| WALTER ESCHENBACH
Fritz Mauthner und das Problem der sprachlichen Abstraktion
In dem Bemühen, die Ganzheit des Lebens, das Werden und Vergehen des
Lebensprozesses, das alles verbindende Lebensgefühl zu erfassen und
auszudrücken, stellte sich die Sprache aufgrund ihrer starren, unveränderlichen
Begrifflichkeit, die das Einzelne notwendigerweise aus dem großen
Lebenszusammenhang herauslöst, als ein nahezu unüberwindliches
Hindernis dar. Die Begriffe sondern, trennen und
legen fest, was in der Lebensvorstellung der Generation um 1900 ein einziges
Fließen und Verwandeln, ein alles verbindender Lebensstrom war.
Das zerteilende und festlegende Prinzip der Sprache steht dem
einheitsstiftenden und stets auf Wandel bedachten Prinzip des Lebens
diametral gegenüber; durch Begriffe ist deshalb das Leben weder
erkennbar noch darstellbar. Um die Verworrenheit und Gegensätzlichkeit
der gesamten MAUTHNERschen Sprachproblematik und ihre innere Widersprüchlichkeit
vollends sichtbar zu machen, gilt es auch, den nahezu entgegengesetzten
Aspekt seiner Sprachkritik kenntlich zu machen, unter dem die Begriffe nicht
als ein die Lebenstotalität zerstörendes Prinzip der Abstraktion,
das der Vielfalt der Lebenserscheinungen, der Realität überhaupt,
nicht gerecht werden kann, weil es das Unterschiedliche, das Ähnliche,
aber nie ganz Übereinstimmende, mit gleichen Worten und Begriffen
bezeichnen muß.
" Ähnlichkeit wird fälschlich
für Gleichheit gehalten. Es gibt keine
gleichen Fälle in der Wirklichkeit. Wir hätten keine Begriffe
bilden können, wenn wir in Urzeiten Ähnlichkeit nicht für
Gleichheit genommen hätten; und wir könnten die Begriffe nicht
anwenden, wenn wir nicht ähnliche Wahrnehmungen für gleiche
Wahrnehmungen halten würden"(1).
Ging es bisher um das Übergreifende der Vorstellung "Leben",
um das Irrationale und Emotionale des pathetischen Lebensgefühls, das für
die begriffliche Sprache ein Geheimnis bleiben mußte, so stoßen
wir jetzt auf die umgekehrte gewissermaßen: mikroskopische
Blickrichtung, die sich den kleinsten Einzelheiten, den "Details"
des Lebens und der Wirklichkeit zuwendet.
Immer wieder stoßen wir auf diese Polarität der
Sprachkritik: einerseits geht es um ein Höchstmaß an Genauigkeit,
beinahe naturwissenschaftlicher Exaktheit, wobei sich die Begrifflichkeit
als ungenau, vergröbernd und verallgemeinernd erweist. Andererseits
stellt Sprachkritik aber gerade jene "naturalistische" Beschränkung
und Bescheidung der Sprache in Frage und sucht nach neuen verbalen Mitteln,
die über das wissenschaftlich exakte Bild von der Wirklichkeit
hinausgehen und die übergreifende Totalität des Lebens einfangen.
In MAUTHNERs Sprachkritik sind die Akzente zugunsten jener
unerreichbaren sprachlichen Genauigkeit gesetzt, während es der
literarischen Sprachskepsis sehr oft, wie wir gezeigt haben, um das Problem
der sprachlichen Erfassung jener Vorstellung des Ganzheitlichen des Lebens
ging, die das Bewußtsein der Generation der Jahrhundertwende so stark
bewegte.
Die meisten Wörter und Begriffe sind nach MAUTHNERs
Auffassung Abstraktionen und entsprechen deshalb
keineswegs der tatsächlichen Erfahrung der Wirklichkeit. F.A.
LANGE habe bereits
"das Grundübel der psychologischen Gehirnlehre darin
erkannt, daß eine Personifikation abstrakter Vorstellungen an Stelle
der Erfassung der Wirklichkeit trete"(2).
Für MAUTHNER rückte das die Wirklichkeit verfälschende
Abstraktionsprinzip der Sprache zusehends
in den Vordergrund seiner Sprachkritik. Niemand hat das so deutlich erkannt
und so vorbehaltlos übernommen wie GUSTAV LANDAUER.
In einer Rezension aus dem Jahre 1902 schrieb er:
"Schon unsere Sinne hatten die ungeheure Kompliziertheit und
Mannigfaltigkeit der Natur fast läppisch vereinfacht, spezifiziert,
in fünf oder sieben Schubfächer eingesperrt; die Begriffe fuhren
damit fort, um unseres Gedächtnisses willen alle Wahrnehmungen auf
unsere Interessen, alle wirksamen Kräfte um unsere Zwecke
herumzuspulen; aus hunderterlei Bewegungen ein Verbum"(3).
In seiner Schrift "Skepsis und Mystik" lesen
wir:
"An die Stelle der Abstraktion, der tötenden, entleerenden und
verödenden Abziehung, setzen wir die Kontraktion, die Zusammenziehung
all unserer inneren Kräfte, und die Attraktion, die Hineinziehung
des Weltalls in unseren Machtbereich. Das wird gut sein, denn die Abstraktion
und das begriffliche Denken ist an der Endstation angelangt; MAUTHNER
war der Keulenschläger, der es zusammengetrümmert hat. Seit
KANT kann das
Begriffsdenken zu nichts mehr führen, als zum Totschlagversuch gegen
die lebendige Welt; jetzt aber bäumt sich endlich das Leben auf und
tötet den toten Begriff"(4).
MAUTHNER konnte bei seiner Kritik am Abstraktionsprinzip der Sprache
an seine "drei Bilder von der Welt"
anschließen, von denen sich das der Substantive am unbrauchbarsten
erwiesen hatte. Unter diesen Substantiven gebe es aber wiederum
Gradunterschiede bezüglich ihres Allgemeinheitscharakters. Die hauptsächliche
Kritik richte sich natürlich gegen die Begriffe mit dem größten
Begriffsumfang: "Das abstrakteste Wort ist das vieldeutigste"(5).
MAUTHNER nennt Begriffe wie Gott, Mut, Liebe, Wissen, Freiheit u.a.(6).
Es ist sehr bezeichnend, daß dieses Problem der
Allgemeinbegriffe auch in dem Kapitel "Poesie und Begriffe"
auftaucht. Für den Verfasser der "Sprachkritik" ist das
Kommunikationsverhältnis zwischen Autor und Leser ein Modellfall für
den Nachweis der Untauglichkeit abstrakter und deshalb unanschaulicher
Begriffe.
"Daß unsere Allgemeinvorstellungen oder Begriffe durch
Abstraktion entstehen, das kann man bei hohlen Nüssen wie: Tugend,
Unsterblichkeit u. dergl. den Leuten einreden. Sowie aber die
Wirklichkeitswelt verglichen wird, dürfte es ohne Beweis einleuchten,
daß es eigentlich Allgemeinvorstellungen gar nicht gibt, daß
es in unserem Gedächtnis nur ähnliche, ineinander fließende,
verwaschene Vorstellungen gibt, die in Vorrat hinter dem Begriff stehen,
und aus denen die Phantasie immer diejenigen hervorlangt, die sie gerade
braucht oder die ihr die unbewußte Assoziation zuführt. Wobei
es nicht zu vergessen ist, daß nur wenige Menschen beim Wortgebrauch
es auch für nötig halten, den einzelnen Begriff oder das Wort
jedesmal aus dem Vorrat der Vorstellungen zu speisen und sie so lebendig
zu machen oder zu erhalten. Der gewöhnliche Romanleser (...) stellt
sich bei Sätzen wie: "Die Pferde trabten durch die Heide"
gar nichts vor, und wenn er die ihm wohlbekannten Worte dennoch zu
verstehen glaubt, so kommt es daher, daß eben der
Vorstellungsapparat hinter den Begriffen steht (...)"(7).
Der Kampf gegen die Abstrakta steht in MAUTHNERs Sprachkritik mit an
erster Stelle. Er betont,
"daß der skeptische Nominalismus,
mit welchem ich die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache überhaupt
aufgezeigt habe, ganz besonders die philosophischen Begriffe trifft, und
unter ihnen am stärksten die allgemeinsten Begriffe"(8).
PAUL MONGRÈ sprach in seiner Rezension der "Beiträge"
in der Neuen Rundschau mit Recht von der "in der Sprache schlummernden
Dingheits- und Subjektskategorie", die "endlich
mit vollem Bewußtsein in der Philosophie erscheine"(9).
KARL EIBL hat in seinem Buch diese Kritik der Allgemeinbegriffe
innerhalb einer Erkenntniskritik als Sprachkritik treffend beschrieben.
Seine Ausführungen über GUSTAV SACK können
eine exemplarische Geltung für die Sprachkrise um 1900 beanspruchen.
"Sacks Sprachkritik, soweit sie bisher betrachtet wurde, betrifft
also die Allgemeinbegriffe. Sie sind Namen für Dinge, die es nicht
in der Wirklichkeit, sondern allenfalls
im Denken gibt, flatus vocis, Wortfetische eines durch die Sprache korrumpierten
Geistes. Selbst wo sie den Schein des Induktiven wahren, verlassen sie
die Wirklichkeitswelt und lügen das System einer hinter dieser liegenden
eigentlichen Welt. Die Hinterwelt: das sind die Allgemeinbegriffe. Ein
qualitativer Sprung des Denkens aus der Wirklichkeit heraus in die Apriorität
des Sprachsystems findet nicht erst mit der Annahme eines persönlichen
Gottes statt, auch oberste Allgemeinbegriffe anderer Art sind Worte ohne
Inhalt, ja, schon die durch Abstraktion gewonnenen Allgemeinbegriffe unterster
Ordnung liegen jenseits der Grenze"(10).
Die Abneigung gegen abstrakte Begriffe ist kein Privileg MAUTHNERs
oder GUSTAV SACKs. Eine "berühmte" Stelle im Brief Lord CHANDOS drückt die gleiche Erfahrung aus:
"Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres
oder allgemeineres Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu
nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu
bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehangen, die
Worte Geist, Seele oder Körper nur auszusprechen. Ich fand es
innerlich unmöglich über die Angelegenheiten des Hofes, die
Vorkommnisse im Parlament, oder was Sie sonst wollen, ein Urteil
herauszubringen. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher
Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut:
sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß
bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen
mir im Mund wie modrige Pilze"(11).
Also nicht nur in MAUTHNERs Sprachkritik, auch im Bewußtsein
vieler seiner literarischen Zeitgenossen war die abstrakte Begrifflichkeit,
wie sie vor allem seit dem Idealismus sich ausgeprägt hatte, an einen
Endpunkt gelangt. Antihegelianismus, Metaphysikkritik und Lebensphilosophie
waren entscheidende philosophiegeschichtliche Faktoren des Abbaus der
sprachlichen Abstraktionen, was nicht heißen soll, daß nicht
auch neue philosophische Abstraktionen entstanden seien.
Innerhalb der Literaturgeschichte hatten Nachwirkungen der deutschen
Klassik in diesem Zusammenhang bis in den späten Realismus angedauert.
Zu Ende des Jahrhunderts, mit dem Beginn des Naturalismus oder
Impressionismus beispielsweise, setzte jedoch auch hier eine Entwicklung
ein, die in jeweils unterschiedlicher literarischer Weise gegen die
sprachliche Abstraktheit gerichtet war. Natürlich kann damit nur eine
bestimmte Strömung der Literatur um 1900 gemeint sein. Es wäre
vermessen, die gesamte Epoche auf diesen gemeinsamen Nenner bringen zu
wollen; wir können auch entgegengesetzte Tendenzen einer betont
abstrakten Sprache feststellen, wie z.B. bei RILKE.
Dennoch bleibt die Anti-Abstraktionshaltung eine wesentliche
Komponente literarischer Sprachskepsis der Jahrhundertwende. HOFMANNSTAHLs
Chandosbrief ist ein wichtiges Indiz. In seinen "Aufzeichnungen"
schreibt derselbe Autor:
"Das Individuum ist unaussprechlich. Was sich ausspricht, geht
schon ins Allgemeine über, ist nicht mehr im strengen Sinne
individuell. Sprache und Individuum heben sich gegenseitig auf"(12).
Noch deutlicher und überzeugender spiegelt sich diese Abneigung gegen abstrakte
Begriffe in SCHNITZLERs Schriften wider. Der Arzt
und Schriftsteller aus Wien, der wie MAUTHNER Jude
war, teilte dessen sprachkritische Gedanken und Ansätze in auffallender
Weise. Beide verkörpern jene Mischung von Empirie und Skepsis, wissenschaftlicher
Orientierung und über- bzw. antiwissenschaftlichem Erkenntnisstreben,
die für die Auslösung und Intensivierung der Sprachkrise um 1900
kennzeichnend ist. Beide wandten sich auch immer wieder gegen philosophische
Systeme, dogmatische Lehren und konventionelle
Begriffe. Die Übereinstimmung in der Abwehr abstrakter und metaphysischer
Terminologien ist nahezu vollkommen.
"Das Reinigungswerk des Geistes, am Geiste, muß bei der
Sprache beginnen. Jedes Wort hat sozusagen fließende Grenzen, umso
fließender, je mehr es einen Begriff bezeichnen soll. Diese Grenzen
müssen, so weit es überhaupt möglich ist, reguliert werden.
Immer wieder staunt man bei der Lektüre philosophischer, besonders
aber religiöser Schriftsteller, also überall dort, wo e sich um
schwer Faßbares, gleichsam Unkontrollierbares handelt, welche
nichtssagende, scheinbar vieldeutige, sentimentale, pathetische Sätze
hingeschrieben worden sind. Und immer wieder müssen wir uns dabei
ertappen, daß wir selbst solche Sätze, wenn auch zuweilen ärgerlich
und ablehnend, doch mit einem gewissen Respekt lesen, als ob schon das
Abstrakte an sich uns mit einem ehrfürchtigen Schauer erfüllte"(13).
Bezeichnend für SCHNITZLERs Geisteshaltung
ist, daß er, ähnlich wie HOFMANNSTHAL,
der Ambivalenz des Sprachlichen mehr Rechnung trägt als MAUTHNER,
dessen Urteil stets eindeutig und absolut negativ ausfällt. HOFMANNSTHAL
hatte im Chandos-Brief die relative Notwendigkeit abstrakter Begriffe anerkannt,
und auch SCHNITZLER gestand solchen Formulierungen
eine gewisse Anziehungskraft zu. Die beiden Dichter hatten sich also trotz
aller ernsthaften Kritik an gewissen sprachlichen Formen
eine Offenheit gegenüber dem Sprachlichen bewahrt, die zwischen distanzierendem
Vorbehalt, skeptischer Infragestellung einerseits und geforderter Anerkennung,
unumgänglicher Sprachliebe andererseits zu vermitteln versucht.
Daß diese Haltung des Abwägens und Ausgleichens
keineswegs zu einer unkritischen, undifferenzierten Kompromißhaltung
abgleitet, machen SCHNITZLERs Kommentare sehr deutlich.
"Symbole, Abstrakta, ja schon die Pluralia - das sind
ebensoviele Fluchtversuche aus der erschütternden und
verwirrenden Realität der Dinge in Spekulation, Metaphysik oder
zu Gott"(14).
Sprachskepsis als Ambivalenz zwischen Sprachkritik und
Sprachvertrauen steht in angemessener Relation zu einer
Sprachproblematik, die das Verständnis für die unumgängliche
Notwendigkeit sprachlicher Abstraktionen und Begriffe ebenso einbezieht
wie deren ständige kritische Überprüfung. Die Alternative
zur abstrakten Begrifflichkeit kann nicht in deren völliger
Abschaffung bestehen, wie es bei MAUTHNER oft anklingt, sondern in der selbstreflektierenden Überprüfung des jeweiligen
Sprachgebrauchs.
Die pragmatische, psychologische, ästhetische und ethische
Komponente gelangte in SCHNITZLERs Sprachbetrachtung zu weiterführenden
Erkenntnissen einer Begriffskritik, die über den Stand des
MAUTHNERschen Sprachkonzepts hinausreichten. Das Problem der
Abstraktion ergänzte er durch den wesentlichen Aspekt der
kommunikativen, dialogischen Verständigung über
Bedeutungsbereich und -inhalte. Damit wurden Notwendigkeit und
Alternativen, Vor- und Nachteile der abstrakten Begrifflichkeit ins
richtige Verhältnis zueinander gebracht.
REINER NOLTENIUS hat die gemeinsame Basis der aphoristischen
Sprachkritik und literarischen Sprachskepsis SCHNITZLERs in dessen
Streben nach äußerster Wirklichkeitsnähe gesehen.
"Die Abneigung des Aphoristikers gegen abstrakte
Begriffsbildung (...) entspringt diesem Bedürfnis des Dichters,
eng an der sehr konkreten Wirklichkeit zu bleiben. Ensprechend steht
kein abstraktes Problem im Zentrum der Dichtungen: (...) Das ist eine
Parallele in der Dichtung zum erlebenden Selbstdenken seiner
Aphoristik" Aphoristik"(15).
Wahrscheinlich geht es aber doch noch um mehr, als um bloße
Wirklichkeitstreue. Denn gerade deren Voraussetzung, das Bewußtsein
einer eindeutigen Realität, war ja verlorengegangen. SCHNITZLERs
Skepsis gegenüber abstrakter Begrifflichkeit und exakten
Definitionen drückte vielmehr sein Mißtrauen gegenüber
der scheinbaren Eindeutigkeit einer Wirklichkeitserfahrung aus, die sich
in allgemeine Bezeichnungen kleidet.
MAUTHNERs erkenntniskritischer Nominalismus
ging jedoch noch weiter; er bezweifelte nicht nur den Realitätsgehalt
allgemeiner und abstrakter, sondern auch konkreter Begriffe; denn sämtliche
Begriffe gewährten keine Anschauung,
"sondern nur den Schein einer Anschauung"(16). "Uns
ist es geläufig, daß wir durch unsere Sinne nur
Eigenschaften der Dinge erfahren, und daß darum die
allerkonkretesten Begriff, ja selbst Individualbegriffe, nur abstrakte
Vorstellungen sind"(17).
In der Zuspitzung der MAUTHNERschen Sprachkritik werden Begriff
und Abstraktion identisch. MAUTHNER führt dazu aus
"daß wirklich konkret nur die Wirklichkeit selber ist,
das abstrakt völlig gleichbedeutend ist mit begrifflich, (...) daß
also ein Wort oder ein Begriff niemals eigentlich konkret sein kann.
Und weil die begriffliche, abstrakte, aus Worten bestehende Sprache
ihrem Wesen nach gezwungen ist, die Wirklichkeit zu berauben, von
Sinneseindrücken der unmittelbaren Anschauung zu abstrahieren
oder abzusehen, daraus allein wird es schon verständlich, daß
die menschliche Sprache ein untaugliches Werkzeug zur Erkenntnis der
Wirklichkeit ist"(18).
In dem krampfhaften Bemühen um die sich stets wiederholende
Untermauerung seiner Grundthese gerät MAUTHNER in die Gefahr,
seinem eigenen sprachkritischen Anliegen zuwiderzuhandeln, indem er den
Gegensatz Wirklichkeit - Sprache mit sprachlichen Scheinargumenten künstlich
steigert und verzerrt.
"In der Wirklichkeit gibt es nur Individuen, gibt es keine
Arten, keine Ideen, keine substantiellen Formen; in der Sprache gibt
es nur Arten, nur Ideen, nur substantielle Formen"(19).
Dennoch bleibt diese Fortsetzung der Kritik an den
Allgemeinbegriffen in Form einer Kritik an den Individualbegriffen, wenn
man von MAUTHNERs Überzeichnungen einmal absieht, ein wesentliches
Symptom der Sprachproblematik um die Jahrhundertwende, die eben doch in
vieler Hinsicht eine zusätzliche Verschärfung und Potenzierung
der bereits bekannten Vorstellungen und Argumente mit sich brachte.
KARL EIBL sieht sogar in dieser Erweiterung der Begriffskritik auch auf die Individualbegriffe den Weg von der "skeptischen
Sprachkritik" zur "skeptischen Erkenntniskritik"(20).
"Es geht nun nicht mehr um die Frage, welches Maß an
Realität den Begriffen zukommt, die über der plumpen
empirischen Wirklichkeit stehen. Die empirische Wirklichkeit, auf die
das intellektuale Gewissen den Wirklichkeitsbegriff eingeschränkt
hat, wird nun selbst fragwürdig, - nicht weil die Erscheinungen
selbst in ihrer Abgegrenztheit und Individualität durch eine
Zutat des Geistes, durch das Wort, genau: durch das Substantiv,
entstanden sind. Das Wort verdirbt das Denken, weil es in das
konturlose Fluktuieren der Empfindungen Kontinuitäten und Kohärenzen
hineinlügt; weil es (...) den ständig wechselnden
menschlichen Sensationen bleibende Substantien als Ursachen
unterstellt und damit schon auf niedrigster Stufe, der des scheinbaren
Konkretums, einen Dualismus von Schein und Hinterwelt konstituiert"(21).
Diese grundlegende Sprachkritik an der Begrifflichkeit überhaupt
verweist sehr nachdrücklich auf das Verhältnis von
Sprache und Denken, worüber an späterer
Stelle noch zu handeln sein wird.
LITERATUR - Walter Eschenbach, Fritz Mauthner und die deutsche Literatur um 1900, eine Untersuchung zur Sprachkrise der Jahrhundertwende, Frankfurt/Bern 1977
Anmerkungen
1)
Philosophisches Wörterbuch I, Seite 365
2)
Beiträge I, Seite 281
3)
GUSTAV LANDAUER in "Die Zukunft" (1902) Seite 460
4)
GUSTAV LANDAUER in "Die Zukunft" (1903) Seite 17
5)
Beiträge I, Seite 54
6)
Beiträge I, Seite 54, Der Gottesbegriff stand in MAUTHNERs sprachkritischem Denken stets an erster Stelle unter den abstrakten, nichtssagenden Begriffen. In ihm verband sich seine Kritik der Sprache am deutlichsten mit der atheistischen Komponente seines Denkens. "Wollte man - nicht etwa alle Menschen - sondern nur alle von einer Konfession zwingen, von sich zu geben, was sie sich z.B. unter ihrem Gott vorstellen, es würden die wahnsinnigsten Phantastereien aller Völker und Zeiten zu Tage treten." (ebd.) Daß diese Argumentation im Rahmen einer Sprachkritik sehr viel weniger stichhaltig ist als in dem eines militanten Atheismus, muß nicht besonders betont werden.
7)
Beiträge I, Seite 105
8)
Philosophisches Wörterbuch I, Seite XII
9)
PAUL MONGRÉ (Pseudonym für Prof. FELIX HAUSDORF) in "Neue deutsche Rundschau" 1903, Seite 1251
10)
Karl Eibl, Die Sprachskepsis im Werk Gustav Sacks, München
1970, Seite 53
11)
Prosa II, Frankfurt 1951, Seite 11f
12)
In den Aufzeichnungen zu "Die Idee Europa" und "Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation", zitiert nach MARIANNE
KESTING: Entdeckung und Destruktion. Zur Strukturumwandlung der Künste,
München 1970, Seite 194
Eine wichtige Bemerkung steht auch in seinem Essay "Über die Pantomime": "Die Sprache der Worte ist scheinbar individuell, in
Wahrheit generisch, die des Körpers scheinbar allgemein, in
Wahrheit höchst persönlich." (Prosa III, Frankfurt 1964,
Seite 50)
13)
ARTHUR SCHNITZLER: Gesammelte Werke, Aphorismen und
Betrachtungen, Frankfurt 1967, Seite 26
14)
ARTHUR SCHNITZLER: Gesammelte Werke, Aphorismen und
Betrachtungen, Frankfurt 1967, Seite 27
"Statt Bilder gibt man den Menschen Worte. Statt Mehrzahl
gibt man ihnen Abstrakte. Alte Gewohnheit des Menschen, sich aus dem
vollkommen Unerträglichen und auch wohl Unfaßbaren der
Vielheit in die Kühle des Begriffs zu flüchten. Das ist nicht
immer eine Erhöhung ins Symbolische, sondern eine Flucht ins
Abstrakte." (ebd. Seite 203)
15)
RAINER NOLTENIUS, Hofmannsthal - Schröder - Schnitzler,
Möglichkeiten und Grenzen des modernen Aphorismus, Stuttgart 1969, Seite 189
16)
Beiträge II, Seite 495
17)
Beiträge I, Seite 282, "Auch die sogenannten konkreten Begriffe sind immer noch abstrakt und keineswegs anschauliche Vorstellungen (Philosophisches Wörterbuch I, Seite 10)
18)
Philosophisches Wörterbuch I, Seite 10
19)
Beiträge I, Seite 476
20)
Beiträge I, Seite 53
21)
Beiträge I, Seite 55f, Ein "Schüler" dieser Sprachkritik war in gewissem Sinn auch THEODOR W. ADORNO, der in seinen "Drei Studien zu Hegel", Frankfurt 1963, Seite 123, schrieb: "Das Moment der Allgemeinheit in der Sprache, ohne das keine wäre, verletzt unabdingbar die volle sachliche Bestimmtheit des Besonderen, das sie bestimmen will. Korrektiv ist die wie immer auch unkenntliche Anstrengung zur Verständlichkeit. Diese bleibt zur reinen sprachlichen Objektivität der Gegenpol. Einzig in der Spannung beider gedeiht die Wahrheit des Ausdruckes."
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