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FRITZ MAUTHNER
Erkenntnistheorie
I -39

"Man hat mit erkenntnistheoretischen Fragen kein großes Publikum. Wer ein philosophisches Werk liest, will doch schließlich etwas Positives für Kopf und Herz zurückbehalten; Erkenntnistheorie ist wesentlich kritisch, negativ."

Unter den gelehrten Bearbeitern der verschiedensten wissenschaftlichen Felder und Beete, soweit die Herren überhaupt noch an philosophische Fragen denken, ist jetzt allgemein die Neigung verbreitet, der Philosophie die Einzelwissenschaften zu entziehen, der Metaphysik jede wissenschaftliche Berechtigung abzusprechen und so die alte Philosophie auf das Austragstüberl der Erkenntnistheorie zu setzen, wo sie sämtliche Wissenschaften der Natur und des Geistes als ihre Hilfswissenschaften studieren mag, um dann die menschliche Erkenntnis zu kritisieren und über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis nachzudenken. Ich sollte meinen, die Philosophie müßte ein solches Ehrenamt gern ausüben, nachdem sie im Mittelalter die Magd der Theologie und bei den Griechen die Reinmachefrau der Naturwissenschaften gewesen ist.

Die Philosophieprofessoren als die Herren vom Fach sind aber mit dieser Einschränkung auf die Erkenntnistheorie nicht einverstanden. Man hat mit erkenntnistheoretischen Fragen kein großes Publikum. Wer ein philosophisches Werk liest, will doch schließlich etwas Positives für Kopf und Herz zurückbehalten; Erkenntnistheorie ist wesentlich kritisch, negativ.

Dazu kommt noch eins, was den Kredit der Erkenntnistheorie schädigen mag. Es scheint nämlich, als habe sie nicht einmal kritisch zu bestimmten Ergebnissen geführt, als sei sie bloß der neue Name für den alten Kampfplatz, auf welchem der Streit ausgefochten wird, der seit Menschengedenken zwischen hundert Parteikombinationen kreuz und quer geführt wird, der aber einem übersichtigen Auge doch ungefähr als der große Kampf zwischen den Realisten und den Idealisten erscheint. Was soll uns eine Erkenntnistheorie, wenn sie nicht einmal diese ältesten Fragen zu entscheiden vermag? Wenn in allen praktischen Dingen heute wie vor Hunderttausenden von Jahren der unsinnlichste Künstler und der übersinnlichste Philosoph so denken und handeln wie der hahnebüchene Realismus des Wilden oder des Tieres, nach welchem unsere Welterkenntnis der Wirklichkeitswelt da draußen einfach entspricht? Wenn neben diesem hahnebüchenen Realismus, dieser unsterblichen volkstümlichen Weltanschauung der alte Wortrealismus PLATONs und des Mittelalters in HEGELwieder auftauchen konnte und morgen eine neue Gestalt gewinnen kann, der Wortrealismus, der etwa lehrt: die Welterkenntnis in unserem Kopfe ist die einzig richtige, weil sich die Wirklichkeitswelt da draußen nach den Begriffen in unserem Kopfe richten muß - was nützt Erkenntnistheorie, wenn dieser scholastische Wortrealismus immer noch zucken darf? Wenn ein skeptischer Idealismus mit glänzendem Erfolge lehren darf, daß die Welterkenntnis in unserem Kopfe das einzig Wirkliche ist und wir von der Wirklichkeitswelt da draußen nichts wissen, nicht einmal, ob sie ist oder nicht ist?

Wenn KANT diese verzweifelte Erkenntnistheorie wieder freundlicher machen durfte durch den scholastischen Zusatz, es sei in unserem Kopfe Welterkenntnis nur der Form nach da, gewissermaßen nur das Schema F, welches von der Wirklichkeitswelt da draußen zwar nach der Vorstellung des hahnebüchenen Realismus ausgefüllt werde, doch so, daß niemand das Füllsel, das Ding-an-sich jemals kennen lernen könne? Und wenn die neue Physiologie der Sinnesorgane noch stolz darauf ist, mit der KANTischen Erkenntnistheorie übereinzustimmen? Fassen wir aber Erkenntnistheorie als Sprachkritik, natürlich als eine Sprachkritik, welche alle Beziehungen unserer Welterkenntnis oder Sprache zur Geschichte, zur Logik und zur Psychologie aufzuklären sucht, so wächst die von den Fachmetaphysikern verachtete Erkenntnistheorie langsam zur Wissenschaft der Wissenschaften heran, sie wird zur einzigen Wissenschaft, weil wir ja nichts wissen als etwa das bißchen, was wir vom Wissen wissen. Und auch die Crux der Erkenntnistheorie, die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Welterkenntnis und der Wirklichkeitswelt, gewinnt vom sprachkritischen Standpunkte ein etwas verändertes Ansehen.

Würde Erkenntnistheorie und Sprachkritik nicht zu einem einzigen Begriffe zusammenfallen, so kämen wir hier in nicht geringe Verlegenheit, weil wir doch auch die Sprachkritik als die einzige Wissenschaft proklamiert haben. Wir können aber Sprachkritik und Erkenntnistheorie einander gleich setzen, wenn wir die KANTsche Erkenntnistheorie nur so verstehen, wie sie gerade durch die neuere Auffassung der Sinnesorgane, die evolutionistische, uns allein noch vorstellbar geworden ist. Es hat nämlich die Physiologie gar keinen Grund, sich ihrer Übereinstimmung mit KANTs Metaphysik zu rühmen; es ist da nur geschehen, was immer geschieht: die Naturwissenschaft hat sich in ihren abstraktesten Begriffen immer der zuletzt in Ansehen gewesenen Philosophie gefügt, und wäre diese Philosophie auch zufällig die letzte Religion gewesen.

Wie schon in anderem Zusammenhange gezeigt, ist KANTs Erkenntnistheorie für uns darum gealtert, weil er von der Entwicklung der einzelnen Sinnesorgane und sonach auch von der Enwicklung des menschlichen Verstandes trotz seiner Theorie des Himmels noch keine Vorahnung hatte, noch keine Vorstellung haben konnte. Die Bedeutung dieser Tatsache scheint mir auf der Hand zu liegen. Der Skeptizismus von KANTs Vorgänger, der skeptische Idealismus HUMEs, daß nämlich die Welterkenntnis in unserem Kopfe das einzig Wirkliche sei, könnte auch unter der Herrschaft der Entwicklungstheorie weiter gelehrt werden; denn ob die Sinne und der Verstand sich entwickeln oder nicht, von der Wirklichkeitswelt erzählen sie uns fürs erste nichts. Sobald aber die Sinne und ihr Verstand sich von dem blinden Tappen der Amöbe bis zur Gehirntätigkeit eines KANT langsam entwickelt haben, kann es doch im Verstande kein unveränderliches Schema F geben, können doch die Kategorien des Verstandes nicht die feste Form aller Weltanschauung bieten. Von einer Warte aus gesehen, die nicht wie NAPOLEONs Pyramiden vierzig Jahrhunderte, sondern vierzig Hunderttausende von Jahren überblickt, erscheint das Verhältnis von Welterkenntnis zur Wirklichkeitswelt etwa so, wie uns die Geschichte der Philosophie als kleines Bild der großen Entwicklung erscheint. Es ändern sich nämlich nicht nur die Philosophien von Jahrhundert zu Jahrhundert, sondern mit ihnen auch die Geschichte der Philosophie, weil der Standpunkt immer wieder ein anderer wird.

So ändert sich das Bild unseres Sonnensysterns für den irdischen Beobachter unaufhörlich, weil der Standpunkt des Beobachters mit der Bewegung der Erde sich ändert. In der Astronomie hat man diese doppelte und dreifache und so weiterfache Bewegung in mathematische Formeln bringen können, seitdem man die Bewegung der Erde berechnet hat. Eine solche fast mathematische Formel für die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sinne und ihres Verstandes wäre die Vollendung der KANTischen Philosophie. Eine solche Denkform der fortschreitenden Welterkenntnis müßte sich aus der Geschichte der Sprachen aufbauen lassen, wenn wir eine Idealgeschichte der menschlichen Begriffe besäßen. Neben einer Entwicklungsgeschichte des menschlichen Gehirns und der einzelnen Sinnesorgane wäre eine solche Wissenschaft also etwa das, was SPENCER einmal "die Psychologie, von ihrer subjektiven Seite betrachtet, eine durchaus einzig dastehende Wissenschaft, unabhängig von allen anderen irgend denkbaren Wissenschaften und einer jeden grundsätzlich entgegengesetzt" genannt hat. Es wäre das nicht nur eine einzig dastehende, sondern überhaupt die einzige Wissenschaft, es wäre die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Verstandes, und da diese nur die kritische Geschichte des in der Sprache allein aufbewahrten Gedächtnisses der Menschheit wäre, so wäre diese einzige Wissenschaft die Kritik der Sprache. Dieser Idealwissenschaft, sich auch nur anzunähern, wäre schon ein stolzer Traum. Nur daß wir uns zur rechten Zeit besinnen, daß nach unserer Lehre die einer solchen Idealwissenschaft zu Grunde zu legende Entwicklungsgeschichte der Sinnesorgane ebenso Zufallsgeschichte wäre wie unser bißchen sogenannte Weltgeschichte, daß unsere Sinne Zufallssinne sind, daß also auch die Geschichte der Sinne und ihres Verstandes oder die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Vernunft oder die Kritik der Sprache am letzten Ende zu keiner Welterkenntnis führen wird.

Will man den Fortschritt auf dem Gebiete dieser speziellen Frage an einem gewöhnlichen Beispiele überblicken, so frage man sich: was etwa die menschlichen Sinne und ihr Verstand von einem Apfel auszusagen gelernt haben und wie derselbe Verstand diese Aussagen kritisieren gelernt hat. Daß die Bekömmlichkeit des Apfels, sobald man ihn als Nahrung in sich aufgenommen hat, eine subjektive Menschenvorstellung sei, ein Zweckbegriff, der nicht identisch sei mit dem Zweck des Apfelbaumes, Äpfel hervorzubringen, das hätte am Ende schon ARISTOTELES gewußt, wenn er auch den süßen Geschmack des Apfels noch als objektive Eigenschaft des Dings betrachtet hätte. Es brauchte zwei Jahrtausende, bevor LOCKE klar und deutlich erkannte, daß auch der Begriff  süß  ein subjektiv menschlicher Begriff sei, dem Apfel nicht gehöre und überhaupt nicht vorhanden wäre, gäbe es nicht tierische Geschmacksnerven, auf welche der Apfel die und die chemische Wirkung ausübt. Daß die Geschmackswirkungen übrigens so wenig objektiv seien, daß sie sogar von der Temperatur der menschlichen Sinnesorgane abhängen, ist in den letzten Jahren wieder beobachtet worden, nachdem die alten griechischen Skeptiker es schon etwas sophistisch gelehrt hatten. Für LOCKE gab es aber noch besonders ausgezeichnete Qualitäten, welche der Apfel objektiv besaß: seinen Härtegrad, seine Kugelgestalt. Diese Anschauungsformen der Physik und Mathematik verlegte nun KANT ebenfalls in die Subjektivität des menschlichen Gehirns, ohne aber diese Subjektivität als geworden begreifen zu können. Erst SPENCERs außerordentlich feine Untersuchungen über die Entwicklung der Raumvorstellungen lassen uns hoffen, daß auch dieser letzte Punkt, an welchem die Subjektivität der Welterkenntnis noch in der Luft schwebt, für die Entwicklungsgeschichte des Verstandes sprachlich erobert werden wird.

Wenn ich in diesen schwierigen Dingen einigermaßen klar gewesen bin, so wird man verstanden haben, wie der scheinbar ungelöste Streit zwischen Realisten und Idealisten sich aufhebt, wie die Erkenntnistheorie also doch wohl ein Gegenstand des Nachdenkens und zwar der alleinige Gegenstand des philosophischen Nachdenkens sein kann, und wie wir am Anfang des 20. Jahrhunderts wieder einmal in der Illusion leben können, eine letzte Sprosse erreicht zu haben. Die Analyse von Raum und Zeit scheint so nahe, als wäre sie bereits mit der Hand zu erreichen.

Nun kommt freilich auch für unser Nachdenken wieder ein allerletzter Punkt: die Kausalität. Unsere ganze Welterkenntnis ist auf dem Begriff von Ursache und Wirkung aufgebaut, und da sind wir freilich über KANTs scholastische und unvorstellbare Redewendung, daß auch die Kausalität eine Form des menschlichen Verstandes sei, noch nicht hinausgekommen. Damit hängt die schikanöse Frage zusammen, ob es denn eine Wirklichkeitswelt überhaupt gebe, ob wir die Welt nicht einfach träumen. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß KANT einen groben Schnitzer gemacht hat (der ihm denn auch sofort von dem besten Gegner entgegengehalten wurde), da er die objektive Wirklichkeitswelt, die er Ding-an-sich nannte, als eine notwendige Voraussetzung unserer subjektiven Welterkenntnis hinstellte. Dieses Ding-an-sich sollte die Ursache der Erscheinung sein, die das Weltbild in unserem Gehirn ist. ist aber die Kausalität, das ist der Begriff von Ursache und Wirkung, nur subjektiv, nur dem Weltbilde in unserem Gehirn, nur der Welt als Erscheinung angehörig, so war es falsch, den Begriff der Ursache auf dieses Weltbild selbst anzuwenden, dieses Weltbild die Wirkung von irgend etwas sein zu lassen.

Ich weiß wohl, daß diese Deduktion ein Spiel mit Worten ist. GOETHE hat sich im zweiten Teile des Faust schon über FICHTE lustig gemacht, wenn er den Baccalaureus sagen läßt: "Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf". Weder BERKELEY, noch FICHTE, noch STIRNER (der den Solipsismus ins Politische umdeutete) haben gezögert, ein Stück der Außenwelt als wirklich anzuerkennen und herunter zu schlucken, sobald sie Hunger hatten. Instinktiv betrachten wir einen Menschen für wahnsinnig, der aus theoretischen Gründen leugnet, daß die Wirklichkeitswelt da draußen irgendwie die Ursache sei des Weltbildes in uns. Nur daß die Wirklichkeit anders sei als ihr Bild, nur daß das Bild der Welt ein bloßes Symbol sei, behauptet die Erkenntnistheorie.

Die neuere Theorie der Sinneswahrnehmungen, welche die Empfindungen der Wärme, des Geschmacks, des Gehörs und des Gesichts mit mathematischer Genauigkeit in Wirkungen von äußeren Bewegungen aufzulösen gesucht hat, ist eigentlich nur ein Ergebnis materialistischer Weltanschauung. Eine Geschichte dieser Theorie lehrt, daß die neuesten und methodisch gewonnenen Messungen nur Fortführungen jener Hypothesen sind, welche auf Grund der mechanischen Entdeckung GALILEIs von DESCARTES, GASSENDI und HOBBES für das Leben der Seele aufgestellt worden sind. In dieser Beziehung war auch DESCARTES Materialist. Wenn nun die neuesten Physiologen, in der Ahnung, daß der Materialismus überwunden sei, ihre Studien an KANTs Erkenntnistheorie anknüpfen wollen, so erweisen sie dieser Metaphysik eine Ehre, die KANT nur mit Verleugnung seines Grundgedankens annehmen könnte. Diese Physiologen, an ihrer Spitze der Physiker HELMHOLTZ haben nämlich die dunkle Vorstellung, dem Ding-an-sich näher gekommen zu sein, wenn sie die Erscheinungen durch die der Wirklichkeit angehörenden Wellenschwingungen, Molekularbewegungen, erklärt haben. Bewegungen jedoch sind ohne die Begriffe  Kraft  und Zeit nicht denkbar; Kraft und Zeit aber gehören nach KANT ebensosehr zu den Kategorien des Verstandes, also zu der Erscheinungswelt, wie Farben und Töne. In der Sprache von LOCKE ausgedrückt, haben die modernen Physiologen nur die sekundären Eigenschaften der Körper durch ihre primären erklärt; die primären Eigenschaften sind weder durch sie, noch durch KANT erklärt, weder materialistisch, noch idealistisch erklärt.

Wenn das menschliche Denken, oder das Gedächtnis, oder die Sprache ungeeignet ist für das Zustandekommen oder für das Ausdrücken einer Welterkenntnis, so ist darunter selbstverständlich eine wahre Welterkenntnis gemeint. Denn es ist doch wohl unbestritten, daß Worte für eine falsche Erkenntnis zur Verfügung stehen. Eine wahre Erkenntnis besitzen wir nicht, aber wir wissen nicht einmal, was das ist: die Wahrheit, ohne welche die Erkenntnis keinen Wert hat.

Was ist Wahrheit? "In einem tiefen Brunnen lebt die Wahrheit, und wenn sie heraus will, klopft man ihr auf die Finger." Gut. Dann müßten wenigstens die Feinde der Wahrheit sie gesehen haben, sie kennen. Doch die Wahrheit, der man auf die Finger klopft, ist nicht die objektive Wahrheit, sie ist nicht einmal die subjektive Wahrheit, sie ist einzig und allein ein dichterisches Bild der Ehrlichkeit oder Offenheit, hat also nur mit dem Charakter zu tun und nicht mit der Erkenntnis.

Was ist Wahrheit? Alle Definitionen des Begriffs sind entweder so kindlich wie die des heiligen AUGUSTINUS, der rhetorisch ausrief, die Wahrheit würde auch nach dem Untergange der Welt weiter bestehen, der aber mit solchen Sätzen wirklich mehr predigte als philosophierte; oder: die Definitionen der Wahrheit laufen auf das bewußte oder unbewußte Zugeständnis hinaus, daß der Wahrheitsbegriff nur unserem Denken oder Sprechen zugehöre, nicht aber der Wirklichkeitswelt. So für den landläufigen oder den theologischen Dualismus, der ein Denken neben oder über der Welt annimmt, wäre dann die Vorstellung von einer objektiven Wahrheit irgendwo im Sitze der Seele ausdenkbar, wenn auch für die Erforschung dieser objektiven Wahrheit nicht verwendbar. Für uns, die wir zwischen Denken und Sprechen nur mühsam einen Unterschied entdeckt haben, ist eine objektive Wahrheit irgend eines absoluten Denkens unvorstellbar. Und der Begriff der subjektiven Wahrheit grenzt auf der einen Seite zu nahe an den der Wahrhaftigkeit, auf der anderen Seite zu nahe an den der Selbsttäuschung, als daß sich nicht gerade in ihm die prächtigsten Gegensätze vereinigten.

Die objektive Wahrheit müßte, um uns etwas zu sein, ein Verhältnis aussprechen, das Verhältnis einer Idee, eines Satzes, einer Vorstellung zu der Wirklichkeit. Man wollte denn anders diese Wirklichkeit selbst die Wahrheit nennen, was sehr hübsch klänge, nur daß dann die Wahrheit aus unserem Denken, wo allein sie einen Schein von Dasein hat, hinausgeworfen wäre in das Gebiet, von dessen Bezirk kein Wanderer wiederkehrt, von welchem Gebiet wir nichts wissen. Ja der Satz, "die Wirklichkeit allein ist wahr", wäre für uns unfreiwillig komisch.

Wahrheit ist die Übereinstimmung unserer Ideen, Sätze, Vorstellungen mit irgend etwas Wirklichem. Was ist dieses Wirkliche? Der Theologe bemühte dafür einst die Ideen Gottes und blieb nur die Antwort darauf schuldig, woher wir von diesem Kriterium der Wahrheit sichere Kunde erhalten können.

Was ist Wahrheit? Die Übereinstimmung unserer Vorstellungen, Begriffe und Urteile, kurz die Übereinstimmung unseres Denkens oder Sprechens mit der Wirklichkeit. Was ist Wirklichkeit? Die außer uns befindliche Ursache unserer Sinneseindrücke und damit unserer Vorstellungen, unseres Denkens oder Sprechens. Eigentlich dürfen wir aber KANTs Fehler nicht wiederholen, dürfen wir nicht sagen, daß etwas außer uns die Ursache von etwas in uns, daß die Wirklichkeit die Ursache von unseren Vorstellungen und unseren Gedanken sei; denn der Begriff der Ursache ist ja selbst in uns, aus unseren Vorstellungen entstanden. Wir dürfen nur etwa sagen: die Wirklichkeit besteht in irgend einer Art von Übereinstimmung zwischen der Außenwelt und unserer Innenwelt. Wir gelangen also, wenn wir auch für die erste Definition das Schwanken des Begriffs Übereinstimmung auszudrücken versuchen, zu dem traurigen Satzgebilde: Wahrheit ist eine Art von Übereinstimmung unseres Innenlebens mit der Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist eine Art von Übereinstimmung von etwas Unbekanntem mit unserem Innenleben. Anstatt Innenleben können wir jedesmal Sprache setzen.

Wie aber jedes Wort unserer Sprache mit größeren oder kleineren Schwingungen zwischen verschiedenen Bedeutungen hin und her schwirrt, so steht es auch, und auch in diesem Buche, um das Wort  Wirklichkeit.  Bald wird es mehr konkret gebraucht und bedeutet so mit materialistischem Aberglauben die wirkende Ursache unserer Vorstellungen, bald mehr abstrakt für etwas, was man richtiger die Wahrheit der Wirklichkeit nennen sollte. Und unter solchen Umständen fragen wir immer noch: Was ist Wahrheit? Man müßte an den Wert der Logik glauben und die Wahrheit in die Übereinstimmung der Begriffe untereinander verlegen, um hoffen zu können, die Frage sei logisch d.h. tautologisch - wie wir sehen werden - zu beantworten. Auch die Begriffe  wahr, gewiß  und  richtig  wirren ein wenig durcheinander. Nicht einmal diese Verwirrung nützt uns. Nichts scheint in unserem Wissenschaftsgebäude so wahr, so gewiß und so richtig als die astronomischen Formeln und Rechnungen; und doch weiß jeder Astronom, daß seine Formeln und Rechnungen über die Planetenbahnen nur dann stimmen, wenn man von Einflüssen dritten, vierten bis n-ten Ranges absieht. Selbst die gewisseste Wahrheit ist nur á peu prés wahr. Wirkliche Wahrheit ist ein metaphysischer Begriff; zum Wahrheitsbegriff sind die Menschen ohne jede Erfahrung gelangt wie zum Gottesbegriff. In diesem Sinne darf man freilich sagen: Gott ist die Wahrheit. Und: die Wahrheit ist Gott. "Worte sind Götter."
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906