cr-3Max OffnerTheodor Ziehen 
 
FRITZ MAUTHNER
Das Vergessen
I -32

"Das Vergessen ist in der Wirklichkeit, kann also keine bloße Negation sein. Daß es eine Tätigkeit ist, wird uns bewußt, wenn wir etwas vergessen wollen und uns die Ausführung unserer Absicht mühevoll oder unmöglich wird."

Was wir also recht menschlich den Grundfehler des Gedächtnisses genannt haben, das ist sein Wesen. Es übersieht den Unterschied zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit. Es merkt fehlerhaft, es merkt falsch. Und ohne diesen wesenhaften Fehler gäbe es in der organischen Welt keine Entwicklung, in der Geisteswelt keine Begriffe oder Worte. Aber das Gedächtnis ist auch wesentlich untreu. Das Gedächtnis wäre unerträglich, wenn wir nicht vergessen könnten. Und die Worte oder Begriffe, die erst durch das falsche Gedächtnis entstanden sind, wären für den Alltagsgebrauch ungeeignet, ohne die Eigenschaft des Gedächtnisses: untreu zu sein. Es trifft sich nur gut, daß alle diese (menschlich gesprochen) Fehler des Gedächtnisses im Interesse des menschlichen Organismus liegen. Wir könnten weder leben noch denken, wenn wir nicht  vergessen  könnten.

Man vergißt, was einen nicht interessiert. "Darum ist auch die ganze Gedächtniskunst eigentlich in der einen Regel enthalten: Interessiere dich! und soweit mnemotechnische Anweisungen einen Erfolg haben, kommen sie alle darauf hinaus, daß, wogegen wir gleichgültig sind, mit solchem vertauscht oder verbunden werde, was uns mehr am Herzen liegt." J. E. ERDMANN, dessen Rede über das Vergessen hier zitiert wird, hat auch hübsch darauf aufmerksam gemacht, daß wir uns nur darum schämen, wenn wir einen alten Bekannten nicht wieder erkannt haben; es muß ihn verletzen, daß wir so wenig Interesse für ihn hatten, daß er durch lebhaftere Interessen aus unserem Gedächtnisse verdrängt werden konnte. Ebenso fühlen wir uns verletzt, wenn eine geliebte Person einen unserer Wünsche vergessen, also geringes Interesse für uns bewiesen hat.

Der sprachliche Ausdruck  vergessen  ist ungenügend, weil er die verschiedenen Arten des Vergessens nicht unterscheiden läßt und weil er einen negativen Charakter trägt. Erinnern deutet auf ein Behalten hin , vergessen auf ein Verlieren; das ist schon etymologisch begründet, wie denn  to get  noch heute im Englischen so viel wie  erlangen  heißt. Wie es jedoch eine Mechanik des Gedächtnisses gibt, wenn wir sie auch nicht beschreiben können, so muß es auch eine Mechanik des Vergessens geben; denn das Vergessen ist in der Wirklichkeit, kann also keine bloße Negation sein. Daß es eine Tätigkeit ist, wird uns bewußt, wenn wir etwas vergessen  wollen  und uns die Ausführung unserer Absicht mühevoll oder unmöglich wird. Hat uns eigene Schuld oder Verrat des Liebsten die Lebensfreude genommen, so kann es eine Angelegenheit von der äußersten Wichtigkeit für uns werden, ob wir die eigene, die fremde Schuld vergessen können oder nicht. Gelingt es zu vergessen, so liegt darin eine Wollust, die sicherlich nicht von etwas Negativem ausgehen konnte. Der fromme Katholik mag so etwas empfinden, wenn er absolviert wird. Und sehr schön hat JAKOB BÖHME die absolvierte Schuld mit dem Holzscheite im Kamin verglichen, weil beide unser Wohlsein steigern, indem sie zerstört und verzehrt werden. Auch das Verbrennen des Holzscheits ist dem sprachlichen Ausdrucke nach eine Negation; wir wissen aber seit hundert Jahren, daß das Verbrennen ein sehr positiver Vorgang ist, an welchem sich die Erhaltung der Energie am allerbesten nachweisen läßt. Gäbe es ein Vergessen als reine Negation, so wäre das Gesetz der Erhaltung der Energie für unser geistiges Leben nicht vorhanden.

Die aufbewahrende und die entfernende Tätigkeit des Gedächtnisses, das Behalten und das Vergessen, insbesondere der aktive Charakter des Vergessens wird uns verständlicher werden, wenn wir alle diese geistige Arbeit mit einer sehr bekannten vegetativen Arbeit des Leibes vergleichen. Hat doch auch die Ernährung der Tiere eine aufnehmende Seite und eine entfernende, wenn schon die letzte freilich nicht mit einem negativen Worte ausgedrückt wird. Das sehr positive Wort für die entfernende Tätigkeit assoziiert sich mit so unangenehmen Nebeneindrücken, daß es darüber in Verruf gekommen ist, in "Verschiß", wie die Studenten sagen. Der Arzt sogar, wenn er Bescheid haben will über die Entfernung der Nahrungsreste, fragt euphemistisch nach der Verdauung. Verdauung bezeichnet aber gerade diejenige Tätigkeit der Organe, bei welcher zwischen den aufzunehmenden und den zu entfernenden Stoffen unterschieden wird ("scheißen" etym. wohl aus "scheiden"). Was der Verdauung, zeitlich und räumlich, vorhergeht, ist chemische Aufbereitung des Stoffes; was der Verdauung folgt, ist fast mechanisch. Die Tätigkeit der eigentlichen Organe der Verdauung ist wie beim Auslesen von Erbsen oder Linsen immer Tätigkeit, ob nun die guten Körperchen herangeschoben oder die schlechten Körperchen fortgeschoben werden.

Und wie der tierische Organismus zu Grunde gehen müßte, wenn er keine gesunde Verdauung hätte, wenn er nicht den größten Teil der Nahrungsmittel wieder entfernen könnte, so müßte das menschliche Denken oder das Gedächtnis zu Grunde gehen, wenn es nicht vergessen könnte. Für die Sprache, deren Identität mit dem Gedächtnis er freilich trotzdem nicht erfaßt hat, spricht das KARL OTTO ERDMANN sehr hübsch aus am Ende seiner lesenswerten Schrift über "Die Bedeutung des Wortes". Er sagt da, nachdem er ganz richtig den gedankenlosen Wortgebrauch als den normalen hingestellt hat:
"Daß wir die. Kunst des Vergessens auf sprachlichem Gebiete so gewandt betreiben, daß es uns so leich fällt vom ursprünglichen Wortsinn abzusehen und einen gedankenlosen Sprachgebrauch zu üben, das ist nichts weniger als ein Mangel des menschlichen Geistes; es ist vielmehr eine wertvolle Eigenschaft, auf der die Möglichkeit der Sprachentwicklung beruht."
Nicht nur die Möglichkeit der Sprachentwicklung. Der Satz gilt für die Psychologie des Einzelnen wie für die Völkerpsychologie. Der Einzelne könnte seine Muttersprache gar nicht fließend sprechen, er müßte stocken und verstummen, wenn ihm der Bedeutungswandel jedes Wortes in jedem Augenblick voll zum Bewußtsein käme. Der Einzelne ist schon ein Sprachgewaltiger oder ein Dichter, wenn ihm nur die Gefühlswerte der Worte, die aus ihrer Geschichte stammen, immer gegenwärtig sind. Wer als Redner oder Improvisator glänzen will, der darf sich nicht um die Prägnanz der Worte und nicht um ihre Gefühlswerte kümmern, er muß sie gedankenlos verwenden. Wenn ich einen Vortrag über den Darwinismus halten wollte und darüber, daß DARWIN angeblich die Teleologie oder die Zwecklehre aus der Welt geschafft habe, so würde ich beim ersten Vorkommen des Wortes "Zweck" (um ein treffliches Beispiel KARL OTTO ERDMANNs fortzuführen) durch die Überfülle der Beziehungen zum Stocken gebracht werden. "Zweck" als Endursache einer Handlung, und "Zweck" als Stiefelnagel oder Schuhzweck ist nicht nur dem Klange nach dasselbe Wort. "Zweck" bedeutet ursprünglich einen Holznagel oder einen Holzpflock, also auch den Holzpflock in der Mitte der Zielscheibe. So noch im Mittelhochdeutschen. Ich habe das Wort "Plöckchen" im Sinne von Zielpunkt noch bei THOMASIUS gefunden. Das französische  but  hat den gleichen Bedeutungswandel durchgemacht; es kommt vielleicht mit dem italienischen  bozza,  dem Buckel im Schilde, vom deutschen "Butze".

 Telos  in Teleologie ist durch einen anderen Zufall des Bedeutungswandel aus einer konkreteren Bedeutung zu der des Zieles und der Vollendung, des Erfolges, des Sieges gekommen. Zweck und  telos,  Zwecklehre und Teleologie werden also zwar als synonyme Ausdrücke gebraucht, decken einander aber nicht genau. Im deutschen Worte liegt mehr Absichtlichkeit eines handelnden Menschen als im griechischen. Und beide Worte haben den Nebensinn nicht immer gehabt, den wir verächtlich in sie hineinlegen, seitdem wir diesen Nebensinn bekämpfen. DARWIN selbst gebraucht die gleichen Begriffe mitunter und glaubt dabei den Nebensinn vermeiden zu können. Müßte ich nicht erst DARWINs Sprachgebrauch in diesem Falle analysieren, den gemeinen Sprachgebrauch definieren und meinen eigenen Sprachgebrauch erklären, bevor ich ein Recht hätte, das Wort  Zweck  in diesem Zusammenhange zu gebrauchen? Das wäre ein langes Nachdenken bis zum nächsten Worte.

Wie in diesem Falle, so müßte in unzähligen anderen gerade der kenntnisreiche und denkende Mensch auf die Rede verzichten, weil er den Wald vor lauter Bäumen nicht sähe und den Baum nicht vor lauter Planzenphysiologie. Und wie der Einzelne beim Gebrauche der Sprachworte von allen Tätigkeiten seines Gedächtnisses keine so sehr eingeübt hat wie die des Vergessens, so war auf dem Felde der Völkerpsychologie die Entwicklung der Sprache nur dadurch möglich, daß auch zwischen den Menschen die alte Bedeutung des Wortes der neuen Platz machte, also in unzähligen Fällen einfach vergessen wurde. Der kenntnisreiche und denkende Mensch hat jetzt wieder die Geschichte des Wortes  Zweck  beisammen in seinem Einzelgehirn und muß diese Geschichte beim banalen Gebrauch des Wortes individuell vergessen; entstanden ist aber diese Wortgeschichte der Gemeinsprache zwischen den Menschen durch etappenweises Vergessen jedes einzelnen Entwicklungsgliedes. Das gilt für die konkretesten Ausdrücke wie für die abstraktesten. Bei den abstrakten Ausdrücken ist es aber fast lustig, daß die oft angestaunte Tätigkeit der Vernunft, eben die Abstraktion, nichts weiter ist als Vergessen, als ein Ausscheiden oder Entfernen von verdauten Empfindungen.

Ich habe schon gesagt, daß das Gedächtnis an den Knotenpunkten seiner Gleise, dort, wo es einen Stoß bekommt, wo eine "Hemmung" eintritt, zur Sprache, zum Bewußtsein wird. Das Geheimnis des Gedächtnisses wäre damit sogar schon enthüllt, wenn es eben möglich wäre, diesen furchtbaren Gedanken ohne Rückstand in Worte zu kleiden. Das geht aber ja darum gerade nicht, weil das Bewußtsein sich nicht einstellt auf glatter Bahn. Es geht mir bei diesen schlimmen Ahnungen beinahe wie dem Pferde, dem das Fressen abgewöhnt werden sollte. Es stirbt gerade in der Zeit, wo es sich das Fressen  beinahe  abgewöhnt hatte. Ich weiß, warum die Sprache ihren Dienst versagt; aber sie versagt ihn trotzdem.

Diese Eigenschaft des Gedächtnisses, daß es - um es annähernd auszudrücken - auf glatten Gleisen schläft (wie der Müller beim Klappern der Mühle), bei jeder Entgleisung jedoch zu sich, zum Bewußtsein kommt, - diese Eigenschaft erklärt aufs einfachste das Unbewußte im Gedankenwachstum, oder in der Begriffsbildung, in den sogenannten unbewußten Apperzeptionen, dem schweren Kreuz der Psychologen.

Dieses Kreuz wäre freilich nie so schwer geworden, wenn die Herren nicht aus der Mathematik und Logik den Satz von der Identität gleicher Größen herübergenommen hätten, trotzdem der Satz in der Mathematik nur eine Hilfsannahme, in der Logik eine Tautologie ist.

Aber in der Psychologie, das heißt im Denken, in unseren Begriffen gibt es ja keine zwei gleichen Größen. Jede Begriffsbildung ist ja ein Schweben, ein Verschwimmen. Es gibt keine gleichen Bäume, es gibt keine gleichen Blätter, von denen die Begriffe oder Worte "Baum", Blatt" übrig geblieben (abstrahiert) wären. Das nehme ich endlich als sicher an.

Tritt nun zu einem Begriff (der in unserem Sprachschatz ist) ein neuer Eindruck, so sind zwei Fälle möglich.

Entweder die Ähnlichkeit ist (subjektiv) so groß, daß die Bahn glatt abgelaufen wird, daß wir gedankenlos das alte Wort anwenden, das Ding "wiedererkennen"; dann gibt es die sogenannte unbewußte Apperzeption. Wir erblicken einen Baum und sagen gedankenlos "Baum". Der Unterschied ist (subjektiv, für unser Interesse) so gering, daß wir einfach schwatzend den Sprachschatz anwenden. Ebenso, wenn wir dem Herrn A oder B begegnen und sagen Herr A oder B.

Wir bejahen im strengsten Falle eine Frage nach der Identität. Und es ist eine richtige Sprachbeobachtung STEINTHALs, daß in jeder Bejahung oder Verneinung ursprünglich (jetzt noch bei ganz kleinen Kindern) ein Willensakt steckt. SPINOZA hat diese Lehre schon philosophisch entwickelt und dazu sogar den ganz paradoxen Satz aufgestellt: "Der Wille und der Verstand sind ein und dasselbe." Alle guten Bekämpfer der formalen Logik haben das bei ihrer Lehre vom Urteil eigentlich anerkannt. KANT und die Engländer, wenn sie das Urteil "eine Handlung", "an act" nennen; LIEBMANN und BRENTANO, wenn sie das Urteil von der Assoziation trennen, auf die "Intention" hinweisen. Besonders scharf hat JERUSALEM die Frage behandelt. Wir können im ersten Falle, dem der unbewußten Apperzeption, also auch  cum grano salis  von einem unbewußten Willen reden.

Oder aber die Ähnlichkeit des Neuen mit dem Begriff ist (subjektiv) geringer, unser Gedächtnis entgleist, die Erinnerung kommt zu Bewußtsein: wir erkennen nicht sofort wieder; dann weckt uns das Stolpern und wir bereichern den Begriff um eben den kleinen Unterschied, an dem wir uns gestoßen haben. Wie denn auch der Schlittschuhläufer oder Reiter mit jedem Sturz das Gedächtnis der respektiven Muskeln, ihre Übung, also  seine  Übung, bereichert und durch Stolpern lernt. Oder endlich wie das Kind durch Fallen gehen lernt. So lernt die Menschheit denken oder sprechen nicht durch die glatte, unbewußte Anwendung ihres Sprachschatzes, sondern durch das Stottern bei seiner zweifelhaften Anwendung. Wenn ich Herrn A oder B sehe und ihn nicht sofort (unbewußt) wiedererkenne, weil er grau geworden ist, wenn ich Frau G nicht sofort wiedererkenne, weil sie anstatt des gewohnten schwarzen Kleides eines von lila Farbe trägt, so lerne ich dadurch A, B oder G besser kennen.

Der Fortschritt des menschlichen Denkens, das heißt die Entwicklung des menschlichen Sprachschatzes ist demnach nichts als: das durch Entgleisungsstöße veranlaßte Bemerken von Unterschieden zwischen ähnlichen Dingen, das Wahrnehmen der Verschmelzungsfehler, das Erkennen der Begriffsmängel und endlich die resignierte Anwendung zusammenfassender Begriffe, trotz dieser erkannten Mängel. Alle großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen lassen sich darauf zurückführen, daß man entweder erkannt hat: "Dies ist nicht Frau G, trotzdem sie ähnlich aussieht oder heißt, oder: "Dies ist Frau G, trotzdem sie lila geht".

LAVOISIERs Entdeckung des Sauerstoffs gehört zur ersten Gruppe, NEWTONs Bestimmung der Sternberechnung als eines Falles von Schwerkraft, die Zusammenfassung (HERTZ) von Licht und Elektrizität gehören zur zweiten Gruppe. Da wurden ein paar Begriffe einmal gesäubert, das andere Mal bereichert.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906