Überwindung der Sprachkrise - der passive Weg
Mit dem Hinweis auf das sozialanthropologische Modell des dialogischen Prinzips haben wir einen möglichen Ansatz zur Überwindung der totalen Sprachskepsis aufgezeigt. Im Rahmen unserer Untersuchungen ist aber in erster Linie nach jenen Schlußfolgerungen und Gegenthesen zu fragen, die sich in MAUTHNER Sprachtheorie selbst oder zumindest aus ihr heraus ergaben. Auch er mußte sich ja die Frage stellen, wohin sein absoluter Skeptizismus und Agnostizismus führten, und welche "Auswege" sich anboten. Zwei Hauptrichtungen können bei dieser Fragestellung in MAUTHNERs Werk festgestellt werden: der passive Weg der Introversion, der geradewegs und programmatisch zum Schweigen und zur Mystik führt, und der entgegengesetzte, nicht-mystische Weg einer aktiven, dynamischen Sprachkritik, der sich von der introvertierten Resignation entfernt und auf praktisches Handeln, d.h. auf die aktive Ausübung der sprach- und erkenntnistheoretischen Resultate zielt. GUSTAV LANDAUER nannte MAUTHNER in eben diesem Sinne den "Wegbereiter für neue Mystik und für neue starke Aktion"(1). Thema und Motiv des Schweigens sind sehr häufig - vor allem in literarischen Texten, aber auch im Alltagsgespräch - rhetorische Figuren, manchmal sogar bedeutungslose Stereotype, die über eine echte Sprachskepsis des jeweiligen Sprechers noch nichts Endgültiges aussagen. Im Falle MAUTHNERs, d.h. im Textkontext einer theoretischen Sprachkritik, gewinnen solche Äußerungen jedoch zweifellos ihre gewichtige Aussagekraft und unübersehbare Valenz als programmatische, inhaltlich gefüllte Hinweise auf eine besondere sprachkritische Position. Sie dürfen also hier nicht von vornherein als leere rhetorische Formeln betrachtet werden.
Diese Betrachtungsweise MAUTHNERs erhält ihre zusätzliche Erweiterung und Vertiefung durch eine zeitspezifische soziologische Komponente, die uns klar zeigt, daß es ihm nicht um den enggefaßten, psychologischen Rahmen des mehr oder weniger privaten Sprachgebrauchs geht, sondern um eine umfassende, allgemeine historische Sprachsituation. Das Lob des Schweigens erhält nämlich als Folgeerscheinung der heftigen Kritik am Verfall des sprachlichen Zustandes der gegenwärtigen Gesellschaft eine zeit- und kulturkritische Relevanz.
Abseits von der Sprache steigert sich der wollüstige Komfort bis zum Blödsinn und glaubt darum an einen Höhepunkt der Menschheit. In der Sprache verrät sich ihr tiefer Stand. Und zum erstenmal, seitdem Menschen sprechen gelernt haben, wäre es gut, wenn die Sprachen der Gesellschaft vorangingen mit ihrem Schuldbekenntnis, mit dem Eingeständnis ihrer Selbstmordsucht. Um sich zu verständigen, haben die Menschen sprechen gelernt. Die Kultursprachen haben die Fähigkeit verloren, den Menschen über das Gröbste hinaus zur Verständigung zu dienen. Es wäre Zeit, wieder schweigen zu lernen."(3)
Wir können selbstverständlich auf diese Tradition des Schweigens innerhalb der Literatur nicht näher eingehen; bezeichnetes oder dargestelltes Schweigen gehört zum dichterischen Medium Sprache fast ebenso wie die Pause zum musikalischen Medium der Töne und Klänge. Trotzdem ist es wichtig, sich zumindest die Rolle des Schweigens für das Phänomen der literarischen Skepsis klarzumachen. Entscheidend sind dabei stets die jeweils besondere Betonung, Ausprägung, Struktur und Funktion dieser Antisprachlichkeit. Zweifellos sind diese in der Epoche der Jahrhundertwende gedanklich und künstlerisch sehr fortgeschritten. MAUTHNER selbst hat auf seinen Zeitgenossen MAURICE MAETERLINCK hingewiesen, der eine Art Poetik des Schweigens eingeführt habe(6). Mit MAETERLINCK und anderen Autoren dieser Epoche begann recht eigentlich eine literarische Tradition der Sprache des Schweigens, wie sie STRINDBERG z.B. in seiner "Gespenstersonate" charakterisiert hat: Die Wirkung des essayistischen und dichterischen Werks MAETERLINCKs auf seine deutschsprachigen Zeitgenossen ist nicht zu unterschätzen, wenngleich wir es auch hier des öfteren mit übereinstimmenden, parallelen Vorstellungen und Denkrichtungen bei verschiedenen Verfassern zu tun haben, die gleichzeitig und unabhängig voneinander auf dem gemeinsamen Hintergrund der spezifischen Zeitlage und Sprachsituation entstanden sind. GERHART HAUPTMANN, in dessen Dramen es nicht nur das erzwungene, unfreiwillige Verstummen jener Augenblicke gibt, in denen die Sprache versagt, sondern auch das absichtliche, bedeutungsvolle und vieldeutige Schweigen, das Schweigen als ein dem gesprochenen Wort gleichwertiges, ja überlegenes sprachliches Mittel, führte an einer Stelle aus:
Die Hervorhebung des Schweigens betrifft nicht nur den zwischenmenschlichen Kommunikationsbereich, sondern ebenso das Verhältnis des Menschen zur Realität, zum Lebensprozess, zum Ichbewußtsein. Mit dem Thema oder Motiv der Stummheit ist die Gesamtheit der von uns behandelten Sprach-, Bewußtseins- und Wirklichkeitskrisen angesprochen. Das Schweigen soll gewissermaßen als Übergangsstufe zu einem neuen über- bzw. außersprachlichen Zustand verstanden werden, in dem die durch die Sprache verursachten Spaltungen und Trennungen überwunden werden sollen und ein sprachloser einheitsstiftender Bezug walten soll. Der Augenblick des Schweigens wird - in anderen Worten - zur Vorstufe des mystischen Augenblicks.
Diese erste Richtung der MAUTHNERschen Sprachkritik, die wir die passive, introvertierte nannten, zielte also über den eigentlichen Bereicht des Sprachlichen hinaus und führte in ihrer Konsequenz zur Mystik. Was EIBL über GUSTAV SACKs Werk gesagt hat, trifft vorbehaltlos auch auf MAUTHNERs Haltung zu:
Ein Wort NIETZSCHEs, das MAUTHNER gerne zitierte und für sich selbst in Anspruch nahm, bringt die Gleichzeitigkeit, Ausgeglichenheit und Gleichberechtigung der rationalen und irrationalen Elemente sehr bildhaft zur Sprache: Bei den meisten Denkern und Dichtern der Jahrhundertwende lassen sich keine Idealtypen der beiden möglichen Wege vom prä- oder suprarationalen Erleben zur Sprachskepsis oder von der diskursiven Sprachkritik (...) zur Mystik antreffen(17). Eher sind es Mischformen und Übergänge, die die Situation um 1900 charakterisieren. Man sollte deshalb auch nicht voreilig von einem Ausweg, einer Flucht in die mystische Irrationalität sprechen; denn sehr oft ist diese mystische Tendenz auch Voraussetzung und Ursprung des rationalen Skeptizismus. Es ist die Suche nach der durch aufgeklärtes Bewußtsein, wissenschaftliche Erkenntnis und sprachliche Aufsplitterung verlorengegangenen Einheit, die sich in MAUTHNERs mystischer Sprachkritik gleichermaßen manifestiert wie in der literarischen Sprachskepsis um und nach 1900. Diese Mystik ist natürlich längst nicht mehr das auf Gott gerichtete, zielgebundene Erlebnis der Entrückung oder Versenkung, sondern vielmehr die bildhafte Projektion einer skeptisch- kritischen Geisteshaltung ins Überrationale und Außersprachliche; eine Mystik, die sich nicht mehr als letzte Zuflucht oder endgültige Lösung erachtet, sondern weit eher als ein Experiment, eine bloße Möglichkeit. Deshalb trennte sich MAUTHNERs mystische Neigung auch nie ganz von seinem skeptizistischen Erkenntnisstreben.
Die mystischen Strömungen im allgemeinen und das Verhältnis von Sprache und Mystik in enge Beziehungen setzen können. In HAUPTMANNs Dramen z.B., vorwiegend in Märchen- und Traumstücken, gibt es wiederholt jene Momente überrationaler Einsicht und sprachlicher Bewußtlosigkeit, mystische Augenblicke, in denen die Sprache völlig ausgeschaltet ist, und in deren Folge das Mißtrauen gegenüber jedem gesprochenen Wort immer wieder aufbricht.
Gerade die Dingmystik, in der der einzelne Gegenstand zum Symbol für den gesamten Zusammenhang werden kann, und in der sich im Einzelelement das Wesen des Ganzen offenbarte, mußte in Konflikt mit der herkömmlichen Sprache geraten, die ja das Gegenteil, die Vereinzelung und Trennung, verkörperte. Der Dichter antwortete gewissermaßen auf den Zerfall der Wirklichkeit, wie er sich in der konventionellen Sprache darstellte, mit einer neuen, einheitsstiftenden Dingmystik, in der die Welt so in Sprache verwandelt wurde,
Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgendeinem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm erscheinen. (...) Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrendsten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas: ich fühle entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinander spielenden Materien keine, in dich nicht hinüberzufließen vermöchte"(22). LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
1) GUSTAV LANDAUER, Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 3 2) Beiträge I, Seite 79 3) Beiträge I, Seite 215 4) Erinnerungen, Prager Jugendjahre, München 1918, Seite 214 (Neuauflage Frankfurt/Main 1969) 5) Beiträge I, Seite 78 6) vgl. dazu Beiträge I, Seite 110f MAUTHNER zitiert aus einem Aufsatz MAETERLINCKs über das Schweigen, worin es z.B. heißt: "Wir reden nur in den Stunden, wo wir nicht leben, (...). Auch sind wir sehr geizig mit dem Schweigen; und die Unklügsten unter uns schweigen nicht mit dem ersten besten. (...) Ich denke hier nur an das aktive Schweigen; es gibt aber auch ein passives Schweigen, welches nichts ist als ein Reflex des Schlummers, des Todes oder des Nichtseins." (Beiträge I, Seite 11) Vgl. auch: MARIANNE KESTING, MAETERLINCKs Revolutionierung der Dramaturgie, in 'Akzente', 10. Jhg. (1963), Seite 527-544) 7) AUGUST STRINDBERG, Dramen, Bd.3, aus dem Schwedischen von WILLI REICH, München 1965, Seite 266 8) GERHART HAUPTMANN, Das gesammelte Werk, Berlin 1942, Bd. XVII, Seite 415 9) GERHART HAUPTMANN, Das gesammelte Werk, Berlin 1942, Bd. XVII, Seite 173 10) Beiträge I, 2. Auflage, Seite 102 11) GUSTAV LANDAUER: Skepsis und Mystik, Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, Berlin 1923, Seite 102 12) RICHARD BRINKMANN, Hofmannsthal und die Sprache, in DVj. 35 (1961), Seite 90 Auch LOTHAR WITTMANN hat in seiner Untersuchung darauf hingewiesen, "wie in jeder neuen dramatischen Form HOFMANNSTHALs die Grenze zwischen Wort und Schweigen neu umspielt, wie in immer neuen Variationen der Bezirk des Sprachlichen gegenüber dem des absolut Wortlosen abgesteckt wird. Die Spannung zwischen Sprechen und Verstummen erweist sich als eine in allen Dramen des Dichters durchgehaltene Grundspannung, als durchgängiges Leitmotiv seiner dramatischen Darstellung der menschlichen Wirklichkeit." (LOTHAR WITTMANN: Sprachthematik und dramatische Form im Werk Hofmannsthals, Stuttgart 1966, Seite 177) 13) Vgl. RAINER MARIA RILKE, Sämtliche Werke, 1.Band, Hg. vom Rilke-Archiv, Wiesbaden 1955, Seite 765 "Das Gefühl des Dichters sinkt in den Raum des Unsagbaren, wo ein solch unmittelbarer Bezug zwischen den Dingen herrscht, daß eine Verständigungssprache menschlicher Art nicht nötig ist. Die Stummheit der Fische gilt als Chiffre für Bezüge, die des Wortes im Sinne von 'Logos' nicht bedürfen." (KARL HEINZ FINGERHUT, Das Kreatürliche im Werke R.M.RILKEs. Untersuchungen zur Figur des Tieres, Bonn 1970, Seite 146) 14) Beiträge III, Seite 307 15) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 88 16) FRIEDRICH NIETZSCHE, Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, München 1920/24, Band XIV, Seite 22 17) KARL EIBL, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München 1970, Seite 74 18) FRITZ MAUTHNER, Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Band IV, Stuttgart/Berlin 1923, Seite 447. Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage der "Beiträge" hatte MAUTHNER geschrieben: "Es gab in den Monaten der Umarbeitung hochmütige Stunden, in denen ich die Macht fühlte, erdenfeste und erdennahe Mystik mit himmelheiterer und himmelferner Skepsis zu verbinden." (Beiträge I, Seite 627) 19) vgl. Philosophisches Wörterbuch II, Seite 116 20) WILHELM EMRICH, Der Tragödientypus GERHART HAUPTMANN, in 'Protest und Verheißung', Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt/Main 1963, Seite 198 21) WILHELM EMRICH, Der Tragödientypus GERHART HAUPTMANNs, in "Protest und Verheißung", Studien zur klassischen und modernen Dichtung, Frankfurt/Main 1963, Seite 198 22) HUGO von HOFMANNSTHAL, Prosa I, aus "Werke", Hrsg von HERBERT STEINER, Frankfurt/Main 1951, Seite 267 |