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FRITZ MAUTHNER
Wurzeln
II-16

"Dort, wo die Welt mit Brettern verschlagen ist, da lassen sie die Sprachen mit Wurzeln anfangen."

MAX MÜLLER hat ganz richtig gelehrt, daß eine Wurzel dasjenige sei, was sich in den Wörtern irgendeiner Sprache nicht auf eine einfachere oder ursprünglichere Form zurückführen lasse. Die weitere Zurückführung der Sprachwurzeln auf einzelne Buchstaben oder Laute gehört sozusagen nicht mehr in die sprachliche Betrachtung der Sprache. So gliedert der Architekt einen Bau in seine vertikalen und horizontalen, in seine tragenden und getragenen Teile; die Werksteine aber, aus welchen Mauern und Säulen, Spitzbogen und Rundbogen bestehen können, gehören auf ein anderes Gebiet. Besteht eine Wurzel nur aus einem einzigen Laut, so ist das ein gleichgültiger Zufall.

Die negative Definition - daß nämlich eine Wurzel das sei, was sich nicht weiter erklären läßt - sollte uns aber im Gebrauche des Wortes vorsichtig machen. Der ungeheure Mißbrauch des Wortes stammt aus der Zeit, wo die Sanskritgrammatiker Einfluß auf unsere Sprachwissenschaft gewannen. Die Inder wendeten das Wort Wurzel (dhatu, Ernährer) auch auf ihre fünf Elemente des Weltganzen an, als welche bei ihnen Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther galten. Dieser Umstand ist bezeichnend für den unklaren Irrtum, in welchem sich unsere Sprachwissenschaft noch heute befindet, sobald sie etwa von den Wurzeln der Sprache als von etwas Wirklichem, als einem letzten Elemente redet. MAX MÜLLER spricht vollendeten Unsinn, wenn er den Wurzeln ahnungsvoll zwar die Realität abspricht, aber nur darum, weil sie die "Ursachen" der Sprache wären. Er nimmt die geahnte Wahrheit auch wenige Seiten später wieder zurück: die Wurzeln werden ihm zu historischen Tatsachen, an welche er sich in der Not klammert, um rühmen zu können, wie wir es in der Etymologie so herrlich weit gebracht haben.

Niemand wird den erstaunlichen Fleiß und Scharfsinn leugnen wollen, mit welchem die neuere Sprachwissenschaft die Worte von Sprache zu Sprache verfolgt und in unzähligen Fällen ihren Laut- und Bedeutungswandel historisch belegt hat. Es sind aber doch nur Brücken, welche ins Leere führen. Am Ende der historischen Betrachtung steht die prähistorische Zeit; und es ist nicht so banal, wie es klingt, wenn ich nun sage, daß die prähistorische Zeit diejenige ist, von der wir gar nichts wissen. Auf dem Gebiete der Sprache insbesondere fängt die Wurzel da an, wo wir gar nichts mehr wissen. Unsere ausgezeichneten etymologischen Werke enden jede historische Zurückführung mit einer der sogenannten Wurzeln der Sanskritgrammatiker. Diese Wurzeltafeln werden auf Treu und Glauben angenommen, wie von den Juden die Tafeln der Zehngebote. In unseren Tagen, wo man selbst die Zahl der etwa siebzig chemischen Elemente nicht für das Ende aller Weisheit hält und überall an die Möglichkeit ihrer Reduktion glaubt, sollte man nicht so blindlings einer Gedankenrichtung folgen, welche in Feuer, Wasser, Luft, Erde und Äther die Wurzeln des Seins zu erkennen glaubte und ihnen die Wurzeln der Sprache gleichstellte.

Ich will zugeben, daß die grobsinnliche Vorstellung, als wachse ein Wort in der Fülle seiner Formen aus der Sprachwurzel hervor wie der Baum aus seiner Wurzel, die Gedanken unserer Sprachforscher nicht mehr so beherrscht, wie die Wiederkehr dieses Bildes seit der Zeit des HORAZ uns vermuten lassen sollte. Mit vollem Bewußtsein wird kein Gelehrter diesen Fehler mehr begehen. Die Herren würden, wollte man sie zu einer Wahl zwingen, das Bild heutzutage gewiß lieber von dem Keime der Pflanze hernehmen, um so gewisser, wenn sie darüber belehrt würden, wie doch die Wurzel nicht das einzige ernährende Organ der Pflanze ist. Aber auch das Bild vom Keime oder von ursprünglichen Elementen wird schief und falsch, wenn man es nicht auf eine phantastische Urwurzel der Sprache, auf irgendeinen vieldeutigen oder gar alldeutigen Schrei bezieht, sondern auf die paar hundert sauber abgeschälten Silben, welche man als die sogenannten Sanskritwurzeln verehrt. Diese Silben, welche die Grammatiker einer hoch entwickelten Sprachzeit durch Abschälen, Glätten und Ordnen künstlich hergestellt haben, als historische Wurzeln, als letzte Keime der Sprache anzusehen und zu gleicher Zeit etwas über den Ursprung der Sprache zu phantasieren, das ist ebenso unsinnig wie ein Versuch, in einem Atem über die biblische Schöpfungslegende und die Entwicklungstheorie des Darwinismus zu sprechen. Am unbesonnensten hat MAX MÜLLER es zustande gebracht, einen solchen Mischmasch für möglich zu halten und in den Sprachen zweier Weltanschauungen zu reden, also doppelzüngig. Gerade in dem Kapitel, in welchem er den Ursprung der Sprache behandelt und nach leichtfertiger Ablehnung der Schallnachahmung, der Wauwau-Theorie, und der interjektionalen oder Pah-Pah-Theorie zu seiner mystischen Lehre gelangt, der Mensch sei ein sprechendes Musikinstrument, gerade in diesem Kapitel (Vorlesungen I, Seite 319) verrät er ganz unbefangen seinen Glauben an die Ursprünglichkeit der legendären Sanskritwurzeln. Er sagt da:
"Wir gelangen schließlich zu Wurzeln, und jede derselben drückt eine generelle, nicht eine individuelle Idee aus. Jedes Wort enthält, wenn wir es zergliedern, eine prädikative Wurzel in sich, nach welcher der Gegenstand, auf den es bezogen wurde, uns kenntlich wird."
Nach dem, was über MÜLLERs philosophische Fähigkeiten gesagt worden ist, kann seine Unsicherheit nicht überraschen. Je älter, desto wurzelgläubiger wurde er. Sein Buch "Denken im Lichte der Sprache" ist gar schlimm. Seite 76 meint er, die Urkunden der Sprache reichen "in ununterbrochener Reihenfolge von unserem spätesten Denken bis zu dem ersten Worte (!), das je unsere Vorfahren ausgestoßen haben". Seite 160: "Diese Wurzeln stehen wie Grenzmarken zwischen dem Chaos und dem Kosmos der menschlichen Rede". Dabei wird es ihm und dem Leser niemals klar, ob MÜLLER er selber war bei diesen hohlen Deklamationen oder an anderen Stellen, wo er (Seite 191, 201) in den Wurzeln Residuen, künstliche Gebilde der Grammatiker sieht. MÜLLERs Aberglaube an die Sprache macht ihn blind. Der Darwinist SCHLEICHER hat im Scherze gesagt: "Wenn ein Schwein jemals zu mir sagen könnte  Ich bin ein Schwein,  so würde es ipso facto aufhören, ein Schwein zu sein". Das wird bei MÜLLER zu blutigem Ernst; Sprache kann nicht "geworden" sein, eher noch das Auge. Ganz komisch, scholastisch schließt er daraus, daß der Begriff  Mensch  die Sprachfähigkeit einschließe, auf einen besonderen Schöpfungsakt beim Menschen.

Lassen wir nun (in dem oben zitierten Satze) die Bezeichnung "prädikativ" als zu unbestimmt beiseite, denken wir nur an die generelle Idee, so wäre die Bemerkung schon richtig, ,sobald wir jedes Wort auf dasjenige zurückführen, aus dem es zunächst hervorgegangen ist. Wir gelangen so zu einem relativen Begriff der Wurzel, der nur freilich nicht viel besagt. Nehmen wir z.B. ein recht konkretes Wort, wie "Rentmeisterin". Dafür mag meinetwegen das sehr moderne und sehr wenig elementare Wort Rentmeister die relative Wurzel sein; "in" ist dann die Bildungssilbe. In Rentmeister mag man "meister" wie eine Bildungssilbe betrachten, "Rent" für die relative Wurzel erklären und sie dann weiter auf das spätlateinische  renta,  auf das italienische  rendita  und dieses wieder auf das lateinische  reddere  (rendre) und weiter auf  dare  zurückführen. Jedes ist die relative Wurzel des Vorhergehenden. Ebenso wird man "Meister" auf  magister,  dieses auf den Begriff des Höheren zurückführen können, immer auf relative Wurzeln. Nun gelangen die Etymologen also schließlich auf Sanskritwurzeln, welche den lateinischen Worten  re, dare  und  magis  lautlich und begrifflich entsprechen. Angenommen, es wären für diese Wurzeln noch etwas ältere sogenannte indoeuropäische Wurzeln nachweisbar und von ihnen die Herkunft der lateinischen Worte belegt, so gut wie die zufällige Herkunft des Wortes "Rentmeisterin" von den relativen lateinischen Wurzeln, so wäre es doch der offenbarste Aberglaube, an dieser Stelle innezuhalten, den relativen Begriff aufzugeben und die Sanskritwurzeln für die Urelemente zu halten. Müssen wir uns die Sprache als aus solchen hoch entwickelten Anfängen herstammend denken, so müßte sie allerdings durch ein Wunder auf die Erde gekommen sein. Dann täten wir freilich am besten, einem außerweltlichen Gotte die Erfindung einer fixundfertigen Sprache zuzuschreiben. Nur daß wir uns diesen Gott, der jeden Gegenstand durch eine prädikative Wurzel kenntlich machte, nicht ganz außerweltlich vorstellen dürfen, sondern als ein indoeuropäisches Wesen, das überdies abendländische Logik und abendländische Grammatik studiert hätte.

Man verzeihe mir einen rohen Vergleich. Es käme der Bewohner einer Insel, auf der wohl Vierfüßler, Fische und Pflanzen gegessen würden, auf der es aber keine Vögel und keine Eier gäbe, nach Europa und erhielte da ein Rührei oder eine Omelette vorgesetzt. Unser Insulaner würde nun glauben, der Gott von Europa habe für den Genuß seiner Europäer direkt die Eierspeisen geschaffen. Dieser Glaube scheint mir nicht törichter zu sein als der an die Ursprünglichkeit der Sanskritwurzeln.

Unter den aufmerksameren Sprachforschern begann aus allen diesen Gründen die Erkenntnis aufzudämmern, daß der Begriff der Sprachwurzel ein Abstraktum sei, mit welchem die Geschichte der Sprache bei weitem nicht so viel anzufangen wisse, als man jahrzehntelang geglaubt hatte. An verschiedenen Arbeitsstätten zugleich war einst der  bildliche  Ausdruck geläufig geworden, die Herkunft der Worte wie das Entstehen eines Krautes oder einer Staude auf eine Wurzel zurückzuleiten. Die Sprachwurzel ist unsichtbar wie die Pflanzenwurzel und für das Leben der bezüglichen "Organismen" ebenso notwendig. Das Bewußtsein der Bildlichkeit des Ausdrucks ging dann verloren, wie so oft, und innerhalb der Gilde der Sprachvergleichung glaubte man in der Wurzel einen wissenschaftlichen Begriff zu besitzen, der so selbständig schien, daß man an die Ähnlichkeiten mit der Pflanzenwurzel nicht mehr zu denken brauchte.

Zunächst muß festgehalten werden, daß eine richtige Wurzel kein Wort ist; wo der Sprachforscher noch ein Wort vorfindet, da ruht er nicht eher, als bis er dem Worte wie einem unglücklichen Maikäfer Beine, Flügel, Kopf und Eingeweide herausgerissen hat, wonach er den Rest die  Wurzel  des Maikäfers nennt. Wie es aber niemals in der Natur einen Maikäfer ohne seine Organe gegeben hat, wie niemals ein lebendiger Maikäfer aus Überresten seiner Leiche entstanden ist, so dürfte wohl auch die Wurzel niemals der lebendigen Sprache angehört haben, ihr auch niemals vorausgegangen sein. Es ist fürs erste gut, wenn wir wissen, daß die Wurzeln tote Hilfskonstruktionen der Grammatiker sind, daß die Wurzeln niemals lebendige Teile einer Sprache sein konnten, weil sie niemals Worte waren.

Ich möchte an dieser Stelle einige übereinstimmende Sätze einschalten, die ich nach getaner Arbeit bei neueren Forschern gefunden habe. Da ist zunächst WILHELM WUNDT zu nennen, der in diesem Punkte sich den freiesten Sprachwissenschaftlern angeschlossen hat. Er sagt klipp und klar (Völkerpsychologie II, Seite 632):
"Die Wurzeln sind Produkte der grammatischen Analyse, nicht Urwörter der wirklichen Sprache. Die ihnen beigelegten Bedeutungen sind Resultate logischer Abstraktion, nicht ursprüngliche Begriffe; und das Kulturbild, welches diese angeblichen Bedeutungen von dem Zustand des Menschen in der Zeit der hypothetischen Wurzelsprache gewähren, ist ein innerlich unmögliches, weil es die wirkliche Entwicklung, soweit wir sie aus der Erfahrung kennen, vollständig auf den Kopf stellt, indem es die Wurzeln selbst als die Produkte einer Kultur deutet, die nur auf Grund einer lange vorausgehenden, ohne die Sprache gar nicht denkbaren Entwicklung möglich wäre."
Man muß sich das oben Gesagte vollkommen eigen machen, um nicht gelegentlich in den alten Fehler zurückzuverfallen. Er ist nirgends so deutlich wie in der semitischen, Philologie, wo von alters her das System herrschend ist, drei Konsonanten ohne Vokal als Wurzel eines an Begriffen reichen Stammes anzusehen. Ich lasse es dahingestellt, wie weit die Aufstellung eines solchen Gerippes von Wurzeln gerade dem wissenschaftlichen Geiste der Semiten entspricht, ich lasse es ferner dahingestellt, wie weit die jahrhundertelange Tätigkeit semitischer Grammatiker die scheinbare Geltung des Systems erst verallgemeinert hat; mir genügt hier der Hinweis darauf, daß die drei vokallosen Konsonanten schon wegen ihrer Unaussprechbarkeit niemals ein Wort sein, niemals eine Vorstellung erwecken konnten. Die semitische Wurzel so gut wie die Sanskritwurzel ist nachträglich von Grammatikern erfunden worden, so gut wie die Entstehung der Menschen aus Steinen in der griechischen Sage. Die Sprachwurzel gehört zu der Legendenbildung der Wissenschaft so überraschend es auch die Wissenschaft sein mag, daß sie Mythen bilde wie das kindliche Griechentum

Man hüte sich davor, die Sprachwurzeln, die toten Konstruktionen indischer und arabischer Grammatiker, zu verwechseln mit ururalten Sprachgebilden, wie sie teils vorgefunden, teils rekonstruiert, teils phantastisch angenommen worden sind. So ein ururaltes Lautzeichen konnte wohl, mit den Mitteln unserer Sprache dargestellt, materiell einen außerordentlich weiten Umfang besitzen und ähnlich wie die aufgestellte Wurzel viele Begriffe zugleich bezeichnen, die wir heute durch immer wieder neue Worte ausdrücken. Ebenso konnte jenes alte Wort, mit den Mitteln unserer heutigen Sprache definiert, in formeller Beziehung die Kategorien des Nomens, des Verbums, des Adjektivs usw. umfassen, während wir uns heute für jede Kategorie besondere Bildungsformen angewöhnt haben. Es ist aber doch offenbar ganz willkürlich, wenn wir die Differenzierung der Begriffe unserer Vorstellungswelt, die Trennung der Kategorien unserer Analogiewelt auf jene alte Zeit anwenden. Jenes Lautzeichen konnte - mit der Weite unserer Begriffe gemessen - noch so umfassende oder unklare Vorstellungen erwecken, die Sprecher jener Zeit glaubten dennoch festumrissene Vorstellungen auszudrücken, genau so wie wir mit unseren Differenzierungen und Kategorien genau definierbare Vorstellungen auszudrücken glauben. Es war jenes Lautzeichen ein Wort und keine Wurzel.

Die sogenannten Wurzeln, mit welchen die eigentliche Sprachwissensebaft zu tun hat, sind nie und nirgends im Sprachgefühl redender Menschen vorhanden gewesen; sie sind Hypothesen der Grammatiker, Fiktionen der Wissenschaft, die eine gewisse Ähnlichkeit haben mit den Urtypen der Tiere und Pflanzen, welche von Zoologen und Botanikern angenommen und von ihnen nachher vergebens unter den Resten ausgestorbener Tiere gesucht werden. So wollte sich mit den Wurzeln eine besondere Paläontologie der Sprache beschäftigen, eine hypothetische Wissenschaft, die sich am liebsten Sprachphilosophie nennt.

Es sind die Gelehrten dieser Richtung, welche sich namentlich mit der Frage beschäftigt haben, ob die Wurzeln ursprünglich die konkreten Dinge selbst benannten oder ob sie ursprünglich Eigenschaften beziehungsweise Tätigkeiten bezeichneten, die erst später zur Namengebung für konkrete Dinge dienten. Wir wollen diese Forscher nicht dadurch in Verlegenheit bringen, daß wir auf ja und nein Antwort darauf verlangen, ob ihre Wurzeln schon Worte gewesen seien oder nicht. Wir wollen auch an dieser Stelle nicht untersuchen, wann und wo in dem kurzen Abriß der menschlichen Sprachentwicklung, den wir an der Kindersprache vor uns haben, Wurzeln gesehen oder gehört worden sind. Wir können aber nicht die Frage umgehen, was wohl diese Forscher unter dem Begriff der Entwicklung verstehen, wenn sie eine so ausgebildete Sprachform, wie sie z.B. in den Wurzeln des Sanskrit vorhanden war, an den Anfang setzen.

In dem Streit um die Bedeutung der Wurzeln steckt nun aber noch eine andere philosophische Naivität, die es uns unmöglich macht, von unserem Standpunkte aus auch nur Stellung zu dem Streite zu nehmen. Es gehen nämlich die Herren, welche den Sinn der Wurzeln konkret auffassen, von der Überzeugung aus, die Objekte der Wirklichkeitswelt wären das Erste, das Gewisse, wären uns wohl bekannt, während wir doch höchstens von ihren Eigenschaften oder Tätigkeiten etwas wissen. Die Anschauung dieser Herren ist also eine vorphilosophische. Ihnen gegenüber sind natürlich die Gegner im Recht, sobald sie behaupten, es sei uns von den konkreten Dingen überhaupt nur das Abstrakte bekannt, eine Eigenschaft oder eine Tätigkeit. Aber diese Gegner sind wieder so naiv, die letzte Abstraktion von der Wirklichkeit, die seit etwas mehr als hundert Jahren erst in einigen Dutzend Köpfen vollzogen worden ist, dem Sprachgefühl jener Menschen unterzuschieben, die vor einigen tausend Jahren eine wurzelhafte Sprache gesprochen haben sollen.

Es ist eben schwer, in das Sprachgefühl urzeitlicher Menschen mit den Mitteln unserer Sprache hineinzuleuchten. Jede Zeit glaubt mit Faustens Wagner, sie habe es herrlich weit gebracht; jede Zeit hält ihr Sichzurechtfinden in der Welt für Welterkenntnis, ebenso wie wir unser Zurechtfinden Erkenntnis nennen und sie gar hübsch in Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften einteilen. Es kann uns aber bei einiger Bescheidenheit nicht verborgen bleiben, daß auch das Tier, selbst das niederste, sich in seiner Welt zurechtfindet, daß auch das Tier dieses Sichzurechtfinden seine Welterkenntnis zu nennen berechtigt wäre. Das Weltbild der Amöbe ist vielleicht wahrer, unmittelbarer als das Weltbild des mittelbar erkennenden, sprechenden Menschen. Diese praktische Gewohnheit des Lebens ist durchaus nicht an ein Denken oder Sprechen gebunden. Wir nehmen an, daß der Hund z.B. ein paar Dutzend Begriffe besitze, die er in seiner Sprache ausdrücken oder verstehen kann. Wenn der Hund jedoch von einem Spaziergange nach Hause zurückkehrt, die nächsten Straßen wählt, den Leuten ausweicht, den Wagen und Reitern nachläuft, bei seinen Artgenossen stehen bleibt, Hündinnen beschnuppert, wenn er sich im Vorübergehen für jeden Laden interessiert, wo es Lebensmittel gibt, ja dann findet er sich in einer ganz komplizierten Welt zurecht, und er würde zugrunde gehen, wenn er es nicht könnte. Der Hundefänger würde ihn fangen und schlachten, wenn der Hund trotz aller auf ihn einstürmenden und ihn abziehenden Reize diese praktische Orientierung nicht besäße. Wir können außerordentlich weit in der Stufenreihe der Tiere hinabsteigen und stoßen immer auf die geheimnisvolle Fähigkeit der Lebewesen, sich zurechtzufinden. Nach den neuesten Untersuchungen orientiert sich sogar das mikroskopische weiße Blutkörperchen auch außerhalb des lebendigen Körpers so gut, daß es sich dem ihm zusagenden Nahrungsstoff entgegenbewegt, daß es also auf einen ihm nützlichen Reiz reagiert.

Die Schwierigkeit wächst für uns, wenn wir erwägen, daß ein solches Reagieren auf einen bestimmten Reiz nicht vorstellbar ist ohne die Annahme, daß auch das niederste Lebewesen den bestimmten Reiz als solchen erkennt. Dieses Erkennen, das dem menschlichen Denken oder Sprechen unendlich lange vorausgeht, ist ohne irgendeine Art des Erinnerns nicht möglich. Das Denken oder Sprechen aber ist doch auch nur ein Erinnern an die Wirkung bestimmter Reize. Es bleibt uns also nichts übrig, als in unserer Phantasie die Entwicklung der Sprache zurückzuverfolgen bis zum Erkennen von Reizen, wie wir das bei den niedersten Lebewesen beobachten. Ich brauche wohl nicht besonders darauf aufmerksam zu machen, wie drollig einer solchen wahrhaft unendlichen Entwicklung gegenüber die Frage erscheint, ob vor einigen tausend Jahren die hypothetischen Wurzeln konkrete Dinge oder ihre abstrakten Merkmale bezeichnet haben.

Ganz gewiß haben die Menschen immer mit ihren Worten die Vorstellung von konkreten Dingen verbunden. Auch KANT stellte sich bei dem Worte  Knopf  einen konkreten Knopf vor, trotzdem er die Transzendenz des Dings-an-sich lehrte., Ebenso gewiß ist es aber, daß die Menschen auch in Urzeiten unbewußt nur ihre Sinneseindrücke ausdrückten, wenn sie mit irgendwelchen ursprünglichen Worten, meinetwegen mit Wurzeln, konkrete Dinge zu bezeichnen glaubten. Ein Bewußtsein davon, daß wir nichts wissen oder erkennen als die Wirkung von Reizen auf uns, ein solches Bewußtsein war früher selbstverständlich noch seltener als heute. Aber selbst zu jener unergründlich fernen Zeit, in welcher die neuen, als Menschen differenzierten Geschöpfe Menschensprache zu reden begannen, die etwas reicher und beweglicher war als die Sprache ihrer Vorgänger, selbst damals hatte das Erkennen, das heißt die Vergleichung von Reizwirkungen schon eine lange Entwicklung hinter sich. Wir wissen jetzt, daß das Sehorgan des Menschen sich "aus" viel einfacheren lichtempfindlichen Hautstellen entwickelt hat, wir wissen ebenso, daß das Gehörorgan des Menschen "aus" ganz primitiven Gehörkörperchen entstanden ist; und wir können uns von der Seh- und Gehörempfindung derjenigen Tiere, die heute noch so einfache Instrumente besitzen, nicht die entfernteste Vorstellung machen. Wir können durchaus uns kein Bild davon machen, wie unsere farbige und helle Außenwelt auf den lichtempfindlichen Hautfleck augenloser Tiere wirkt; vielleicht empfinden sie als Wärme, was uns Licht und Farbe ist. Weiter hinauf ist uns auch das Weltbild der intelligentesten Tiere völlig unbekannt, vielleicht nehmen wir nur darum so gerne einen Instinkt bei ihnen an, weil ihr Weltbild von dem unseren so verschieden ist. Nicht in so hohem Grade, aber in derselben Art verschieden muß auch die Welterkenntnis, das heißt die Orientierung urzeitlicher Menschen von unserer Orientierung gewesen sein. Und da wagen wir es, von der Bedeutung dieser sogenannten Sprachwurzeln zu reden.

Es ist möglich, daß viele indoeuropäische Ausdrücke für eine Arbeit und dergleichen auf irgendein sehr altes Wort (ar) zurückgehen, das ungefähr "ackern" bedeutete; um dieses  ar  aber eine Wurzel zu nennen, müßte man ja den Ackerbau für älter halten als die Anfänge der menschlichen Sprache. Zum mindesten ebenso gut möglich ist es, daß das Wort, welches später metaphorisch die Bedeutung ackern eroberte, vorher das Arbeiten oder das Schwitzen bezeichnete.

Noch bedenklicher ist das witzige Spiel mit Wurzeln, wenn es sich auf abstraktere Vorstellungen bezieht. Ich habe als Student mit Vergnügen gelesen, daß die Worte  Mann  und  Mensch  ein denkendes Wesen bedeuten, von der abgeleiteten Sanskritwurzel "man" herstammen, welche wieder auf die echte Wurzel "ma" zurückgeht; diese bedeutete  messen  und war in dem Worte  Mond  erhalten. Das war vor dreißig bis vierzig Jahren zuverlässige Etymologie. Man entdeckt immer, was man unbewußt sucht. Heute ist die Neigung vorhanden, den Menschen vom Tiere weniger zu unterscheiden, und so hat man auch in den indischen Quellen entdeckt, daß es vielleicht mit der Etymologie "man" nicht ganz richtig sei, daß im Sanskrit der Mensch vielleicht zum Vieh gerechnet wurde. Man sieht, auch Wurzeln sind der Mode unterworfen.

Der Mode unterliegt sogar die angenommene Zahl der Wurzeln. Seit einiger Zeit besteht die Neigung, nur ganz wenige Wurzeln anzunehmen. Unter diesem Einfluß hat ein Engländer alle indo-europäischen Worte auf saubere neun Wurzeln zurückgeführt, ein Deutscher gar alle griechischen Worte auf eine einzige Urwurzel, auf  e. 

Die alten Sanskritgrammatiker wiederum beschränkten die Zahl ihrer Wurzeln nicht weiter, als es ihrem Scharfsinn Spaß machte. Sie blieben bei etwas über 1700 Wurzeln stehen. Wenn die Sanskritsprache damals schon eine tote Sprache gewesen ist, so sind die Ableitungen dieser alten Grammatiker nicht einmal subjektiv zuverlässig, da ihnen dann die Stammsilben nicht einmal so vertraut sein konnten wie uns etwa, ich meine den Nichtphilologen, die relativen Wurzeln unserer Sprache. Man versuche einmal, ohne den modernen historisch-philologischen Apparat ein Wurzelverzeichnis der Muttersprache herzustellen, und man wird die notwendige Hilflosigkeit der Sanskritgrammatiker begreifen, die doch ebenfalls keine historischphilologische Methode besaßen. Da wir nun das Wurzelgraben der alten Sanskritisten nur in Ausnahmefällen nachkontrollieren können, wird es zu einer potenzierten Spielerei, zu einem Spiel mit dem Spiele, wenn z.B. MAX MÜLLER (weil das Hebräische auf etwa nur fünfhundert Wurzeln zurückgeführt worden ist) auch die relativen und vermeintlichen Sanskritwurzeln auf die Zahl von etwa fünfhundert beschränken möchte. Erheiternd ist es, wenn er dieser unbewiesenen Behauptung das unendlich schnurrige Selbstlob hinzufügt: "Dies offenbart einen Geist weiser Beschränkung von seiten der Ursprache."

Ich habe vorhin denjenigen Teil des geformten Wortes, der nach unserem Sprachgefühl durch Ablösung der Bildungssilben isoliert wird, den Stoff des Wortes genannt. Es war ein vorläufiger Ausdruck, der an jener Stelle notwendig schien, weil doch nicht alles auf einmal gesagt werden kann. Jeder von uns kennt auch ohne Gelehrsamkeit eine große Zahl von solchen Wortteilen, welche oft einer sehr großen Gruppe von geformten Worten gemeinsam sind. Der einfachste Mann wird imstande sein, zu solchen Wortteilen, welche gewöhnlich Wortstämme heißen, aus dem Stegreif eine Menge abgeleiteter Worte zu finden, z.B. zu dem Stamme "lieb" die Worte  Liebe, lieben, lieblich, Liebling, Geliebte, Liebhaber  usw. Diese Tatsache lehrt nichts weiter, als daß unsere bis zur Gegenwart entwickelten Sprachen es bequem gefunden haben, mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Lautgruppen sich in der weit größeren Zahl von Weltbeziehungen zurechtzufinden. Die Bildungssilben, die an den Wortstamm herantreten, haben die Funktion, z.B. in unserem Falle bald die Tätigkeit des Liebens, bald das Objekt dieser Tätigkeit, bald das Subjekt, bald die Eigenschaften des geliebten Gegenstandes usw. usw. zu bezeichnen.

Diese Einrichtung der Sprache ist so bequem, daß die Menschheit notwendig auf sie geraten mußte. Die Tatsache aber, daß es solche gemeinsame Wortstämme von ganzen Wortgruppen gibt, schwebt wohl sowohl den Gelehrten als den Schülern vor, wenn sie weiterhin von den Wurzeln der Sprache reden. Es ist ein bloßer Zufall, wenn die Wissenschaft für die eine Art von Silben die Bezeichnung Stamm, für die andere Art die Bezeichnung Wurzel gefunden hat. Es würde sich wahrscheinlich ganz hübsch lesen, wenn ich diese technischen Ausdrücke hier zur Unterlage oder zur Wurzel oder zum Stamm eines bilderreichen Exkurses machen wollte. Ich will mich aber darauf nicht einlassen und nur schärfer hinzusehen suchen, welche Art von Stämmen eigentlich mit dem Namen Wurzeln belegt worden sind. Denn das scheint mir sofort klar, daß "Stamm" der höhere Begriff sei, gewissermaßen der Stoff vor aller Form, der Stoff, aus dem sich dann die Krone mit ihren Zweigen reich entwickelt. Wir müssen aber bald das Bild vom Baume fallen lassen. Denn es ist offenbar, daß man unter Wortstämmen (z.B. in unseren modernen Sprachen) auch diejenigen Stämme versteht, die sich etymologisch gar wohl auf mittelalterliche oder antike oder orientalische Worte zurückführen lassen. Der Stamm ist also ein relativer Begriff, bei dem sich unser Sprachgefühl eben deshalb ganz wohl etwas denken kann.

Die Sprachwissenschaft stellt sich nun vor, daß man den Stamm nur in die Tiefe zu verfolgen brauche und dann an einen Punkt gelange, wo der Organismus anfängt, wo die Wurzeln ein Ende haben. Danach wäre also Wurzel kein relativer Begriff mehr. Dort, wo die Welt mit Brettern verschlagen ist, da lassen sie die Sprachen mit Wurzeln anfangen. Sie wollen nichts ahnen von der endlosen Entwicklung bis zurück zum einfachsten Organ des Erkennens, sie wollen nichts ahnen davon, daß der "Organismus" der Sprache, wollte man ihn historisch erklären, zurückverfolgt werden müßte in das nächtliche Dunkel der Urzeit, daß immer und überall die Wortstämme, wie sie den redenden Menschen etwa erschienen, nur im Sprachgefühl jeder einzelnen Zeit lebten, in Wirklichkeit jedoch immer wieder Kronenteile älterer Stämme waren und so zurück ins Unabsehbare. Die Wurzeln des Denkens oder der Sprache lassen sich nicht ausgraben; die Wurzeln des Denkens oder der Sprache sind ein jämmerliches Bild, wenn man bei ihnen an die Wurzeln der Bäume denkt, denn die Wurzeln des Denkens oder der Sprache senken ihre unsichtbaren Fäden tiefer und tiefer hinüber in unausdenkbare Zeiten, in eine Dauer, die wir sonst Ewigkeit nennen. Die wurzelgläubige Sprachwissenschaft jedoch zittert vor der Ewigkeit wie ein Tier vor dem Tode.

Nur mit Hilfe der Schrift, nur in Wörterkatalogen läßt sich nach Wurzeln spüren. In der lebendigen Sprache weiß unser Sprachgefühl immer nur von relativen Wortstämmen, niemals von Wurzeln. Und wie die Sprache der Wirklichkeit nicht in Wörterbüchern enthalten ist und nicht in den Regeln der Grammatik, wie vielmehr selbst die Einheit einer Volkssprache nur eine Abstraktion ist, wie ein wahrhaftes Sprachleben nur da atmet, wo von einem lebendigen Menschen momentan ein lebendiges Wort in allen Beziehungen seiner lebendigen Formen ausgesprochen wird, so dürfte eine vorurteilslose Sprachwissenschaft nur im einzelnen momentan ausgesprochenen, lebendigen Worte etwas Wirkliches sehen. Nur ein Blödsinniger oder ein vom Monde gefallener Mensch könnte glauben und sagen, die Lilie habe aus ihrer Zwiebel, der Weizenhalm aus dem Weizenkorn den ersten Anfang genommen; wer nur ein paar Jahre auf der Erde gelebt hat, der weiß, daß das Weizenkorn wiederum die Frucht des Weizenhalmes war. Wollen wir der Sprachwissenschaft eine würdige Aufgabe geben, so müssen wir sie darüber befragen, nicht nur wie die Wortstoffe sich gebildet haben, sondern auch wie die Wortformen, die grammatischen Analogien entstanden sind.

Man hat die Geschichte der jüngsten Worte und die Geschichte der jüngsten grammatischen Formen mit Fleiß und Ausdauer eine kurze Strecke zurückverfolgt. Für die Geschichte des menschlichen Denkens oder Sprechens aber wäre es viel wichtiger, sich die Entstehung der Vorformen der Grammatik ausdenken zu können, sich vorzustellen, wie es im menschlichen Gehirn aussah als der Mensch mit seiner jüngeren Sprache die undifferenzierten Ausdrücke bezeichnete, aus denen später die sogenannten Kategorien, die schablonenhaften Menschenbegriffe: Ding, Tätigkeit und Eigenschaft hervorgegangen sind, Menschenbegriffe, denen in der Natur nichts entspricht. Und diesem Versuch einer psychologischen Forschung stellt sich die brutale Lehre von den Wurzeln frech entgegen. Anstatt psychologisch bei Tieren und Naturvölkern anzufragen, wie sich in ihren Köpfen die Sprache aufbaue, hat man eine Ahnung von diesem Urzustande in den Wurzeln zu versteinern gesucht und ihnen rein grammatisch eine Summe von Redeteilen untergeschoben.

So gefährdet die Hypothese von einer Wurzelsprache die würdigste Aufgabe der wissenschaftlichen Sprachgeschichte. Kindlich wie die Bibel oder die griechische Mythologie hält die Sprachwissenschaft auf ihrem Wege still und sagt plötzlich: weiter geht's nicht, da muß eine Gottheit aushelfen, da nehmen wir Wurzeln an. Kein Forscher, der diese Gottheit nicht einmal unbewußt anrufen würde. Der arme Menschengeist will ausruhen. Das Ruhebedürfnis verleitet den Menschengeist, in der Wüste seines Erkenntnisstrebens die Fata Morgana eines Ruheplatzes zu sehen; die Forscher glauben an ihre Wurzeln. Immer und überall ist die Wissenschaft einer Zeit der Ausdruck für das sehnsüchtige Ruhebedürfnis des armen Menschengeistes. Nur die Kritik, wo sie in einem noch ärmern Kopfe lebendig ist, darf nicht ruhen, weil sie nicht ruhen kann. Sie muß die Wissenschaft aus ihrem Schlafe reißen, ihr die Illusion der Oase nehmen und sie weiter treiben auf dem heißen, mörderischen und vielleicht ziellosen Wüstenwege.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906