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FRITZ MAUTHNER
Weltbild der Amöbe
I -22

"Das Mikroskopieren verführt zu falscher Namenerfindung. Freilich ist das nur der gleiche Irrtum, der nichtmikroskopierende Menschen auf die Vortrefflichkeit ihrer unbewaffneten Sinnesorgane vertrauen läßt."

Ich habe also bisher gezeigt, daß der Gehörsinn, der Wärmesinn und der Gesichtssinn selbst von denjenigen Wirklichkeitsvorgängen, auf welche wir durch Kombination aller Sinneswahrnehmungen zu schließen ein Recht haben, jedesmal nur einen zufälligen und verhältnismäßig kleinen Ausschnitt wahrnehmen können. Wir durchschauen das zufällige Wesen dieser Sinne noch etwas schärfer, wenn wir gerade an dieser Stelle versuchen, uns von den Sinnesorganoiden der niedersten Lebewesen eine Vorstellung zu machen. Ich kann dabei, mangels eigener Beobachtungen, nur die Angaben der psychophysiologischen Protistenstudien von VERWORN (1889) benützen, die offenbar auf der Höhe der Wissenschaft stehen und nur allzu dogmatisch die Grundgedanken und die schematische Metaphysik HAECKELs (dessen "Welträtsel" eben erst 1906, von einem ganz modernen Naturforscher, dem Physiker O.D. CHWOLSON in dem Schriftchen HEGEL, HAECKEL u.s.w." abgelehnt wurden) als unantastbare Wahrheiten voraussetzen. Ich kann die Begriffe VERWORNs nicht brauchen, desto besser seine Experimente und Vivisektionen an den mikroskopisch kleinen Urtieren.

VERWORNs Begriffe sind deshalb unbrauchbar, weil er das Mikroskop überschätzt und den ungeheuern Abstand zwischen den sogenannten Molekülen und den allerdings mikroskopisch kleinen Protisten nicht begriffen hat. Über diesen Punkt findet man, ganz allgemein ausgesprochen, ein ausgezeichnetes Wort in TYNDALLs von HELMHOLTZ herausgegebenen "Fragmenten aus den Naturwissenschaften", die freilich eine bessere Übersetzung verdient hätten, TYNDALL sagt da (Seite 180):
"Wenn z.B. vom Inhalt einer Zelle gesagt wird, derselbe sei vollkommen homogen, gänzlich strukturlos, weil das Mikroskop keine Struktur zu erkennen vermag, oder wenn zwei Gebilde für identisch erklärt werden, weil das Mikroskop keinen Unterschied entdecken kann, dann spielt meiner Ansicht nach das Mikroskop eine schädliche Rolle. Eine kurze Überlegung wird Ihnen allen klar machen, daß das Mikroskop in der wahren Frage der Keimstruktur keine Stimme haben kann. Destilliertes Wasser ist vollkommener homogen, als der Inhalt irgendwelcher organischen Zelle. Was bewirkt nun, daß das Wasser bei 390 Fahrenheit aufhört, sich zusammenzuziehen, und von da ab sich auszudehnen beginnt, bis es friert? Es ist dies ein Vorgang in der Struktur, wovon das Mikroskop nichts enthüllt und es auch kaum tun wird trotz aller möglichen Fortschritte in seiner Leistungsfähigkeit ... Oder sind etwa der Diamant, der Amethyst und die unzähligen Kristalle, die sich im Laboratorium der Natur bilden, ohne Struktur? Keineswegs; sie haben sämtlich ihre Struktur. Allein was vermag das Mikroskop daran zu leisten? Nichts. Es kann nicht bestimmt genug ausgesprochen werden, daß zwischen den Grenzen des Mikroskops und denen der Molekeln Raum ist für unzählige Vertauschungen und neue Verbindungen ... Die Verwicklung des Problems erregt Zweifel nicht nur an der Macht unseres Instrumentes - das würde nichts sagen -, sondern daran, ob wir selbst die intellektuellen Urkräfte haben, welche es uns jemals gestatten werden, uns an den ursprünglich gestaltenden Kräften der Natur zu versuchen."
Daran wird auch das Ultramikroskop nichts ändern.

Die Überschätzung des Mikroskops hat schlimme Begriffsverwirrungen zur Folge. Schon daß eine große Zahl kleiner Lebewesen nur um ihrer Kleinheit willen, also aus Verlegenheit, in eine einzige Klasse zusammengeworfen wird, ist für solche Untersuchungen ein arger Übelstand. Mir will scheinen, daß die unter unseren besten Mikroskopen noch strukturlosen Rhizopoden mit ihren Scheinfüßen und die hochentwickelten Ciliaten mit ihren Wimperbewegungen sich der Art nach so sehr unterscheiden wie irgend ein Schwamm von einem Wirbeltier. Klassifizieren kann man doch nur nach Ähnlichkeiten; Kleinheit ist morphologisch keine Ähnlichkeit. Dazu kommt, daß selbst der Größe nach in die Klasse der Protisten Wesen gerechnet werden, die sich an Länge relativ mehr voneinander unterscheiden als eine Maus und ein Elefant, da z.B. eine  Halteria grandinella  nur ein hundertstel Millimeter, ein  Spirostomum ambiguum  mehr als einen ganzen Millimeter lang ist. Es ist darum vollkommen unwissenschaftlich, unter solchen Umständen aus Beobachtungen an der einen Art Schlüsse auf die andere Art zu ziehen; ebensogut könnte ein sehr makroskopischer Beobachter (SWIFTs Riesen von Brobdingrag) behaupten, es habe irgend ein Säugetier keine Lungen, weil der Hering keine besitzt.

Es ist ebenso unwissenschaftlich, um des HAECKELschen Systems willen die Moneren, das heißt "strukturlose", kernlose Lebewesen, von organisch differenzierten Urtieren zu unterscheiden. VERWORN selbst hat die Sachlage in seiner "Allgemeinen Physiologie" (4. Aufl. 1903, Seite 85), wo er HAECKEL schon freier gegenüber steht, sehr gut dargelegt:
"Der Begriff Protoplasma, wie ihn die älteren (in der Physiologie veralten Hypothesen sehr rasch) Zellforscher geschaffen haben, ist einerseits gar kein chemischer, sondern ein morphologischer Begriff, und anderseits umfaßte er den ganzen Inhalt der Zelle mit Ausnahme des Kerns. Dieser Zellinhalt ist aber weder in chemischem noch in morphologischem Sinne eine einheitliche Substanz."
Es wäre ein Glück für die Naturwissenschaft, wenn es die ganze Familie Plasma, Protoplasma und die gesamte Nomenklatur, die HAECKELs Sprachklitterung hinzu erfunden hat, wieder los werden könnte.

Das Mikroskopieren verführt zu falscher Namenerfindung. Freilich ist das nur der gleiche Irrtum, der nichtmikroskopierende Menschen auf die Vortrefflichkeit ihrer unbewaffneten Sinnesorgane vertrauen läßt; der Mikroskopiker sieht nicht weiter als sein Mikroskop, und wo er keine Struktur wahrnimmt, da spricht er von Strukturlosigkeit. Die Bildung des Begriffs "Organoid", den ich oben nachgesprochen habe, hängt damit zusammen. VERWORN bemerkt ganz deutlich, daß seine Urtierchen sich auf Reize zusammenziehen, also die Reize empfinden. Beim Menschen hat man als Organ der Bewegung die Muskeln, als Organ der Empfindung die Sinnesnerven erkannt. Eine berechtigte Einbildungskraft sagt dem Mikroskopiker, es werde die Empfindung und Bewegung beim Urtier in ähnlicher Weise vermittelt. Da aber selbst das schärfste Mikroskop ihn nicht in den Stand setzt, die muskelähnlichen und die sinnähnlichen Organe zu beschreiben, so nennt er die beiden dunkel geahnten Gebilde Myoide und Organoide und glaubt eine Erklärung gegeben zu haben. Doch muß ausdrücklich anerkannt werden, daß VERWORN wohl bemerkt hat, es sei die Einschränkung des Seelenbegriffs auf Tiere mit differenziertem, d.h. für den Menschen wahrnehmbarem und wahrnehmbar differenziertem Nervensystem, nur eine sprachliche Frage. Daß er im Übereifer Seele und Leben identifiziert, ist bei der allgemeinen Unklarheit der Psychologie weiter nicht schlimm. Für einen Physiologen erst recht nicht. Nun zu einigen Tatsachen, welche für unsere Untersuchung wichtig sind.

Zahlreiche Experimente haben den sorgsamen Forscher zu dem Ergebnis geführt, "daß bei den betreffenden Protisten von einer Reaktion auf Schallwellen nicht wohl gesprochen werden kann, da eine größere Anzahl nur mittelbar auf sie einwirkender Erschütterungen vollständig ohne Wirkung bleibt, und die etwa auftretenden Veränderungen nur Folge der groben sekundären Erschütterungen sind" (Seite 95). Wenn ich mich recht erinnere, so reagieren seine Versuchstierchen auf Töne nur, sobald der Behälter mit dem Protisten auf einer tönenden Stimmgabel festgekittet ist. Ist aber die Frage, ob die Protisten auf akustische Reize reagieren, nicht falsch gestellt? Nicht zu menschensprachlich gestellt? Für den Menschen"? Was sind denn akustische Reize? Außerhalb des Menschen sind sie nur Schwingungen von Körpern, akustisch werden sie erst im Ohre. Die Frage müßte also so lauten reagieren die Protisten auf Schwingungsbewegungen und wie reagieren sie? Wenn die Protisten das Schwirren der sie umgebenden Flüssigkeit nur durch etwas wie den Tastsinn wahrnehmen, so tun sie dasselbe, was die Menschen mit den Schwingungen unter der Zahl von sechzehn und über der Zahl von sechzehntausend tun.

Nach VERWORN nimmt die  Amoeba princeps  (wenn ihr Behälter mit einem Zinken der Stimmgabel fest verkittet ist) die Schwingungen von etwa 250 bis 500 wahr und reagiert darauf wie auf andere Reize durch Einziehen der Scheinfüße. Handelte es sich dabei um rein physikalische Übertragungen der Bewegung, so wären solche Beobachtungen nur unvollständig, aber nicht irreführend. Hier handelt es sich jedoch ausdrücklich um Bewegungen auf Reize, um  psycho -physiologische Vorgänge, und da kann nicht scharf genug ausgesprochen werden, daß das Vergleichen zwischen der Tonempfindung des Menschen und einer Tonempfindung der Protisten nicht angeht. Eigentlich können nur Menschen psychologisch miteinander verglichen werden; seitdem es Menschen gibt, ist instinktiv die Hypothese aufgestellt und benützt worden, daß Äußerungen meines Nebenmenschen die Folgen derselben Seelenerregungen sind wie bei mir. Selbst auf die intelligentesten und dem Menschen befreundetsten Tiere läßt sich diese Hypothese nur symbolisch anwenden, das heißt der Seelenbegriff muß metaphorisch erweitert werden, um auch nur auf den Hund angewendet werden zu können. Immer weiter geht die Metapher, auf je niedrigere (wie man sagt) Tiere der Seelenbegriff übertragen wird.

Das hat auch VERWORN empfunden; dennoch stellt er zu Beginn seiner Untersuchungen eine falsche Methodik auf, die natürlich ein blendendes. mathematisches Gewand annimmt. Er meint: da die objektiven Äußerungen (Bewegungen) und die subjektiven Vorgänge beim Menschen, ferner die objektiven Äußerungen bei den Protisten bekannt seien, so könne man immerhin aus den drei bekannten die vierte Größe, die unbekannte, die subjektiven Vorgänge bei den Protisten, erschließen. Mir scheint diese strenge Methodik ein treffliches Beispiel für die Überschätzung der Logik und der Sprache überhaupt. Die Aufdeckung des Fehlers scheint mir bei einiger Aufmerksamkeit nicht schwer. Warum macht man denselben Schluß nicht bezüglich derjenigen Bewegungen, welche von der Schwerkraft, vom Magnetismus u.s.w. aus gelöst werden? Doch offenbar nur darum nicht, weil man bei der Vergleichung von Protistenbewegungen, und Menschenbewegungen unter dem Begriffe "Bewegung" halb unbewußt eine Bewegung des 0rganismus, eine Bewegung auf Reize mitversteht, die uns Menschen - sobald wir uns bewegen - durch die mit ihr verbundenen Bewegungsgefühle als Lebensäußerung so wohlbekannt ist.

Wo ein Forscher bei dem Begriff Bewegung nicht unwillkürlich an organische Bewegung denkt, wo er, seiner Neigung folgend, den Seelenbegriff vor der Denktätigkeit schon erweitert hat, da ergibt sich eben auch als Ergebnis die Allbeseelung, eine Seele als Ursache oder als Begleiterscheinung von Bewegungen durch Schwerkraft und durch Magnetismus. So bei FECHNER, so - viel weniger metaphorisch, poetisch, viel weniger konsequent und originell - bei HAECKELs Lehre von der Zellseele, der Seele des kernlosen Protoplasmas und der Atomseele. Diese metaphorische Erweiterung des Seelenbegriffs ist augenfällig. Wir haben uns damit bei dem Begriff der "Pflanzenseele" auseinandergesetzt. Sieht man genauer zu, so ist auch in der Anwendung des Begriffs Bewegung dieser verschiedene Seelenbegriff mitverstanden: es hängt von der allgemeinen Weltanschauung des Forschers, falls er überhaupt eine hat, von vornherein ab, ob er bei den Bewegungen der Protisten und bei den Bewegungen der Menschen die ähnlichen Bewegungsursachen mitversteht. Der Schluß aus den drei Bekannten steckt also schon vorher in der Vorstellung, die der Forscher sich von der Bewegung der einzelnen Protisten macht. Dehnt er den Begriff der Seele auf die Protisten aus, so setzt er voraus, was er zu beweisen vorgibt; dehnt er ihn auf die Protisten nicht aus, so hat seine Schlußfolgerung keinen Sinn.

Das Seelenleben ist Kombination von Sinnesempfindungen. Es liegt also auf der Hand, daß auch die Vergleichung der menschlichen Sinne mit den Protistensinnen entweder unmöglich ist oder das voraussetzt. was man beweisen will. Wir sind jedoch in der Lage, auf dem Standpunkt der heutigen Physiologie diese Unvergleichbarkeit noch deutlicher aufzuzeigen. Kehren wir zu den akustischen Empfindungen zurück, so werden wir jetzt das, was wir beim Menschen akustische Empfindungen nennen, bestimmter definieren. Daß menschliche Ohr nimmt regelmäßige Schwingungen der Körper innerhalb der Grenze von sechzehn bis sechzehntausend so wahr, wie wir dieses Gefühl als Ton verstehen. Ich behaupte nun daß gerade die Regelmäßigkeit ganz gleicher kleiner Stöße unsere Nerven dazu geführt hat, diese Stöße zu klassifizieren. Hier steckt eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Nervenleben und Sprachleben verborgen; Klassifikation oder Begriffsbildung ist immer Vergleichung, zuletzt ist aber auch jede Sinnesempfindung Vergleichung von sehr ähnlichen und sehr kleinen Empfindungselementen. Genug, für einen Ausschnitt einer Art unter allen möglichen Körpervibrationen haben wir das Sinnesorgan des Gehörs. Die Art dieser Empfindung können wir nur empfinden (ich komme ohne diese Tautologie nicht aus), immer nur empfinden, niemals auch nur beschreiben.

Wie in aller Welt sollen wir nun erfahren, ob das Protist irgend etwas diesen unbeschreiblichen Empfindungen Ähnliches empfindet oder nicht? Ob es die Schwingungen von 250 bis 500, auf welche die  Amoeba princeps  ihre Scheinfüße einzieht als mechanische oder als akustische Reize empfindet? Als elementare Stöße oder als symbolische Bilder von Stoßgruppen? Wir neigen selbstverständlich dazu, dem Protist da nur Tastsinn, aber keinen Gehörsinn zuzuweisen und zu glauben, das Protist empfinde die Schwingungen von 250 bis 500 etwa so mit dem Tastsinn, wie wir Menschen die Schwingungen unter sechzehn und über sechzehntausend. Was wissen wir aber von der "Protoplasmaseele" und von der "Zellseele"? Was wissen wir davon, ob die für unsere schärfsten Mikroskope unsichtbaren Reizvermittler im Protoplasma feiner oder gröber sind als das Nervensystem des Menschen? Ja, was wissen wir davon, ob der Tastsinn des Menschen gröber oder feiner ist als sein Gehörsinn und sein Gesichtssinn?

Die inneren Vorgänge im sogenannten Bewußtsein der Menschen und die inneren Vorgänge in einem Protist, das sich auf mechanische Reize nur bewegt, Reaktion auf unmittelbar akustische aber nicht zeigt, miteinander zu vergleichen oder gar gleich zu nennen, ist also recht eigentlich unpsychologisch; nicht einmal sprechen sollte man darüber. Weil aber die Verhältnisse bei den Protisten so einfach liegen oder doch so einfach zu liegen scheinen, was für unsere Vorstellung dasselbe ist, so können wir uns mit Hilfe der Protisten den Urzustand unserer spezifischen Sinnesenergien, die Zufälligkeit ihrer einzelnen Arten und die Zufälligkeit ihrer Ausdehnungsgebiete doch recht gut ausmalen. Wir brauchen dazu nur eine kühne und schöne Hypothese anzunehmen, welche TYNDALL über die Wirkungen der sichtbaren und der bloß wärmenden Strahlen der Sonne klar ausgesprochen hat. Er sagt (Fragmente S. 224).
"Der Sehnerv antwortet sozusagen den Wellen, mit denen er in Konsonanz ist; er läßt sich dagegen nicht erregen durch andere Schwingungen, welche eine fast unendlich größere Energie besitzen, allein deren Perioden mit den seinigen nicht im Einklange stehen."
Diese Theorie würde ein mystisches Element einführen, wie denn TYNDALL auch öfter in solchem Zusammenhange von den Zwecken oder Bedürfnissen des Auges redet; aber TYNDALL hat dieser Theorie einen festen Untergrund gegeben: er erklärt ohne Rücksicht auf unsere subjektiven Gesichtsempfindungen die größere oder geringere Absorption der hellen wie der dunklen Strahlen daraus, daß er die Licht- und Wärmeschwingungen des Äthers mit den Molekularschwingungen des mehr oder weniger durchlässigen Stoffes hypothetisch in Konsonanz oder Dissonanz bringt. Man kann die subjektive und die objektive Seite durch eine bekannte Erscheinung von der Mystik des Bewußtseins befreien: streicht man auf der Geige einen bestimmten Ton vor dem offenen Klavier, so antwortet die gleichgestimmte Klaviersaite; streicht man den Ton vor dem menschlichen Ohr, so antwortet die gleichgestimmte Faser im Gehörorgan; die anders gestimmten Saiten oder Fasern bleiben stumm. Bleiben taub, weil sie stumm bleiben. Ich habe mit dem Worte "gleichgestimmte Faser" noch nicht HELMHOLTZ gewagte Hypothese von der Einrichtung der Gehörklaviatur übernommen. Ich meine: organische Gebilde sind immer aktiv. Ich meine: wir können dem feinen Gehörorgan zutrauen, daß es sich selber stimmt, so daß der Apparat dem Geigenspiel auf einer einzigen Saite ähnlicher würde als dem Klavierspiel. Und um das Bild von einer noch jüngeren Erfindung zu nehmen: wie bei der drahtlosen Telegraphie wirken nur gleichgestimmte Wellen auf den Empfangsapparat; nur sie erregen seine Aufmerksamkeit.

Wir können jetzt ein schon vorgestelltes Bild erweitern. Was hört der musikalische Mensch, wenn in einem Konzertsaale hundert Instrumente und hundert Sänger einen Akkord erschallen lassen? Ich sehe davon ab, daß der Akkord sich auf den vorausgegangenen bezieht und die Erwartung eines mehr oder weniger bestimmten folgenden erregt, obgleich diese Beziehung und Erwartung erst die Hauptsache ausmacht, die Stimmung des Kunstgenusses. (Weshalb eine Umkehrung der zeitlichen Folge für Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Melodie unmöglich ist.) Was hören wir, oder vielmehr was nehmen wir wahr? Den Akkord. Jawohl, aber was könnten wir in dieser Sekunde wahrnehmen? Es stürmen. und stürzen in dieser Sekunde auf unseren Körper ein: die unendlich variierenden Molekularbewegungen des Stoffes, auf welchem wir sitzen, hundertfach verändert durch die Stoffe unserer Kleider; die unzähligen Durchkreuzungen der Molekularbewegungen in der uns umgebenden und niemals ganz ruhigen Luft, und die wieder anderen Bewegungen der riechenden Stoffe; die unendlichen Molekularbewegungen, die wir unter anderen Umständen als Wärme empfinden würden, die sich kreuzenden, in ihrer geordneten Verwirrung nicht formulierbaren Molekularbewegungen aller Lichtquellen und ihrer Reflexe; und endlich die Schwingungsverhältnisse der Töne, welche hundert Instrumente und hundert Sänger erregen, die Schwingungen, welche die Tonhöhe ausmachen, und die Nebenschwingungen, welche die Klangfarbe bilden, die regelmäßigen Schwingungen in den schönen Stimmen und guten Instrumenten, die unregelmäßigen Schwingungen in den weniger schönen Stimmen und schlechteren Instrumenten. Die Aufmerksamkeit des Musikers nimmt im Konzertsaal keine Tastempfindung, keine Geruchsempfindung, keine Wärmeempfindung, keine Lichtempfindung wahr, erkennt dagegen sofort die Unregelmäßigkeit in irgend einem der Instrumente; auch der musikliebende Laie erhält vom Tastsinn, vom Wärmesinn, vom Gesichtssinn keine Mitteilung, hört nur die Konsonanz, an deren Vergleichung das menschliche Ohr sich gewöhnt hat; und nur die plötzliche oder heftige Erschütterung eines anderen Sinnes, so z.B. der Gestank oder der Geruch auf dem Nachbarplatze, könnte ihn im Zuhören stören. Sein Interesse hat seine Sinne so eingestellt; wir nennen dieses Interesse Aufmerksamkeit.

Nun wollen wir einmal in der Phantasie den Konzertsaal ins Unendliche vergrößern, zum Weltall, den Zuhörer, den Empfindungsträger, ins Unendliche verkleinern, zur  Amoeba princeps  mit ihrem "strukturlosen", d.h. für unsere bewaffneten Augen organlosen Protoplasma. Was ist das Weltall für die Amöbe? Für den Menschen ist es die Kombination der Wahrnehmungen seiner Zufallssinne, Sinneserscheinung. Was ist das Weltall für die Amöbe, die unsere Sinne nicht hat? Wir wissen es natürlich nicht, weil wir uns von dem Innenleben der Amöbe keine Vorstellung machen können. Nun vollzieht sich aber in unserer Phantasie ein Paradoxon. Ohne KANTsche Philosophie zu Hilfe zu nehmen, gewinnen wir die Vorstellung, daß die Wirklichkeitswelt im Zuschauer sich selbst umso unähnlicher erscheine, als die Sinnesorgane höher entwickelt sind. Und weil wir der Amöbe gar kein Sinnesorgan zuschreiben, gerade darum beschleicht uns so etwas wie eine Ahnung, daß sie die Wirklichkeitswelt richtiger wahrnehme, daß für sie das Ding-an-sich unmittelbar, ich will

Was ist nun diese Wirklichkeitswelt nach dem Bilde, das die neuere Naturwissenschaft sich macht? Das alte Chaos, ein Chaos von Schwingungskreuzungen, ein Chaos allerdings, in welchem von irgend einem übermenschlichen Standpunkte aus Notwendigkeit (nicht Gesetzmäßigkeit) herrscht, aber doch ein Chaos vom Standpunkte des Menschen. Der sturmgepeitschte Ozean mit seinen unformulierbaren Wellenkreuzungen ist diese Wirklichkeitswelt in nuce. Man denke sich anstatt dieser ausgedehnten Fläche eine unendlich größere Kugel; in dieser Kugel kreuzen sich chaotisch alle Molekularbewegungen der Körper, alle Schwingungen der Luft, alle Vibrationen der mit der Elektrizität verwandten Erscheinungen und Nichterscheinungen. Keine Phantasie kann ausreichen, um sich auch nur das Wesen einer einzigen dieser Schwingungen auszumalen; keine Zahl könnte ausreichen, um die Menge auch nur einer einzigen Art zu beziffern; und vor dem Chaos der Kreuzungen macht der menschliche Verstand in stumpfer Resignation Halt. Das ist das Weltall. Für den Menschen existiert natürlich nur die Welt, die er wahrnimmt, das, worauf er durch seine Sinne die Aufmerksamkeit zu richten sich gewöhnt hat: die Zufallsausschnitte seiner Zufallssinne.

Das ist nun das Paradoxon, von dem ich eben sprach. Im Menschen vereinigt sich der hochmütige Aberglaube, er besäße wunderbare Instrumente in seinen Sinnen, mit der resignierten Einsicht, daß wir nichts wissen können, zu der klaren Überzeugung: diese winzigen Zufallsausschnitte von ein paar armseligen Zufallssinnen sind unsere Welt. Man stelle sich einen Zuchthäusler vor; ein Fenster ist in seiner Zelle, aber es ist mit einem undurchsichtigen Stoffe angestrichen; der Zufall hat ein paar nadelstichgroße Löcher geschaffen, durch welche der Zuchthäusler dorthin sehen kann, wo der Zufall hinführt, auf den Hof seines Zuchthauses. Das ist seine Welt. Und in seltsamem Gegensatze zu dieser Mischung von Hochmut und Verzweiflung trauen wir der angeblich strukturlosen Amöbe ein direkteres Verständnis für den Weltlauf zu, als ob sie, selbst chaotisch, eine Formel zur Auflösung des Chaos nicht brauche. "Non intelligendo fit omnia", die Amöbe. Daran ist sicherlich etwas Wahres. Den angenommenen Vibrationen der Wirklichkeitswelt steht das Leben der Amöbe sicherlich näher als irgend ein Sinnesorgan des Menschen; den angenommenen Vibrationen steht aber ganz gewiß das Zusammenstürzen zweier angeblich leblosen chemischen Elemente noch näher. Und doch wird niemand so töricht sein (vorläufig wenigstens), chemische Hypothesen zur letzten unmittelbaren Erklärung menschlicher Psychologie heranzuziehen. Den Anfang des Psychischen in ein Bewußtsein des Chemismus zu verlegen.

Nur ziemlich phantastisch können wir also die Ergebnisse, der Protistenstudien dazu benützen, die Uranfänge unserer Sinne aus dem Interesse und der Aufmerksamkeit zu begreifen, ihre ersten Mitteilungen, d.h. ihre ohne Klassifikation unmöglichen Tast- oder Tonempfindungen schon als erste Begriffs- oder Sprachversuche aufzufassen und bereits auf dieser Stufe zu entdecken, daß die Sprache in der Wirklichkeitswelt nur ein Irreführer ist. Den Leser der Sprachkritik kann diese Zusammenstellung scheinbar so entlegener Begriffe nicht mehr überraschen. Wir werden aber schon an dieser Stelle, nachdem wir noch einige andere Sinneseindrücke der Protisten analysiert haben, uns dem Ursprung der Sprache von einer neuen Seite nähern und begreifen lernen, daß die Aufmerksamkeit oder das Interesse, welches in den Uranfängen des organischen Lebens die Sinne werden ließ, zugleich auch schon etwas wie Sprache war; wir werden sogar erkennen, daß der Zufall, der in der Entwicklung der Sprache, im sogenannten Bedeutungswandel waltet - wie wir später sehen werden - eben auch schon als der Zufall in der Entstehung unserer Sinnesorgane vorhanden war. Die Amöbe hat noch keine Zeichen für C und Cis, unterscheidet beide gewiß noch nicht musikalisch. Kann ihre Schwingungen nicht einmal zählen, weil sie nicht weiß, wie lang eine Sekunde ist. Zählt aber der Musiker die Schwingungen? Die Tonempfindung ist seine Zahl. Und die Amöbe ordnet irgendwie - sicher an Gedächtniszeichen die Stöße, die sie interessieren; die Ordnung bringt die Sinne in die Welt, die Gedächtniszeichen sind eine Sprache.

Nun einstweilen zurück zu den Experimenten VERWORNs. Es ist uns klar geworden, daß seine Frage (ob die Protisten auf akustische Reize reagieren oder nicht?) ganz unmöglich gestellt war. Es könnte höchstens gefragt werden, ob ein Protist irgendwelche organische Bewegungen ausführe in wahrscheinlicher Folge von Einwirkung solcher Vibrationen, wie wir Menschen sie als akustische empfinden. Wir werden gleich sehen, daß diese sprachliche Unterscheidung notwendig ist, wenn die sachliche Unterscheidung zwischen Tastsinn und Gehörsinn nicht fälschlich vom Menschen auf die Protisten übertragen werden soll.

Es tritt nämlich eine ähnliche Schwierigkeit auf, sobald die Frage gestellt wird, ob die Protisten auf Lichteindrücke reagieren? VERWORN hat darüber zahlreiche ältere Beobachtungen mitgeteilt und selbst sehr interessante Versuche angestellt. In seiner Terminologie ausgedrückt, gibt es da allgemein einen Thermotropismus, d.h. die Erscheinung, daß die Protisten sich in der Richtung nach der Wärme hin bewegen, gibt es aber auch bei manchen Protisten Heliotropismus, d.h. die Erscheinung, daß die heliotropischen Urtierchen sich in der Richtung des Lichtes hin bewegen. Heliotropismus wird gelegentlich auch durch den Ausdruck Phototaxis ausgedrückt. Der interessanteste Fall ist der des  Bacterium photometricum,  welches nur auf ultrarote Strahlen und dann noch auf die Strahlen zwischen den Fraunhoferschen Linien C und D (in der Gegend zwischen rot und gelb) reagieren soll. Gewiß eine feine Differenzierung, wie sie nicht einmal das menschliche Auge erreicht hat. Wo aber nehmen wir das Recht her, alle diese Menschenbegriffe auf die Protisten anzuwenden? Ich weiß, daß der Ausdruck Heliotropismus der Botanik entnommen ist, daß es heliotropische Pflanzen gibt, d.h. daß alle Pflanzen mehr oder weniger auffallend heliotropisch sind. Daß es ein märchenhaft schöner Anblick wäre, wenn wir schnell genug (die Bewegung dauert viele Stunden, ist uns zu langsam) beobachten könnten, wie ein ganzes großes Feld von Sonnenblumen oder Enzianen das Antlitz jeder Blüte mit dem Lauf der Sonne dreht. Das wäre Heliotropismus für die Marktbude.

Ist das aber nicht eine recht brutale Ausdrucksweise für Vorgänge, die wir bei Pflanzen und bei Protisten beinahe besser beschreiben können als beim Menschen? Heliotropisch ist in seinem Bewußtsein der Mensch, der im Winter die Sonnenseite der Straße aufsucht oder nach der Riviera fährt. Er sucht die Sonne. Wenn aber die Sonnenblume sich gegen die Sonne wendet, wenn das  Bacterium chlorinum  im Wassertropfen in sehr kurzer Zeit auf ein beleuchtetes Teilstreckchen zuströmt, "als fiele es in eine Falle", so ist die Bezeichnung Heliotropismus doch offenbar zu weit. Von der Sonne weiß weder die Sonnenblume etwas noch das  Bacterium chlorinum.  Weder von dem Worte "Sonne", noch von dem Symbol "Sonne", noch von dem Fixstern Sonne. Aber das Individuum Sonne ist auch nicht die Ursache der Bewegung, sondern die Ursache ist eine von den Wirkungen, welche von der Sonne kommen. Welche dieser Wirkungen kommt in Betracht? Ist die Bewegung Heliotropismus? Oder ist sie Thermotropismus? Oder Galvanotropismus?? Unsere Physik unterscheidet ja Wärmestrahlen und Lichtstrahlen und müßte vielleicht elektrische Strahlen als deren höhere Art annehmen. Die Versuche am  Bacterium photometricum  könnten ja die Hoffnung erwecken, Reaktionen auf Wärmestrahlen und auf Lichtstrahlen getrennt zu beobachten. Aber selbst in diesem klassischen Falle sagen uns die Versuche nichts, gar nichts über das Seelenleben der Protisten. Gar nichts über die ersten Anfänge unserer Zufallssinne. Fast so wenig, als ob wir's wirklich mit einem strukturlosen Protoplasma zu tun hätten. Und wenn wir diese Experimente dennoch hypothetisch zur Erklärung des menschlichen Sinnenlebens heranziehen, so ist das der gleiche Vorgang der Hypothesenentstehung, wie er auch sonst so häufig ist und doch niemals zugegeben wird. Wir beobachten am Protist irgend eine Bewegung; der nächste geistige Vorgang in uns ist der falsche Schluß:  also  ist das Seelenleben des Protists dem des Menschen ähnlich. Es bewegt sich, als ob es Füße hätte:  also  bewegt es seine Scheinfüße ähnlich, wie der Mensch seine Beine bewegt. Ein kindischer Schluß. Der Schluß aus sichtbaren Bewegungen auf psychische Begleiterscheinungen wird immer vager, je unverständlicher uns die Sprache des Organismus ist, der sich bewegt. Ein Beispiel: Mein deutscher Landsmann streckt die Hand aus und sagt dazu "mich hungert"; der Italiener streckt die Hand aus und macht dazu eine übersetzbare Geste; der Schwarze mimt mir vor, daß er esse, und wimmert dazu; der Hund läßt mich durch unruhiges Springen und Schnappen vermuten, daß er Hunger habe; der Fisch zeigt nur noch Eile, die Raupe eilt nicht einmal; die Amöbe hat Bewegungen, die nicht einmal bestimmt auf Aktivität hindeuten. Und trotzdem verzichten wir nicht auf solche Hypothesenbildung. Der aufmerksame Forscher denkt aber noch weiter. Mein Schluß war falsch, sagt er sich, aber er hat meine Phantasie auf die richtige Bahn gebracht.

Ganz anders als beim Menschen ist das Seelenleben des Protists, ganz anders als der Mensch bewegt es seine Füße, nur an den Anfang der Entwicklung können wir die Füße des Protists, können wir das Seelenleben der Protisten setzen. Und wenn auch diese Entwicklungslehre im einzelnen überall so falsch sein sollte wie der erste Schluß vom Menschen auf das Protist, so mag doch die gesamte Gedankenrichtung nützlich sein. Der falsche Schluß hat im Verlaufe zu einer Hypothese geführt, die an sich nicht richtig ist, die aber als Phantasiebeispiel zu einer künftigen besseren Hypothese wertvoll ist. So scheint es mir mit allem Darwinismus zu stehen, so mit den psychologischen Protistenstudien. Die grotesken Vorstellungen der biblischen Schöpfungsgeschichte hätten im Abendlande des Dogmas und der Inquisition nicht überwunden werden können ohne den  neuen  Glauben: es hätte auch anders sein können. Und den Reformatoren hätte gegenüber dem Dogma und der Inquisition die Märtyrerkraft gefehlt, wenn sie so skeptisch klar gewesen wären wie wir, wenn sie sich einer Hypothese bewußt gewesen wären, wenn sie nicht den neuen  Glauben  gehabt hätten: es  war  anders.

VERWORN neigt der Ansicht zu, daß Reaktionen auf Lichtreize bei den Protisten vielleicht gar nicht vorkommen, bei gewissen Bakterien, Rhizopoden und Ciliaten ganz gewiß nicht vorkommen, daß Reaktionen auf Wärmereize aber sehr gut nachweisbar sind. In einem bestimmten Versuche mit Amöben wurden einmal die Wärmestrahlen dadurch ausgeschaltet, daß eine Eisschicht zwischen die Lichtquelle und den Objekttisch gebracht wurde; das andere Mal wurden die leuchtenden Strahlen ausgeschaltet, indem man an die Stelle der Eisschicht eine Lösung von Jod in Schwefelkohlenstoff brachte, die in einer gewissen Konzentration nur gerade die stärksten Wärmestrahlen, aber gar keine Lichtstrahlen hindurchläßt; sieht man bei diesem Versuche von feineren Fehlermöglichkeiten ab (von der Möglichkeit z.B., daß Amöben anders organisiert sind als Menschen), so weist er allerdings darauf hin, daß in diesem Falle nur die Wärme, nicht aber das Licht auf die Amöben wirke. Was heißt das? Wie wenn hier derselbe Vorgang stattfände, den ein berühmter Beobachter am  Bacterium chlorinum  gesehen haben will: daß nämlich durch Anwesenheit von Lichtstrahlen die Bakterien Sauerstoff erzeugen und dieser ihr Sauerstoff die Ursache des Heliotropismus sei? Dann liegt ja - ich kann auch ein neues Wort bilden - Oxygenotropismus vor. Dann handelt es sich rein um chemische Vorgänge, auf welche die Amöbe reagiert, und die Frage, ob diese chemischen Vorgänge durch Wärme mit oder ohne Beisein von Licht erzeugt werden, gehört in die Physik, hat mit der Psychologie nichts zu tun. Es reagiert dann die Amöbe auf den chemischen Vorgang ohne jede Beziehung auf Licht und Wärme, wie der ganz ungebildete Kroat in einem österreichischen Regimente auf das Kommando "Habt acht" reagiert, ohne deutsch zu verstehen, wie die Sonnenblume sich um die Mittagsstunde nach Süden gedreht hat, ohne doch von der Sonne etwas zu wissen, während der Mensch, der nach der Riviera gefahren ist, allerdings mehr oder weniger Begriffe mit dem Worte Sonne verbindet. Man wird gleich sehen, wie ernsthaft diese Vermischung von sprachlichen und sachlichen Bildern gemeint ist.

VERWORN äußert gelegentlich (Seite 58) auf Grund seiner Versuche die Vermutung, Lichtreizbarkeit sei keine allgemeine Eigenschaft alles Protoplasmas, sei also nicht ursprünglich, sondern erst in der Entwicklungsreihe der Organismen erworben. Von einem Manne, der die Protisten auf den Haufen einer einzigen Klasse wirft und sie zu den Urwesen macht, scheint eine solche Ansicht etwas verwunderlich; wir aber brauchen gar nicht anzustehen, weil wir doch die ungeheuern Differenzen zwischen den einzelnen Protisten hervorgehoben haben, ungezählte Hunderttausende von Jahren zwischen gewiß lichtunempfindliche und vielleicht lichtempfindliche Protisten zu setzen, die Lichtempfindlichkeit als einen Fortschritt anzusehen. Worin aber bestünde diese Entwicklung? Doch offenbar ungefähr darin, daß irgend ein Organ einen bestimmten Ausschnitt aus der Wärmeskala feiner klassifizieren lernte, ebenso wie wir früher gesehen haben, daß ein Organ die regelmäßigen Stöße der mechanischen Vibrationen in dem kleinen Ausschnitt von sechzehn bis sechzehntausend Schwingungen als Töne feiner klassifizieren gelernt hat. Wir können uns das recht gut so vorstellen wie die historische Tatsache, daß die Menschheit zuerst gar nicht zählen konnte, dann das elementare Zählen lernte, und vor etwa zweihundert Jahren den Kalkül der Differentialrechnung hinzu erfand. Wirklich genau ebenso. Denn der Gehörsinn, der Gesichtssinn hat Zahlen zu bewältigen, große Zahlen, ohne Rechnen, im Tauschhandel.

Ich mache gleich hier darauf aufmerksam, daß es die Entwicklungsgeschichte unserer Sinne vereinfachen würde, wenn der Gesichtsinn ebenso ein spezialisierter Ausschnitt aus dem Wärmesinn wäre, wie der Gehörsinn ein spezialisierter Ausschnitt aus dem Tastsinn. Denn das Organ des Tastsinns ist ja zugleich, so verschieden die Funktionen sind, das Organ des Wärme- oder Tem ratursinns. Man hat auch schon vorgeschlagen (wie erwähnt), den Tastsinn und den Temperatursinn unter dem Namen "Hautsinn" zusammenzufassen. Wir könnten dann, da ja Geruch und Geschmack chemische Berührung voraussetzen, alle Sinne auf den Tastsinn oder Gefühlssinn zurückführen oder vielmehr, da man bei den Protisten noch nicht einmal von einem differenzierten Tastsinn sprechen darf, auf ein noch unter dem Tastsinn stehendes Reaktionsvermögen gegen äußere Einflüsse.

Wir sehen ein, daß ein Protist Wärme und Licht nicht so unterscheiden kann, wie wir es mit unseren Sinnesorganen tun. Beim Protist sind weder die Organe, noch die spezifischen Sinnesenergien ausgebildet. Man mache sich das klar. Wenn ein Stück Eisen erwärmt wird, von der gewöhnlichen Lufttemperatur bis zur Weißglühhitze, so nehmen wir Menschen zuerst nur eine Wärmesteigerung ohne Lichtempfindung wahr, sodann eine Lichtempfindung, welche allmählich von rot zu weiß übergeht. Es gibt sicherlich Tiere, deren Sinnesorgane so beschaffen sind, daß sie an dem erwärmten Eisenstücke wohl die disparaten Wirkungen von Wärme und Licht unterscheiden können, nicht aber die Gradunterschiede des Lichts zwischen rot und weiß. Von den Protisten aber nehmen wir an, daß sie auch die Unterschiede zwischen Wärme und Licht nicht als disparat empfinden, sondern höchstens als Gradunterschiede eines und desselben Vorgangs.

Wir wollen es versuchen, unseren steilen Zickzackweg nach rückwärts zu überblicken. Wir wußten, daß die menschlichen Sinne dergestalt Zufallssinne sind, daß sie nicht ein Bild der Wirklichkeitswelt, sondern nur Fragmente bieten können. Wir machten bei der näheren Betrachtung der menschlichen Sinnesorgane weiter die Bemerkung, daß diese Zufälligkeit, diese zufällige Beschränktheit sich ferner bis auf das Gebiet jedes einzelnen Sinnes erstreckt, daß jedes einzelne Sinnesorgan von der Provinz, die es zu beherrschen vorgibt, nur den kleinsten Teil überhaupt kennt. Wir hofften über diese zufällige Entstehung unserer Sinne Aufschluß zu erhalten durch die Ergebnisse derjenigen Studien, welche sich mit dem so genannten Seelenleben der Protisten befassen; wir hofften, aus der Entwicklungsgeschichte Belehrung zu empfangen über den Wert unserer gegenwärtigen Sinnesorgane über ihren Wert als Erkenntniswerkzeuge. Es ist uns dabei gegangen, wie es uns bei dem Nachdenken über den Ursprung der Sprache ergangen ist. Zwischen der gegenwärtigen Sprache, das heißt der historischen Entwicklung der jüngsten Zeit von ein paar tausend Jahren, und dem hypothetischen Ursprung liegt eine unüberbrückbare Kluft. Dennoch bietet die Hypothese über den unendlich weit zurückliegenden Ursprung der Sprache interessante Parallelen zu dem alltäglichen Sprachleben unserer Zeit. Und der ewige Zufall sorgt dafür, daß diese Analyse, welche sich mit der Entwicklung der Sinnesorgane beschäftigen möchte, die äußerste Hypothese zum Ursprung der Sprache und zur Sprachphilosophie bieten wird.

Es war weniger ein Bild als ein Beispiel, wenn wir die Amöbe in dem nie auszudenkenden Chaos der Vibrationskreuzungen im Weltall verglichen haben mit einem aufmerksamen Zuhörer im Konzertsaal. Der aufmerksame Zuhörer wird außer der Musik gewöhnlich nichts wahrnehmen, nicht das Licht des Kronleuchters, nicht die Tastempfindungen seines Gesäßes, nicht, die Luftbewegungen im Saale, rächt den leisen Geruch oder Gestank vom Nachbarplatze her. Sowie aber Licht-, Tast- oder Geruchsempfindungen stark genug geworden sind, um seine Aufmerksamkeit an sich zu reißen, werden sie auch wahrgenommen werden. Und wir nennen dann diesen Zuhörer unaufmerksam, weil wir - wohl zu beachten - mit Rücksicht auf den Schauplatz dieser Handlung, den Konzertsaal, den Begriff Aufmerksamkeit vorübergehend an die Musik oder den Gehörsinn knüpfen. Da diesem Begriffe eine besondere Untersuchung gewidmet werden soll, so sei hier nur beiläufig bemerkt, daß die Sprache unter Aufmerksamkeit zwei ganz verschiedene Dinge begreift: bald nämlich das Interesse, bald die unmittelbarste Wirkung des Interesses. Hier genüge die hoffentlich schlagende Erinnerung, daß z.B. bei der Einweihung eines neuen Konzertsaals wohl ein großer Teil der Eingeladenen Interesse oder Aufmerksamkeit der Musik zuwenden wird, einige Techniker aber Interesse oder Aufmerksamkeit so ausschließlich den Temperaturverhältnissen oder der Beleuchtung des Saals zuwenden werden, daß sie die Musik buchstäblich nichthören. Das Interesse oder die Aufmerksamkeit trifft also die Auswahl aus dem Chaos von Molekularschwingungen in dem Chaos des Saalinnern.

Wie nun aber trifft die Amöbe, die noch gar keine differenzierten Sinne und gar keine spezifischen Sinnesenergien besitzt, ihre Auswahl aus dem Chaos der Weltschwingungen, gegen welche das Saalinnere sich verliert, nicht wie ein Tropfen im Ozean, sondern wie ein Atom im Unendlichen? Wie haben wir uns das Interesse oder die Aufmerksamkeit eines Organizmus vorzustellen? Wie haben wir uns die Uraufmerksamkeit vorzustellen, die dann im Laufe der Jahrmillionen zum künstlerischen Interesse an der Neunten sich entwickelt hat? Ist es wirklich vorstellbar, daß ein und dasselbe Motiv, das gemeine Interesse, welches mich heute mit gespanntester Aufmerksamkeit und mit Wollust einem Satze BEETHOVENs lauschen und mich einen Satz von CHOPIN unaufmerksam ablehnen läßt, - ist es vorstellbar, daß dieses selbe Motiv in irgend einer Urzeit der Entwicklung die Auswahl getroffen habe im Chaos der Schwingungen, sich die Welt wie eine angenehme Melodie in den Fetzen der Zufallssinne, und für jeden dieser Sinne wieder nur in einem Fetzen für die Erinnerung aufbewahrt habe?

Die Frage ist wirklich schwer anzufassen, weil wir bei der uns vorschwebenden Amöbe wohl gewiß irgend einen Egoismus voraussetzen, ihr aber nicht mit irgend welchem Rechte den komplizierten Bewußtseinsvorgang des menschlichen Interesses unterschieben dürfen. Versuchen wir es dennoch, das Motiv des Interesses außerhalb der Kompliziertheit wiederzufinden, die es im menschlichen Denken angenommen hat.

Da ist zunächst das menschliche Interesse an das Bewußtsein des Ichs, an das Bewußtsein der Individualität geknüpft. Wir lassen uns aber von der tausend Jahre alten Scholastik über das  Principium individuationis  nicht täuschen; wir werden erfahren, daß der Ichvorstellung nichts anderes zu Grunde liegt als die Tatsache des Gedächtnisses, und jede Beobachtung überzeugt uns davon, daß auch der niedrigste Organismus, wenn nicht gar auch der anorganische Stoff (soweit er zur Zeit seiner Kristallisation oder einer chemischen Verbindung lebendig ist) Gedächtnis besitzt.

Ich sagte eben "Bewußtsein des Ich". Natürlich war das ein sinnloser Pleonasmus. Auch das sogenannte Bewußtsein ist nichts anderes als das Gedächtnis, welches, wie ein Faden die Perlen zu einem Perlenbande, so die Erlebnisse erst zu einem Erleben aufreiht. Wenn zum Interesse nur Gedächtnis gehört, so können wir Interesse bei der Amöbe voraussetzen. Täten wir doch besser, auch beim Menschen immer nur von Gedächtnis zu reden, anstatt von Bewußtsein und Individualität.

Da ist aber mit dem Interesse noch ein anderer Begriff untrennbar verbunden- weil wir das Wort Interesse nicht tautologisch wiederholen dürfen, obwohl es das beste wäre, so wollen wir hier dafür die Empfindung eines Nutzens oder Schadens, das Gefühl der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit setzen. Schon VERWORN hat (Seite 138) bemerkt:
"Es hat den Anschein, als ob die Protisten den Nutzen oder Schaden der betreffenden Reize wissen, respektive angenehme oder unangenehme Empfindungen durch sie erleiden und deshalb ihrer Quelle nachzugehen oder auszuweichen sich bemühen."
Schon VERWORN hilft sich recht gut aus der Klemme, indem er alle diese helio- und thermotropischen Bewegungen trotz ihrer scheinbaren Zweckmäßigkeit zu den unbewußten Reflexbewegungen rechnet, die er dann freilich als eine wohlbekannte Tatsache nicht weiter erklären oder beschreiben zu müssen glaubt. Uns wird es geläufig werden, alle derartigen automatischen Bewegungen als ererbte oder erworbene Wirkungen des Gedächtnisses, und erst die Tatsache des Gedächtnisses als das letzte Geheimnis aufzufassen. Aber - so frage ich mich noch einmal und noch dringlicher - an welcher Stelle schleicht sich in dieses (menschlich gesprochen) rein verstandesmäßige Gedächtnis das Interesse hinein, das Gefühlsmoment, der Eindruck des Angenehmen oder Unangenehmen? Ginge ich darauf aus, ein System zu schreiben, so hätte ich sofort eine prächtige Antwort bei der Hand, eine philosophische Antwort, die mir recht gut gefällt und die übrigens geistreich schillert. So nämlich: das verstandesmäßige Gedächtnis kann auf der niedersten Stufe der Organismen gar nichts anderes leisten als im höchsten Geistesleben des Menschen.

Hier, wo das Gedächtnis zum wissenschaftlichen Denken geworden ist, führt es sein Meisterstück aus, wenn es die Zukunft voraus berechnet, wenn es zukünftige Erscheinungen auf das Handeln der Gegenwart einwirken läßt, wenn der Mensch gern spart, um als Greis ein Wohlleben zu führen, wenn man im Sommer vergnügt erntet, um im Winter essen zu können. Das menschliche Gedächtnis, in der Gegenwart allein lebendig, von der Vergangenheit allein genährt, wird der Zukunft dienstbar gemacht. Das Gefühl der Lust bei der Nahrungsaufnahme ist vielleicht nichts anderes als die Vorauswirkung des Gedächtnisses. Die bekömmliche Nahrung schmeckt, weil sie in früheren Fällen gut bekommen ist; die schädliche Nahrung widert an, weil sie in früheren Fällen schlecht bekommen ist. So könnte ein Gefühl der Lust und Unlust, also das eigentlichste Interesse der Organismen, wieder auf das Gedächtnis der Art allein zurückgeführt werden.

Mich befriedigt diese Antwort nicht. Und für unsere gegenwärtige Absicht, für die Frage nach der Entwicklung der Zufallssinne und ihrer Zufallsausschnitte, ist vielleicht eine noch unmittelbarere Verbindung zwischen Interesse und Gedächtnis herzustellen.

Wieder verlasse ich den Gang der Untersuchung für einen Augenblick. Ich könnte den Knoten nämlich leicht durch hauen, wollte ich mich dem Wortaberglauben unterwerfen und das Gedächtnis entweder materialistisch von unserem Bewußtsein trennen oder - was wirklich auf dasselbe hinausläuft - etwas wie ein unbewußtes Gedächtnis auch dem nichtorganischen Stoffe zuschreiben. Dieses letzte zu tun, bin ich gar sehr geneigt. Ob ein sogenanntes Atom Kohlenstoff im Diamanten den gesetzlich vorgeschriebenen Kristall bildet, ob es sich in der Pflanze gesetzlich Zellen bildend aus der Kohlensäure abscheidet, ob es sich im tierischen Körper gesetzlich auf den Sauerstoff stürzt, immer könnten wir dieses Gesetzmäßige im molekularen Vorgang das Gedächtnis des Kohlenstoffatoms nennen. Bewußtsein hin, Bewußtsein her, seine Kristallisationsform, seine chemische Befreiung oder Verbindung muß das Atom auswendig wissen. Daß wir die Kristallisation zur Physik rechnen, die chemische Lösung oder Bindung zu den Lebensprozessen, ist ja ganz unwesentliche menschliche Vorstellungsweise. Es ist menschliche Vorstellungsweise, daß wir der Bewegung des Kohlenstoffatome im Tierkörper irgend eine letzte Spur von Innenleben oder von Interesse zuzusprechen geneigt sind, daß wir dieses Innenleben bei der Atombewegung in der Pflanze nur widerstrebend mitdenken, daß wir uns die Atombewegung bei der Kristallisation ohne Innenleben denken. Wir denken aber einmal als Menschen, und so müssen wir auf diesen weitern Gesichtspunkt, das Gedächtnis des Unorganischen, vorläufig verzichten und zusehen, ob wir - wie gesagt - eine unmittelbare Verbindung zwischen dem im Organismus vorausgesetzten, an ein Innenleben geknüpften Interesse und dem Gedächtnis herstellen können.

Die letzte Tatsache des Gedächtnisses ist das Wiedererkennen eines bestimmten Eindrucks, oder vielmehr da wir niemals in denselben Fluß hinabsteigen können das Vergleichen ähnlicher Eindrücke. Oder aber das Vergleichen ähnlicher Beziehungen von Eindrücken. Das ungeheuer komplizierte Gedächtnis des Kulturmenschen oder gar das Luxusgedächtnis des forschenden Menschen vergleicht so entfernte Ähnlichkeiten wie wandelnde Sterne und fallende Steine, wie den Blitz und das Kunststückchen des geriebenen Bernsteins, wie Interesse und Gedächtnis. Das Gedächtnis der sich entwickelnden Menschheit hat im Laufe der Jahrtausende z. B. Farbeneindrücke verglichen und klassifiziert und sich gemerkt. Das Gedächtnis auch schon des Menschen einer Urzeit hat durch Vergleichung von Eindrücken und Beziehungen die Klassifikationen oder Begriffe Hund, Vierfüßler, Tier gewonnen.

Überspringen wir nun die Kluft und fragen wir, worin die Tätigkeit des Urgedächtnisses, des an den Organismus der Amöbe geknüpften Gedächtnisses bestand, weil allein bestehen konnte?

Das Gedächtnis des Menschen übt durch Vergleichung eine Klassifikation der Sinneseindrücke ein. Alles philosophische Denken, ja selbst die Geistestat eines NEWTON läßt sich zuletzt auf Vergleichung von Beziehungen zurückführen, deren Grundlagen die Vergleichung von Sinneseindrücken gebildet hat. Aber die Amöbe besitzt noch keine Sinnesorgane, sie kann - wie wir annehmen müssen - Sehen, Hören, Schmecken und Tasten noch nicht differenzieren. Was hat also das Gedächtnis der Amöbe für ein Material? Eben haben wir die Amöbe angeschaut als ein empfindlichen Etwas, das in dem Chaos der Weltvibrationen mitten inne steht. Ich spreche der populären Wissenschaft das Wort Vibrationen nach; eigentlich wissen wir nicht, was das ist, was man die Schwingungen im Äther und die Schwingungen der chemischen Atome metaphorisch nach den wahrnehmbaren Schwingungen der Luft genannt hat. Das Wesen dieser Vibrationen ist das vorläufige Ding-an-sich, welches über unsere Sinnesorgane hinweg in unserem Verstande zu den Erscheinungen des Hörens, des Gesichts und jeder Klassifikation wird. Das vorläufige Ding-an-sich. Im Ernste wird man die Erscheinungen des einen Sinnes nicht zum Ding-an-sich anderer Sinneserscheinungen machen wollen. Der Amöbe fehlt nun aber dieser Weg über die Sinnesorgane. Unmittelbar steht für unsere menschliche Vorstellung die Amöbe mit ihrem Gedächtnis mitten in den Weltvibrationen. Was kann nun dieses Gedächtnis an den durch kein Organ gesiebten Vibrationen klassifizieren? Was kann es an ihnen vergleichen? Was kann es an ihnen interessant finden? Kosmisch gesprochen: alles Mögliche, was wir nicht wissen; aber kosmisch sprechen haben wir nicht gelernt. Menschlich gesprochen also: einzig und allein die Ordnung, die Regel. Die regelmäßige Ordnung, auf die "man" sich verlassen kann, wie wir uns auf die regelmäßige Ordnung der Tages- und Jahreszeiten verlassen.

Das ganze Chaos der Weltvibrationen stürmt auf die Amöbe ein. Aus diesem Chaos macht gewiß nur ein unendlich kleiner Teil Eindruck, der Teil, welcher dem Organismus der Amöbe nützt oder schadet. Wir halten die Hypothese von den Vibrationen fest. Da gibt es die mechanischen Schwingungen, wie wir sie Töne nennen; da gibt es Ätherschwingungen, wie wir sie Licht nennen; da gibt es die allerfeinsten Molekularschwingungen der Körper, die wir, weil sie die bekanntesten sind, für die gröbsten Körpererscheinungen wie Schwere und Undurchdringlichkeit halten. Da gibt es wahrscheinlich Weltvibrationen, die wir heute noch nicht kennen, weil der Zufall der Interesselosigkeit keinen besonderen Sinn für sie entstehen ließ. Aber für gewisse Vibrationen hatte schon die Amöbe Interesse und merkte sie sich darum in ihrem kleinen Gedächtnis. Merken konnte sie sie nur durch Vergleichung der Eindrücke selbst und ihrer Beziehungen in Zeit und Raum. Vielleicht ahnt bereits die Amöbe den qualitativen Unterschied zwischen akustischen Luftvibrationen, zwischen thermischen Äthervibrationen und zwischen mechanischen Atomvibrationen. Nimmt man doch an, daß gewisse Protisten bereite Organoide für Licht- oder Wärmeempfindungen entwickelt haben. Ob das wahr ist oder nicht, wir können uns doch wenigstens vorstellen, daß das vergleichende und darum wiedererkennende Gedächtnis in seiner dumpfen Tiefe eines Tages etwas fühlte wie: Aha, das ist das, was Widerstand leistet! Aha, das ist das, was wärmt! Aha, das ist das, was schwirrt!

Teilte ich den Darwinistischen Wortaberglauben, so könnte ich das Interesse und das Gedächtnis nach diesen Voraussetzungen sehr bequem in Verbindung setzen. Es mußte den Protisten (nach der Selektionstheorie) sehr wichtig sein, das Drücken, das Wärmen, das Schwirren des Freundes oder Feindes sofort aus den allerersten regelmäßigen Vibrationen des drückenden, wärmenden oder schwirrenden Dings zu erkennen und sich danach einzurichten, das Ding zu fressen oder ihm zu entfliehen. Das mit dem besseren Gedächtnis ausgestattete Protist blieb das überlebende u.s.w. Das hieße aber doch nur die Frage nach der Entwicklung des Gedächtnisses zurückschieben, wie der ganze Darwinismus (abgesehen von der stolzen Auflösung des Artbegriffs) nur eine gewaltige Zurückschiebung der Frage nach der Entstehung der Organismen ist. Noch eins wäre mir bei dieser Anwendung des Darwinismus bedenklich: es wird da nicht das Interesse aus dem Gedächtnis abgeleitet, sondern das Gedächtnis aus dem Interesse, ein Unbekanntes aus einem noch Unbekannteren. Eine Gleichung ersten Grades findet da ihre Lösung in einer Gleichung zweiten Grades.

Wir wollen einfacher, freilich auch viel allgemeiner vergleichen. Wir setzen in der Amöbe dabei freilich noch eines voraus: etwas, was unseren Nervenbahnen entspricht. Nur Überschätzung des Mikroskops kann sich - wie schon ausgeführt - dagegen auflehnen mit Berufung auf die scheinbare Strukturlosigkeit der Amöbe. Hundert Experimente beweisen jedoch die Tatsache, daß ein Eindruck im sogenannten Protoplasma der Amöbe weitergeleitet wird. Aber auch ohne diese Versuche können wir nicht anders denken als so: dem äußeren Leben jedes Organismus entspricht irgend ein Grad von Innenleben und dieses Innenleben muß einen Träger haben, wie das menschliche Nervensystem der Träger des menschlichen Innenlebens ist. An diesen Träger ist überall in der Natur das Gedächtnis gebunden. Nun aber hat das Gedächtnis offenbar leichtere Arbeit, wenn es wiederkehrende oder gar regelmäßig wiederkehrende Eindrücke, Stöße oder was das relative, vorläufige Ding-an-sich sonst ist, wiedererkennen kann. In dieser Leichtigkeit der Einübung, in dieser Bequemlichkeit des Wiedererkennens oder Vergleichens muß das interessierende Moment liegen. In MACHs "Ökonomie-Prinzip".

Von diesem Punkte aus also erscheint es mir vorstellbar, wie das interessierte Gedächtnis zuerst im unendlichen Laufe der organischen Entwicklung aus dem Chaos der Weltvibrationen die einander ähnlichen - soweit das Interesse reichte - klassifizieren und an der Klassifikation sich merken konnte, wie das interessierte Gedächtnis sodann innerhalb der Vibrationsart wieder einige Unterarten auszeichnen und sich merken konnte, wie unsere sechs Zufallssinne entstanden und innerhalb jedes Sinnes endlich der zufällige Ausschnitt, für welchen wir ein paar Namen wie gelb, grün, warm, kalt, hart, weich oder technische Bezeichnungen wie C, cis haben.

Noch einen kleinen Schritt weiter zu tun, habe ich versprochen und will ihn jetzt von der letzten Klippe des Denkens in den Abgrund hinaus wagen. Was ist das, was das Urgedächtnis tut, wenn es in seiner dumpfen Tiefe wahrnimmt und zuerst empfindet "Außenwelt", dann "Druck", "Wärme"; wenn es sich die Weltvibrationen klassifizierend und vergleichend merkt, um aus diesem Merken und zu diesem Merken die Sinnesorgane sich zu erschaffen? Ist das nicht dasselbe, was wir getan haben und immer noch tun, wenn wir: die harten Dinger, die unbeweglich dem nackten Fuße im Wege sind, mit einem substantivischen Worte "Steine" nennen, wenn wir die Steine ordnen, zuerst roh interessiert nach ihrer Schwere, Größe, Wälzbarkeit, dann feiner interessiert nach ihrer Zerlegbarkeit im Feuer, dann weiter wissenschaftlich interessiert nach ihrer Zusammensetzung und ihrer Kristallform; wenn wir: an den Steinen ihr Fallen von der Höhe und nachher die Regelmäßigkeit des Fallens entdecken, eine regelmäßige Ordnung zwischen dem Fallen des Steins und dem Kreisen des Mondes ausrechnen, dem Begriffe der Schwere so eine neue Ausdehnung geben und in Jahrtausenden von der Empfindung des wuchtenden Steines bis zur Lehre von der Gravitation gelangen?

Wir werden die Sprache das Gedächtnis des Menschengeschlechts nennen. Wir sehen jetzt, daß das Gedächtnis auch auf seiner untersten Stufe nichts anderes leistet als Sprachdienste, daß es auch da - vorläufig ohne hörbare oder sichtbare Zeichen - Sprache ist, d.h. nach Ähnlichkeiten klassifiziert. Wir erkennen, daß das Gedächtnis auf seinem ungeheuern Wege eigentlich doch dasselbe geblieben ist, daß es auch als Urgedächtnis schon nur nach dem Zufall seines Interesses klassifiziert und vergleicht, also in der Amöbe wie im höchsten Denken des Menschen unfähig sein muß, interesselos die Wirklichkeitswelt zu erkennen, ja daß sich diese Unfähigkeit in dem Grade steigern muß, als die Unmittelbarkeit des Zusammenhanges zwischen dem klassifizierenden Gedächtnis und dem Chaos der Weltvibrationen verloren geht. Wir begreifen die Welt umsoweniger, in je weitere Begriffe wir sie fassen müssen.

Ich wage es, noch deutlicher zu sein. "Für den Menschen" ordnen sich regelmäßige Luftstöße zu Tönen. C, cis. Sicherlich fälschend, aber praktisch. Die Vibrationen des "Äthers" zu Farben. Blau, rot. Fälschend, aber praktisch. Ist es nicht genau so, wie nachher mit den Worten: Stein, Pflanze, Tier? Gehören nicht schon die Sinne (nicht nur die Worte für Lichtempfindungen) zu den normalen Täuschungen, zur Sprache? Und so sucht schon die Amöbe sich im Chaos zu orientieren. Sie kann die Stöße nicht zählen, aber sie ordnet sie irgendwie. Sie wird weniger getäuscht, wenn sie noch keine Töne hört.

Kein Strahl irgend eines Wissens dringt zu dem ersten Zufall, der uns die Weltvibrationen nach unseren spezifischen Sinnesenergien als sichtbare, hörbare, fühlbare u.s.w. Wirkungen unterscheiden läßt. Nur ahnend wissen wir etwas davon, wie der Zufall in zweiter Potenz entstanden ist, wie das Interesse der sich entwickelnden Organismen innerhalb der spezifischen Sinnesenergien kleine Ausschnitte des Wahrnehmbaren aus dem ungeheuern Kreise des für Menschensinne Unwahrnehmbaren ausgeschieden hat. Hie und da wissen wir etwas von dem Zufall in dritter Potenz, der auf diesen kleinen Ausschnitten bestimmte Punkte fixierte und die Vibrationen dieser Punkte und ihrer nahen Umgebung als besondere Sinneswahrnehmungen, Wirkungen oder Eigenschaften auszeichnete, mit Namen versah oder als Begriffe festhielt wie  blau, süß, hart, cis, warm, Flieder.  Wenn es nicht über menschliche Kraft ginge, so müßten wir die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sprache zurückverfolgen über diese drei Zufallspotenzen hinaus, so müßten wir die Zufallsgeschichte des Bedeutungswandels, die wir für die Gegenwart, d.h. für die letzten vier Jahrtausende, verstehen gelernt haben, zurückverfolgen in die vorgeschichtliche und in die vormenschliche Zeit, als die klassifizierende Vergleichung der Weltvibrationen nacheinander die arme menschliche Welterkenntnis schuf, zuerst durch Differenzierung der Sinnesorgane, sodann durch Anpassung der einzelnen Organe an das organische Interesse und endlich durch menschliche Begriffebildung oder menschliche Gedächtnisarbeit.  Sprache  können wir alle diese Tätigkeit nennen.

Erinnern wir uns noch einmal des Chaos von Weltvibrationen. Irgend ein Unterschied, den wir resigniert in ein Ding-an-sich zurückhypostasieren [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp], läßt uns Luftschwingungen vorstellen, die von der äußersten Langsamkeit bis zu unausdenkbarer Schnelligkeit fortschreiten können. Aus dieser unendlichen Reihe vernimmt das menschliche Ohr die Schwingungszahlen von sechzehn bis sechzehntausend in der Sekunde. Innerhalb dieses Ausschnittes empfinden wir gewisse Beziehungen oder VerhäItnisse als musikalisch. Der Violinspieler wiederum kann seinem Instrumente nur eine bestimmte Anzahl Töne innerhalb dieses Gesamtausschnittes entlocken, weil er zum Greifen nur eine einzige menschliche Hand mit ihren fünf Fingern von bestimmter Länge zur Verfügung hat und weil die Violinen nach diesem Zufall des menschlichen Baues ihrerseits gebaut werden müssen. Und so wie der Violinspieler, so steht das Denken oder die Sprache oder das Gedächtnis des Menschengeschlechts dem Chaos der Weltvibrationen gegenüber; so klein im Umfang, so ahnungsreich im Inhalt ist unsere Welterkenntnis wie eine "Träumerei" auf der Violine.

Wir werden später die Geschichte der Sprache als ein Werk des Zufalls, wie überhaupt die Geschichte der Menschheit als eine Zufallsgeschichte erkennen. Wir werden tiefer in den Zufallsbegriff einzudringen haben. Hier, auf einer der Vorstufen, nur einen Wink, damit das erschreckende Wort "Zufallssinne" sich gleich einer weiten Weltanschauung ruhig und heiter anschmiegen könne. Ist es nicht ein Zufall, daß die chemische Verbindung H20 zu dem bekannten Stoffe verbrennt, den wir Wasser nennen? Ist es nicht weiter ein Zufall, daß dieser Stoff auf unserer Erde nicht selten ist, sondern in solchen Massen vorkommt? Und doch ist die Erscheinung dieses Zufallsstoffes die Grundbedingung alles Lebens auf der Erde in Tieren, Pflanzen und (oft nachweisbar) in Kristallen, und doch ist der Zufallsstoff Wasser die Grundbedingung des menschlichen Organismus und seiner Zufallssinne. Wird man jetzt besser die Vergleichung mit der Violine verstehen, die nur einen Teil der möglichen musikalischen Töne umfaßt, weil sie der Länge und der Gliederung der fünf Finger einer linken Menschenhand angepaßt ist?
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache I,
Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart/Berlin 1906