abstrakte Struktur der Sprache darstellt:
    "In der Logik ist das Wort frech geworden, wie in der Ethik und Ästhetik."
Will man darum ein Wort verstehen so soll man nicht in Lehrbüchern der Philosophie nach Definitionen fordern, sondern fragen, was die redenden Menschen damit bezeichnen.

Diese und ähnliche Äußerungen führten dazu, aus MAUTHNER einen Vorgänger der "Ordinary language theory", der sogenannten "Philosophie der normalen Sprache", zu machen. Aber sein Vertrauen in den Gebrauch ist zu gering, um dies wieder zu einer Theorie auszubauen. Überdies sieht MAUTHNER verächtlich und für die Individualität plädierend auf den "sozialistischen, ja kommunistischen" Charakter der Sprache herab, aus dem nur Zwang entstehen kann.

Die Macht der Sprache ist für MAUTHNER etwas, dem sich niemand zu entziehen vermag. Sie schreibt uns vor, was und wie wir zu denken haben, denn nach MAUTHNER stehen Denken und Sprechen in einer engen, nahezu identischen Beziehung zueinander. Wohl sieht sich MAUTHNER später genötigt, diese Auffassung zumindest teilweise zu revidieren, aber die Allmacht der Sprache über uns bleibt für ihn aufrecht. Außerhalb der Sprache gibt es kein Denken - darum kann auch das Denken uns keinen Schlüssel zur Wirklichkeit in die Hand geben. Denken wird gleichsam zum "Illusionsinstrument des Menschen".

Wohl aber gibt MAUTHNER einen wichtigen Zusammenhang zwischen Sprache und Gedächtnis zu: die Sprache hält Sinneseindrücke fest und legt sie im Gedächtnis nieder, ja sie ist für ihn im Grunde nichts anderes als Gedächtnis. Zur näheren Erläuterung des Gedächtnisses als eines Festhaltens der Sinneseindrücke bedient sich MAUTHNER des Begriffes der "Zufallssinne", für den er sich auf die Empfindungslehre des Physiker-Philosophen ERNST MACH beruft.

Damit unterläuft MAUTHNER das Vorurteil, das das alltägliche Verstehen wie die Philosophie beherrscht, es gäbe auf der einen Seite die Welt, auf der anderen den Menschen mit seinem Sinnes- und Denkvermögen. In Wahrheit passen die Welt und unsere Sinne keineswegs zueinander; entwicklungsgeschichtlich haben sich die letzteren einfach aus der Notwendigkeit des Überlebens gebildet, ohne daß sie uns irgendeine Erkenntnis über die "eigentliche" Wirklichkeit zu vermitteln vermögen.

Ähnlich - und hier zeigt sich erneut der Einfluß von MACH - bestimmt MAUTHNER auch das Ich als eine Täuschung der Sprache, freilich nicht das Ichgefühl, das unserer Individualität gleichsam zugrundeliegt. Wohl aber akzeptiert MAUTHNER in diesem Zusammenhang den ebenfalls von MACH geprägten Ausdruck der "denkökonomischen Einheiten" für unsere Begriffe, er zieht aber daraus eine andere, weitaus radikalere Konsequenz: wenn die Begriffswelt nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit wiederzugeben oder widerzuspiegeln, dann taugt sie im Grund überhaupt nicht für die Erkenntnis. Dann ist alles Wissen, wie es in der Sprache niedergelegt ist, nur ein scheinbares Erkennen der Wirklichkeit. Überdies kann es dann keine üüber der Zeit stehende Wahrheit geben. Im Gegenteil: Wahrheit wird nominalistisch und sensualistisch aufgelöst, und nur unser "Wortaberglaube" läßt uns überhaupt auf die Idee kommen, es gebe so etwas wie ewig geltende Wahrheiten.

MAUTHNERs Verzweiflung an der Sprache, die sich gelegentlich zu einem wahren Sprachhaß steigert, macht auch vor der Dichtung nicht Halt. Wohl steht der Dichter anders als der Philosoph oder Wissenschaftler von Anfang an in einem anderen Verhältnis zur Sprache, die ihm ja nicht als Erkenntnismittel dient: Dichtung muß daher auch jeden Anspruch auf Verkündung der Wahrheit aufgeben, sie ist aber als Erzeugung von Stimmungen, als "Sinnenreiz durch Worte", etwas, das vornehmlich in der Lyrik eine besondere Beziehung zur Wirklichkeit aufreißt. Er gesteht ihr zu, immer noch auf die "geheimnisvolle Beziehung von Namen und Dingen" zu hören, die der Gegenwart im allgemein völlig abhanden gekommen ist:
    "Die Kultursprachen sind heruntergekommen wie Knochen von Märtyrern, aus denen man Würfel gefertigt hat zum Spielen. Kinder und Dichter, Salondamen und Philosophieprofessoren spielen mit den Sprachen, die wie alte Dirnen unfähig geworden sind zur Lust wie zum Widerstand."
Dies gilt freilich nicht für jene Dichtung, die sich als Sprachexperiment versteht. Hier ist MAUTHNER unbarmherzig in seiner Ablehnung, obwohl sich in der Folge nicht wenige Wortexperimentierer auf MAUTHNER berufen.

Wohl gesteht MAUTHNER dem Dichter zu, sich der Syntax gegenüber gewisse Freiheiten herauszunehmen, doch ist für ihn Dichtung gerade auf Grund der Sprache eine Existenzform neben, über oder anstatt des wirklichen Lebens. Wer dagegen aus dem Bereich der Sprache ausbrechen will, sieht sich zum Schweigen gezwungen.

Um sich der wahren Wirklichkeit zu nähern, muß sich der Mensch von der Sprache befreien, doch kann es eine solche Befreiung letztlich nicht geben. MAUTHNER sieht so sein eigentliches Ziel der Selbstbefreiung zu lehren", im Grunde zum Scheitern verurteilt. Wenn wir uns aber nicht schon völlig von der Sprache zu befreien vermögen, so können wir doch unsere Fesseln lockern:
    "Wir müssen in unserem Denken den Bann der Sprache brechen, in welcher wir denken."
Dieses Geschäft vermag immerhin - ungeachtet aller darin beschlossenen Paradoxien - eine Sprachkritik zu leisten, indem sie schonungslos jene Scheinwirklichkeit aufdeckt, die in Begrifflichkeit und Sprachlichkeit uns vorgaukelt, daß Sprache uns etwas über die Erkenntnis der Wirklichkeit beibringen könnte.

Darum spielen Wortkritik, Wissenschaftskritik und Kritik der öffentlichen Institutionen bei MAUTHNER eine große Rolle. Sie tragen entscheidend dazu bei, daß der Bann der Sprache gebrochen werden kann. NIETZSCHE paraphrasierend, lehrt MAUTHNER darum "das große heilige Lachen" ebenso wie das Schweigen als Wege zur Überwindung der Sprache.

An beides hat sich MAUTHNER nicht gehalten. Wohl verläßt er in der Folge Berlin, um sich in Freiburg und nach seiner Wiederverheiratung am Bodensee im ehemaligen Haus der Dichterin ANNETTE von DROSTE-HÜLSHOFF niederzulassen. In dieser Zeit beginnt auch seine Freundschaft mit MARTIN BUBER, der ihn zusammen mit GUSTAV LANDAUER zu einer Monographie "Die Sprache" anregt.

1910 erscheint das "Wörterbuch der Philosophie", das gleichsam den Versuch eines Neubeginns darstellt und jene Mystik MAUTHNERs verschärft zum Ausdruck bringt, der sich GUSTAV LANDAUER schon früher verbunden fühlte. Stärker als in seinen früheren Arbeiten tritt hier die pragmatisch orientierte Absicht hervor, brauchbare Begriffe im Sinne der ökonomischen Denkeinheiten von Scheinbegriffen zu trennen. In merkwürdiger Weise verschlingen sich hier ein sensualistischer Ansatz, der das Konkrete, sinnlich Faßbare als Kriterium ansetzt, und ein historisches Aufarbeiten der Entwicklung der Bedeutung eines Begriffes.

Immer stärker fühlt sich MAUTHNER von der Mystik angezogen, die nun als Ausweg des Dilemmas zwischen Schweigen und Sagen erscheint. Freilich fehlt ihm zum Mystiker das Entscheidende, das durch keine Aktivität und durch keinen Willensentschluß herbeiführbare mystische Erleben. Er nennt seine Mystik darum auch "nominalistische Mystik" oder "skeptische", bis er sie schließlich als "gottlose Mystik" bezeichnet.

Inzwischen kommt es trotz seiner Abneigung gegen den deutschen Kaiser WILHELM II. zu einem vehementen deutsch-nationalen, ja chauvinistischen Engagement MAUTHNERs anläßlich des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges. MAUTHNER wird - sehr zum Erstaunen der Freunde GUSTAV LANDAUER und MARTIN BUBER - zu einem Prediger des nationalen Hasses.

Mag sein, daß MAUTHNERs vorangegangene Geringschätzung des Denkens oder der Philosophie ihn zur Begeisterung für die Tat und eine mit ihr entstehende neue Wirklichkeit verleitete. Gelegentlich treibt er es so arg, daß THEODOR HAECKER, der Wiederentdecker KIERKEGAARDs, bereits 1915 formulierte:
    "Wenn einer, so hätte man denken sollen, heute schweigen müßte dann Herr Mauthner."
Die Niederlage trifft MAUTHNER schwer. Das nachfolgende Engagement GUSTAV LANDAUERs für die kurzlebige bayerische Räterepublik entzweit die Freunde vollends, auch wenn ihn der grausame Tod LANDAUERs - der 1919 von der Polizei erschlagen wird - zutiefst trifft. MAUTHNERs Mystik bleibt ein solche der Theorie; sie stilisiert sich zeitweise in Tao- und Buddhismus um, bleibt aber wesentlich an der Sprachkritik zurückgebunden:
    "Sprachkritik ist mein erstes und mein letztes Wort. Nach rückwärts blickend ist Sprachkritik alles zermalmende Skepsis, nach vorwärts blickend, mit Illusionen spielend, ist sie eine Sehnsucht nach Einheit, ist sie Mystik",
heißt es in seinem abschließenden Alterswerk "Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande".

Darin wird in erster Linie die Sprachkritik auf religiöse Begriffe ausgedehnt. MAUTHNER will in diesem Werk zeigen, daß alle Sätze über Gott - ob sie nun seine Existenz behaupten oder leugnen - im Grunde sinnlos sind. Wiederum aber vermengt MAUTHNER lange historische Erörterungen mit rationaler Begriffskritik. Vornehmlich an Hand unbekannter, von der Kirche verfolgter Autoren, wird die Sprach- und Wortherrschaft der Kirche vernichtend kritisiert und eine gottlose Mystik gefordert.

Bald nach dem Erscheinen dieses Werkes verschlechtert sich MAUTHNERs Gesundheitszustand. 1920 unternimmt er noch eine Reise nach Wien und Prag, auf der Suche nach den Illusionen und Erwartungen seiner Jugend. 1923 stirbt MAUTHNER. Sein Grabstein trägt die Inschrift: "Vom Menschsein erlöst." Eine geplante FRITZ-MAUTHNER-AKADEMIE löst sich dadurch auf, daß ihr Gründer mit den gespendeten Stiftungsgeldern nach Amerika durchbrennt.

Gewiß ist es leicht, MAUTHNER als Dilettanten in der Sache der Philosophie abzuqualifizieren. Aber er war, im Gegensatz zum manchem renommierten Fachphilosophen, zumindest ein genialer Dilettant. FRITZ MAUTHNER hat seine eigene Grundkonzeption nicht in ihrer ganzen Radikalität durchhalten können. Seine Sprachkritik, die ebensosehr auch eine Sprachverzweiflung ist, müßte in jenes "heilige Schweigen" münden, das wirklich ein Schweigen wäre.

Abers MAUTHNERs Sprachkritik ist zugleich auch etwas, das das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, wenn auch einseitig und eindimensional, neu zu bedenken versucht. MAUTHNER läßt uns keine Möglichkeit offen, durch die Sprache in ein erkennendes Verhältnis zur Wirklichkeit zu gelangen. Wirklichkeit kann nur gelebt, im Vollzug erreicht werden, und dieser läßt sich nicht in Sprache umsetzen.

Wir bleiben Gefangene der Sprache, ohne jede Aussicht, mit der Sprache über sie hinauszugelangen. Wieder einmal verlangte ein Österreicher nach einem rechten Verhältnis zur Wirklichkeit. Und einmal mehr hat dieser erkannt, daß wir nur die Wahl haben zwischen einem Schein oder einer Erkenntnis, die man für sich behalten muß.

Immerhin, das Motiv der sicherlich in mancherlei Widersprüchlichkeiten ausartenden Sprachkritik MAUTHNERs ist auf österreichischem Boden weitergetragen worden. Sprache wird immer mehr zum unumgehbaren Thema der Philosophie.
LITERATUR - Peter Kampits, Zwischen Schein und Wirklichkeit, Eine kleine Geschichte der österreichischen Philosophie, Wien 1984