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FRITZ MAUTHNER
Volksetymologie
II-15

"Die Beherrschung unseres ungeheuren Vorstellungs- und Sprachmaterials wäre nun gar nicht möglich, wenn wir nicht für Stammsilben und Bildungssilben analogische Gruppenbilder in uns entwickelt hätten."

Noch einmal. Es hat von jeher einen großen Reiz für die Menschen gehabt, etwas über die Geschichte ihrer Sprache zu erfahren. Die Sammeltätigkeit, zu welcher dieser Reiz geführt hat, heißt Etymologie. Vergleicht man etwa die Beispiele, welche PLATON in seinem KRATYLOS - scherzweise oder ernsthaft von der Etymologie seiner Zeit gibt, mit unseren etymologischen Wörterbüchern von DIEZ und KLUGE, so mag man allerdings bewundern, wie wir es so herrlich weit gebracht haben. Die griechischen und römischen Etymologen behaupteten Unsinn ohne Methode. Als in der Zeit der Humanisten die Lust an etymologischen Forschungen neu erstarkte, als man eine Zeitlang besonders alles auf das Hebräische als die angeblich älteste Sprache der Menschheit zurückführen wollte, wurde Methode in die Untersuchung gebracht, aber der Unsinn wurde wo möglich noch größer. Die vergleichende Sprachforschung, wie sie namentlich in Deutschland seit hundert Jahren getrieben wird, hat die Methode verbessert und den Unsinn auszumerzen gesucht. Eine Zeitlang hat man freilich im Sanskrit nicht viel anders als einst im Hebräischen die Muttersprache zu sehen geglaubt; da man aber vernünftigerweise vorwiegend die offenbare Ähnlichkeit mit den anderen indoeuropäischen Sprachen behandelte, gelangte man zu einer Unmenge von sichern und hübschen Ergebnissen.

Dazu kam ein gemeinsamer Sammeleifer, eine mechanische Arbeitsteilung, so daß in der Tat die glaubhafte Geschichte von einer großen Zahl von Worten aus den schriftlichen Quellen festgestellt werden konnte. Aber die Sprachvergleichung konnte dem Reize nicht widerstehen, die Geschichte der Worte weiter zurückzuverfolgen, als die Quellen gestatteten. Die Geschichte begab sich auf vorhistorisches Gebiet und ahnte gar nicht, daß sie mit ihren Lautgesetzen nur Hypothesen aufstellte und daß die Verbindung mehrerer Hypothesen jedesmal die Wahrscheinlichkeit der Behauptungen mehr und mehr verkleinerte. Die Einsicht in die Mangelhaftigkeit der Lautgesetze hat die strengere Schule der Junggrammatiker aufkommen lassen; deren Arbeit dürfte aber, wie so oft bei Reformatoren zu beobachten ist, in ihren negativen Leistungen wertvoller sein als in den positiven.

Soll die Etymologie in unserem Sinne wertvoll werden, so müssen ihr zwei Tatsachen mehr als bisher bewußt und geläufig werden. Die eine ist die, daß alle Etymologie - wie gesagt - nur eine lächerlich kurze Zeit aus der Sprachgeschichte umfassen kann, höchstens einen Zeitraum von etwa vier Jahrtausenden, daß also die Etymologie nur Beispiele für die jüngste Entwicklung der Sprache liefert, sonst aber zur alten Frage nach der Entstehung der Sprache nichts beitragen kann.

Die zweite Tatsache möchte ich so aussprechen, daß die Volksetymologie in der wirklichen Entwicklung unendlich einflußreicher gewesen sein muß, als die Sprachwissenschaft sich träumen läßt. Seitdem der Begriff der Volksetymologie aufgekommen ist, seit den reizvollen Untersuchungen von FÖRSTEMANN also, versteht man darunter immer nur Ausnahmsfälle, genauer ausgedrückt solche Fälle, in denen die wissenschaftliche Etymologie die Geschichte eines Wortes anders erklärt hat, als die gegenwärtige Form des Wortes den Laien vermuten ließ. Wir besitzen eine ganze Anzahl klassischer Beispiele für die deutsche Volksetymologie. Als das Volk vergessen hatte, daß das althochdeutsche "sin" so viel wie "allgemein" bedeutete und in der Bibelstunde wie von der Kanzel nach wie vor das Wort "Sintflut" hörte, erklärte es sich schon im frühen Neuhochdeutsch dieses Strafgericht aus der Sündigkeit der Menschen und sprach und schrieb von da ab "Sündflut". Aus dem mittelalterlich lateinischen Wort "arbubalistus" oder "arbalista" (Bogenwurfmaschine) wurde durch falsche Deutung der Laute unser "Armbrust". Unser "Bockbier" oder "Bock" entstand durch Verkürzung aus Einbock oder Eimbeckerbier. Unser "Friedhof" entstand aus dem mittelhochdeutschen "vrithof", welches nicht den Frieden, sondern einen eingefriedigten Platz um die Kirche herum bedeutete. In allen diesen Beispielen hat die schriftliche Sprache sicherlich viel zur dauernden Festsetzung der Volksetymologien beigetragen. Die Anstrengungen der Gelehrten, die gegenwärtige Schreibung durch eine etymologisch richtige zu ersetzen, müssen unverständig genannt werden. Sollen wir uns gewöhnen anstatt Sündflut wieder Sintflut zu schreiben, so müßten wir auch nachholen, was die lebendige Sprache versäumt hat, und lautgesetzlich richtig Freithof schreiben, endlich auch Arbalist anstatt Armbrust.

Für den psychologischen Vorgang ist es nicht gleichgültig, ob die historische Etymologie der Volksetymologie gänzlich widerspricht oder nicht. Bei "Friede" haben wir, auch wenn wir den wirklichen Zusammenhang kennen, gar nicht nötig, dem Worte einen anderen Vorstellungsinhalt zu geben. Das Wort "Friede", das jetzt in unserem "Friedhof" mit enthalten ist, ist etymologisch mit einem eingefriedigten Platz nahe verwandt und bedeutet so viel wie "Schonung", das ja in beiden Bedeutungen vorhanden ist. Nachdem wir aber aus "Arbalist" "Armbrust" gemacht hatten, was doch eine ganz grausame Wortzusammenstellung ist, mußten wir bei dem Worte an eine Körperstellung denken, also ein Bild festhalten, welches vorher mit dem Worte nicht verknüpft war. Sprechen wir das allgemein aus, so werden wir sofort die Wichtigkeit begreifen, welche die Volksetymologie in der Sprachgeschichte gehabt haben muß.

Wir werden erfahren: neue Worte und neue Bedeutungen sind dadurch entstanden, daß (durch Metapher und Analogie) Ähnlichkeiten im Sprachschatz oder in der Wirklichkeitswelt wahrgenommen wurden. Die Beherrschung unseres ungeheuren Vorstellungs- und Sprachmaterials wäre nun gar nicht möglich, wenn wir nicht für Stammsilben und Bildungssilben analogische Gruppenbilder in uns entwickelt hätten, die eigentlich Abstraktionen sind, die aber, etwa wie die Namen der Tierarten, die Ordnung erst möglich machen. Wir fassen unter der sogenannten Stammsilbe "schneid" viele verwandte Begriffe zusammen: die Schneide des Schwertes, das Schneiden, das Schneidern, den Schneider, und werden auch bei schnitzen und schnitzeln und Schnitt, Schnittlauch, Brotschnitte u. dgl. an den Stamm erinnert. Dann wieder bildet das Imperfektum "schnitt" eine Gruppe mit  litt, ritt, glitt  usw. "Schneider" bildet eine andere Gruppe mit Räuber, Segler usw. Diese Gruppen bleiben so lange bestehen, bis eines Tages durch zufälligen Laut- oder Bedeutungswandel eine Wortform sich von ihrer Gruppe loslöst und nun Anlehnung an eine andere Gruppe sucht. Auf die Länge kann sich ein Wort ohne Analogie schwer behaupten. Wir sahen, wie das Wort "sin" verloren ging und wie die erste Silbe von "Sündflut" darum in der Gruppe "Sünde" Unterschlupf suchte und fand. Umgekehrt entstand das deutsche Wort "Schuster" aus dem lateinischen "sutor"; als es aber nicht mehr als Fremdwort empfunden wurde, lehnte es sich an die Gruppe "Schneider" an und wird von uns so empfunden, als ob es ganz regelrecht dazu gebildet wäre. Nun scheint es mir doch unzweifelhaft zu sein, daß mit der Zeit die meisten Worte einmal durch Lautwandel oder Bedeutungswandel den deutlich empfundenen, etymologisch empfundenen Zusammenhang mit ihrer natürlichen Gruppe verlieren müssen und dann eine neue Gruppe auf suchen, so wie Menschen, die auswandern, bald einen neuen Kreis finden.

Man muß nur erkennen, daß es auch Volksetymologie ist, wenn die Endsilbe von "Schuster" als eine Analogie der Endsilbe von "Schneider"  empfunden  wird. Dann wird man schon fühlen, ein wie ungeheures Gebiet die Volksetymologie umfaßt. Mir scheint es auch innere Volksetymologie, wenn alle Welt "ich war" als das Imperfektum, "ich bin" als das Präsens von "sein" empfindet. Auch Kasusformen können so volksetymologisch neu verwendet werden; so ist uns der Genitiv als Form der Zeitbestimmung im allgemeinen verloren gegangen, nur in einigen, den gebräuchlichsten zeitbestimmenden Worten haben wir noch den alten Gebrauch erhalten; wir sagen noch  des Morgens, des Abends, eines Tages, eines schönen Tags.  Es hat sich daraus eine Gruppe für sich entwickelt; die Volksetymologie sieht im "s" das Wesentliche und bildet (ohne an den falschen Genitiv zu denken) auch das Wort "Nachts". Unser geheimnisvollschönes Wort "mutterseelenallein" bedeutete im Mittelhochdeutschen so viel wie "getrennt von der Seele der Mutter"; "allein" konnte in diesem Sinne mit dem Genitiv verbunden werden; diese Vorstellung ist uns verloren gegangen, und wer ein feines Ohr für unsere Muttersprache hat, wird bemerkt haben, daß wir die neue Volksetymologie für "mutterseelenallein" noch nicht besitzen, daß jeder Dichter, der das Wort gebraucht, gewissermaßen seine eigene Volksetymologie damit verbindet. Ein anderes Wort, welches seine ganz offenbare Etymologie verloren hat, ist unser "Ritter". Es ist in mancher Beziehung interessant. Würde man einen einfachen Mann aufmunternd fragen, wo das Wort herkommt, und wüßte dieser einfache Mann (was durchaus nicht sicher ist) von der alten Bedeutung, so würde er sich allerdings für einige Minuten in einen etymologischen Forscher verwandeln, an "reiten" denken und die beiden Worte in einen halbwegs richtigen Zusammenhang bringen. Wäre aber der einfache Mann nicht nachdenklicher Natur oder wüßte nicht, daß man sich früher unter Ritter einen berittenen Mann vorstellte, so würde er nicht auf die Ableitung kommen, wie sie auch nicht mehr in unserer Vorstellung ist, sobald wir Ritter rein als Standesbezeichnung gebrauchen oder z.B. Rittergut sagen.

Wer aber schon auf eigene Faust etymologisiert und "Ritter" von "reiten" ableitet, der beruhigt sich dabei und fragt nicht mehr, wie das Wort "reiten" zu seiner Bedeutung gekommen ist. Nun aber ist diese Bedeutung selbst für unsere kurze historische Zeit noch ziemlich neu. Die ältesten Deutschen scheinen die Fortbewegung auf dem Pferderücken so wenig gekannt zu haben wie die Helden des HOMEROS und wie die Indier, die das alte Sanskrit sprachen. Nirgends finden wir ein Stammwort für "reiten". Auch das deutsche Wort bedeutete nur "reisen", sich auf der Erde fortbewegen. Der Reiter oder Ritter war also ein "Reisiger", ein "Reisender" gewesen. Als das Wort dann ganz besonders das Reisen zu Pferde zu bedeuten anfing, bildete es für die Volksetymologie einen neuen "Stamm". Und während das deutsche Wort in der Form "reitre" ins Französische überging und dort schließlich so herunter kam, daß es einen zerlumpten Weltläufer mit bedeutete, drang das romanische Wort "rutarii", welches eine Art Räuber bezeichnete, in der Form "Reuter" nach Deutschland, und die Volksetymologie setzte es so unmittelbar neben unser "Reiter", daß die Schreibung "Reuter" eine Zeitlang allgemein wurde. Hätte sich nun dieser Vorgang in der vorschriftlichen Zeit der Sprache abgespielt, so besäßen wir vielleicht nur das Wort "Reuter" und dazu das Verbum "reuten" und müßten es gründlich falsch erklären.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906