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FRITZ MAUTHNER
Sprachwissenschaft und Logik
II-05

"Ähnlich ist am Ende alles; nur auf den Grad der Ähnlichkeit kommt es an. Ein Karikaturenzeichner kann mit einer geringen Zahl sehr ähnlicher Bilder aus jedem Ding jedes Ding machen."

Die neue Sprachwissenschaft unterscheidet sich von der alten hauptsächlich durch den Umstand, daß der Begriff der Barbarei immer seltener auf fremde Völker angewandt wird. Schon die Römer, welche den Begriff der Barbarei doch besaßen, nahmen die Griechen davon aus und dürften wohl auch z.B. die Ägypter nicht als Barbaren betrachtet haben. Im Mittelalter betrachteten die christlichen Nationen einander trotz aller Kriege nicht mehr als Barbaren; die fremde Sprache war nicht mehr entscheidend. Die Christenheit umschloß einen Bund von Völkern, der erst die Nichtchristen als wilde Völkerschaften ansah. In neuester Zeit gar (ich möchte diese Weltanschauung für Deutschland auf GEORG FORSTER zurückführen) bemühen sich Reisende und Ethnographen, die Seele auch der sogenannten wilden Völkerschaften zu verstehen, und es wird nicht lange dauern, so wird man von "Wilden" ebensowenig sprechen, als gebildete Leute heute von "Heiden" sprechen. Wenn irgendwo die Menschenfresserei noch zu den religiösen Vorschriften gehört, so muß sich die Anthropologie mehr und mehr bemühen, diese Tatsache zu beschreiben, anstatt sie moralisch zu beurteilen.

So gut nun die verschiedenen Völker sonst verschiedene Gewohnheiten haben, so besitzen sie auch verschiedene Stile im Bau ihrer Sprache. Unsere Sprachwissenschaft hat aufgehört, sich auf die Grammatik unserer Muttersprache zu beschränken. Wir wissen jetzt, daß es Völker gibt, die in Sprachen reden oder denken, denen die allerprimitivsten logischen Unterscheidungen fehlen, die z.B. keine Bezeichnungen für Art und Gattung oder für die Wortklassen des Dings und der Eigenschaft besitzen. Es gibt ferner Sprachen, deren Verba Formen entwickelt haben, die sich ganz und gar nicht mit unserer logischen Grammatik decken, wir brauchen dazu gar nicht zu den Chinesen zu gehen; auch das slawische Verbum besitzt Formen, z.B. für die Stärke der Handlung.

Wir nennen diese Erscheinungen, über welche uns die neue Sprachwissenschaft aufgeklärt hat, gern unlogisch. In Wirklichkeit ist aber unsere Logik stehen geblieben, während unsere Sprachkenntnis durch Sprachvergleichung unbefangener geworden ist. Wollen wir den Fehler vermeiden, die Begriffe einer veralteten Logik irrtümlich in eine neuere Sprachwissenschaft hineinzutragen, so müssen wir uns bemühen, auch die Denkgewohnheiten der verschiedensten Völker miteinander zu vergleichen. Und die Sprachwissenschaft könnte sich gar kein höheres Ziel setzen als den Versuch, eine vergleichende Logik aus sich selbst herauszubilden, die verschiedene Art möglichst genau zu beschreiben, in welcher sich die gleichen Gedanken bei weit entlegenen Völkern assoziieren. Freilich würde sich bei diesem Versuche sofort herausstellen, wie armselig unsere Kenntnis von dem Wortschatze und der Grammatik der meisten Sprachen noch ist. Das Ideal einer vergleichenden Logik wäre eine geordnete Sammlung derjenigen Gehirngewohnheiten, in welchen die verschiedenen Sprachen die Erinnerungen der Menschen und Völker festhalten und zur Reproduzierung bereit legen. Es ist mir fraglich, ob ein einzelnes Menschengehirn imstande wäre diese Arbeit zu leisten. Ist es schon schwer, außer in seiner Muttersprache noch in einer Sprache mit ähnlicher Logik denken zu lernen, so ist es vielleicht unausführbar, sich die Denkgewohnheiten etwa der Chinesen oder der Indianer wirklich bis zur Gebrauchsfähigkeit anzueignen. Wahrscheinlich müßten dazu für jede Sprache andere Nervenbahnen (ganz abgesehen von dem verschiedenen Sprachmaterial) eingeübt werden. Wenn aber auch die Wissenschaft der vergleichenden Logik es niemals über kümmerliche Anfangsgründe hinausbringen sollte, so kann doch nicht mehr bezweifelt werden, daß unsere, auf dem Satzgebilde der indoeuropäischen Sprachen aufgebaute Logik nicht die einzig mögliche Logik ist.

Das Christentum hat von seinen ersten Anfängen an das unleugbare Verdienst gehabt, den beschränktesten Barbarenbegriff über Bord zu werfen. Wohl gemerkt, das Christentum, bevor es offiziell wurde. Die Hierarchie des offiziellen Christentums freilich hat es von Kaiser Konstantin bis zum heutigen Tage mit den Mächtigen gehalten. In seinen Anfängen aber war das Christentum die Religion derer, die gar nichts anderes hatten, keinen Besitz und kein Vaterland, also auch keine Hausgötzen und keine Lokalgötter. Der Pöbel hatte das Christentum angenommen; eine theologische Schöpfung ist es zuerst nicht gewesen. Den christlichen Genossen des dritten Jahrhunderts war keine Völkerschaft zu verächtlich, keine Sprache zu schlecht für die Propaganda. Die Gleichheit der Menschen vor dem Vater im Himmel ließ auch die Völker und ihre Sprachen gleichberechtigt scheinen. Aus Barbarensprachen holten sich die Genossen ihren Glauben, in anderen Barbarensprachen wurde er weiter getragen. Christen lernten koptisch, syrisch, armenisch, ein Christ übersetzte die Bibel ins Gotische. Diese Bewegung hat bis zur Stunde noch nicht aufgehört, da die englischen Bibelgesellschaften heute noch einen Sport daraus machen, die Bibel in alle möglichen und unmöglichen Sprachen übersetzen zu lassen. Und so lächerlich, so blödsinnig auch der Gedanke ist, den Karaiben dadurch die Gedanken JESU CHRISTI beizubringen, daß man ihnen einige Worte vorsagt, die außer dem Zusammenhang eine gewisse Bedeutungsähnlichkeit mit den lateinischen Worten des Vaterunser, der Bergpredigt hätten, so ist doch bei diesem Sport eine Menge Sprachgut in Europa bekannt geworden.

Ebenso unfreiwillig erwarb sich das Christentum ein anderes Verdienst um die Sprachwissenschaft dadurch, daß es wohl oder übel die hebräischen Schriften der Juden mit in Kauf nehmen mußte und daß es somit auf die Begründung einer semitischen Philologie angewiesen war. Es konnte natürlich nicht ausbleiben, daß der methodische Wahnsinn der klassischen Etymologie sich mit scheinbarer Wissenschaftlichkeit wiederholte, als nach der Reformationszeit das Hebräische von konfusen Köpfen mehr und mehr gepflegt und für die von Gott eingesetzte Ursprache der Menschheit gehalten wurde.

Wichtiger aber als die Tatsache, daß in der Christenheit die Beschäftigung mit dem Hebräischen sprachwissenschaftlich mehr Schaden als Nutzen stiftete und daß die sprachwissenschaftliche Ausbeute der christlichen Propaganda ein geringer Ersatz für die Schäden dieser Eroberungszüge war, scheint mir ein Punkt, der vielleicht die Ähnlichkeit zwischen dem semitischen und dem indoeuropäischen Sprachbau besser aufklären hilft, als es bisher die unbeweisbare Annahme einer Verwandtschaft oder gar die vollständig schemenhafte Zuteilung zu der gleichen Sprach klasse  zu tun vermochte. Man kann wirklich nicht ohne Hohn Sätze wiederholen wie den, daß beide Sprachfamilien darum einen ähnlichen Bau haben, weil sie beide zur flektierenden "Klasse" gehören; bescheidener müßte man sagen, daß sie beide zur flektierenden Klasse gerechnet werden, weil die Grammatik der einen und der anderen für unseren ordnenden Verstand einen ähnlichen Bau zu besitzen scheint. Wenn aber BENFEY (Geschichte der Sprachwissenschaft) mit seiner sehr vorsichtig ausgesprochenen Vermutung recht hat, daß die griechische Grammatik auf dem Wege über Persien auf die Anfänge der arabischen Grammatik eine gewisse Wirkung ausgeübt habe, dann ist es, da doch die hebräische Grammatik eine Nachahmung der arabischen ist, gar nicht unmöglich, daß alle Ähnlichkeiten der semitischen und der indoeuropäischen Sprachen - so wie wir sie sehen - erst durch die Anwendung der gleichen grammatischen Kategorien in die semitischen Sprachen hineingetragen worden sind.

Es ist das in der Geschichte der Wissenschaften ein gar nicht so seltener Fall, daß man die Umrißlinien, die man sucht, auch findet, - nicht etwa weil sie vorhanden wären, sondern weil man sie eben gesucht hat. Es liegt das zu tief im Wesen des menschlichen Verstandes begründet, um nicht vermuten zu lassen, was niemals Seziermesser und Mikroskop werden aufweisen können: daß die bloße Richtung der Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Vergleichspunkt diesen Punkt zum Range eines Einteilungsgrundes oder gar einer Kategorie erheben kann. Man kann diese Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes schreiend deutlich aufzeigen in dem Gedankengang der statistischen Forscher, welche ihre ungeheuren Ziffermassen je nach der Richtung der Aufmerksamkeit immer neu gruppieren müssen; und wer einem Statistiker einen noch so widersinnigen Vorgleichungspunkt (z.B. Zunahme der Eigentumsverbrechen und Zunahme der kurzsichtigen Schüler) wichtig erscheinen lassen könnte, der hätte ihn auch gezwungen, seine Aufmerksamkeit auf die Vergleichung zu richten und eine neue Tatsache zu sehen, so wie alle Welt in einem fernen Gebirgszuge einen Mönch oder einen Löwen sieht, sobald die Aufmerksamkeit auf diese Ähnlichkeit gelenkt worden ist. Ähnlich ist am Ende alles; nur auf den Grad der Ähnlichkeit kommt es an. Ein Karikaturenzeichner kann mit einer geringen Zahl sehr ähnlicher Bilder aus jedem Ding jedes Ding machen.

Wie soll man da nun gar keine Ähnlichkeit zwischen den semitischen und den indoeuropäischen Graminatiken wahrnehmen, wenn die Abstraktionen der einen denen der anderen zum Muster gedient haben? Wie soll man in einem Felsblock nicht die Umrißlinien eines Löwen erblicken, wenn der Felsblock künstlich zugehauen worden ist?

Die Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts war durch den tausendjährigen Einfluß des Christentums so tief unter die der Griechen gesunken, daß man bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache nicht mehr zwischen Natur und Gesetzgebung unterschied, sondern darüber stritt, ob Menschenwerk oder Gottes Werk. Ein Mann wie ROUSSEAU war in diesen Dingen schwankend. Der Theologe HERDER hat das nicht geringe Verdienst, es seinen Zeitgenossen sehr wahrscheinlich gemacht zu haben, daß die menschliche Sprache mit Gottes Hilfe Menschenwerk gewesen sei. Hätte die christliche Theologie es der Mühe wert gehalten, zu behaupten, daß die Mistgabel eine Erfindung Gottes sein müsse, so wäre es ein Verdienst gewesen, auch diesen Wahn zu zerstören und die Entstehung der Gabeln im allgemeinen und der Mistgabeln insbesondere auf natürliche Weise zu erklären.

Viel bedeutender als HERDERs eigene sprachphilosophische Werke sind die Anregungen, welche er mittelbar dadurch gab, daß er, leidenschaftlicher und begeisternder als irgend jemand vor ihm, auf die geheime Arbeit des Volksgeistes hinwies. Er ist nicht der Entdecker des Volksliedes, aber auf ihn geht die wissenschaftliche Pflege aller Folklore zurück, das in unserer Zeit in Recht und Sitte, in Religion und Kunst, vor allem in der Sprache und in der Poesie nachgewiesen wird. Diese kulturhistorische Tat HERDERs brach der philosophischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts die Spitze ab. Hatte man vorher geglaubt, das heißt hatten die freieren Geister geglaubt, alle diese Einrichtungen als Schöpfungen des menschlichen Verstandes bewundern zu müssen, als mechanische Erzeugnisse des bewußten Verstandes, so schob man sie jetzt mehr und mehr der unbewußten Tätigkeit eines unbekannten Volksgeistes zu. Und weil der Begriff unklar war, so sprach man auch konsequenterweise nicht von dem Verstande des Volkes, sondern von dessen Geiste, wobei man sich irgend eine versteckte Gottheit vorstellen konnte. Die Aufklärung hatte sich eigentlich gegen die allgegenwärtige und allzu geschäftige Eindrängelei des allmächtigen Gottes gerichtet; man hatte es dem Gotte stillschweigend überlassen, den menschlichen Verstand zu schaffen, und machte diesen zum allmächtigen Erfinder. Gegen die unbefriedigende und unwahre Nüchternheit dieser Vorstellung wandte sich nun die Lehre von einem unbewußten Volksgeist.

In der romantischen Poesie kehrte dieser wertvolle Protest gegen die Aufklärung um in das christliche Mittelalter oder heuchelte wenigstens eine solche Umkehr. In der romantischen Philosophie Deutschlands, von HEGEL bis EDUARD von HARTMANN, wurde in ähnlicher Weise die gestürzte Allmacht Gottes wieder hervorgesucht; es wurde links mit dem Atheismus kokettiert, während rechts die Bewegung unbewußter Begriffe ganz mittelalterlich die zerstörte Welt göttlich wieder aufbaute. Vorher aber hatte schon für die Wissenden KANT auch den Volksgeist überflüssig gemacht. Wenn unsere Vorstellung von der Welt mit allen aus unseren Vorstellungen abstrahierten Wissenschaften an der Erscheinung haften bleibt und bis zum Ding-an-sich nicht vorzudringen vermag, wenn jede unserer Vorstellungen in Form und Inhalt abhängig ist von der Einrichtung unserer Sinne und unseres Verstandes, dann ist die mythologische Person "Volksgeist" überflüssig geworden und die Unwahrheit der Aufklärung ist ebenso vermieden wie die Unklarheit der HERDERschen Romantik. HERDER kämpfte für sein Lebenswerk, als er gegen KANT auftrat.

Diese Auffassung von HERDERs sprachphilosophischer Tat muß dem ungerecht erscheinen, der HERDERs berühmte "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" rein historisch betrachtet. Daß diese Preisschrift jedoch so rasch historisch werden, das heißt veralten konnte, das sollte doch ihre Bewunderer mißtrauisch machen. Selbstverständlich war er in seinen Ideen ein ungewöhnlicher Mann. Er war, durch eigenes Denken und durch HAMANNs Einfluß, der vorkantischen Schulphilosophie entwachsen; er wußte schon, in besonders hellen Augenblicken, daß es ein besonderes Seelenvermögen  Vernunft  nicht gibt, daß "alle Kräfte unserer und der Tierseelen nichts sind als metaphysische Abstraktionen"; er ahnte bereits, daß es nur Individualsprachen gibt. Aber HERDER bringt sich doch um jeden Kredit, wenn er seine Preisschrift schon 1772 (in einem Briefe an HAMANN) als "Schrift eines Witztölpels" verleugnet; die Denkart dieser Preisschrift könne und solle auf ihn so wenig Einfluß haben als das Bild, das er jetzt an die Wand nagle. Da ist es denn kein Wunder, wenn HERDER in der Folgezeit den lieben Gott wieder um die Erfindung der Sprache bemüht.

HERDERs Wesen ist eben voll von Widersprüchen. Man liebte ihn nicht. KANT soll so weit gegangen sein, HERDER den Wahrheitssinn abzusprechen. Als moralisch unwahr erscheint HERDER sogar bei GOETHE, wenn der vergötterte Waldteufel "Satyros" wirklich, nach SCHERERs Vermutung, gegen ihn gemünzt ist. HERDER und Satyros spielen mit Worten und Gedanken. Es ist bereits irgendwo einmal gesagt worden, daß HERDER als Poet einer prosaischen Sprache zuneige, als Philosoph einer poetischen. Darum allein ist es schwer, seine Ansichten festzuhalten, auch wenn er ihnen treuer geblieben wäre.

Das Beste, was HERDER gegen KANT vorzubringen weiß, ist HAMANNs Eigentum.

Die menschliche Seele (heißt es: Metakritik, 1.Teil) denkt mit Worten; sie äußert nicht nur, sondern sie bezeichnet sich selbst auch, und ordnet ihre Gedanken mittels der Sprache ... Mittels der Sprache lernten wir denken; durch sie sondern wir Begriffe ab und knüpfen sie haufenweise ineinander. In Sachen der reinen oder unreinen Vernunft also muß dieser alte, allgemeingültige und notwendige Zeuge abgehört werden; und nie dürfen wir uns, wenn von einem Begriff die Rede ist, seines Herolds und Stellvertreters, des ihn bezeichnenden Wortes schämen. Oft zeigt uns dieses: wie wir zu dem Begriff gelangt sind, was er bedeute, woran es ihm fehle. Konstruiert der Mathematiker seine Begriffe durch Linien, Zahlen, Buchstaben und andere Zeichen; ob er gleich weiß, daß er keinen mathematischen Punkt machen, keine mathematische Linie ziehen könne, und eine Reihe anderer Charaktere von ihm gar willkürlich angenommen sind; - wie sollte der Vernunftrichter das Mittel übersehen, durch welches die Vernunft eben ihr Werk hervorbringt, festhält, vollendet? Ein großer Teil der Mißverständnisse, Widersprüche und Ungereimtheiten also, die man der Vernunft zuschreibt, wird wahrscheinlich nicht an ihr, sondern an dem mangelhaften und schlecht gebrauchten Werkzeuge der Sprache liegen; wie das Wort  Widersprüche  selbst sagt." Um dieses vorzüglichen Wortes willen (man vergleiche zahlreiche Äußerungen HAMANNs über die Weisheit des Widerspruchs, wie daß seine eigene unnatürliche Neigung zu Widersprüchen der Tod und die Hölle der lebenden Weltweisheit sei) müssen wir freilich die Verurteilung der HERDERschen Widersprüche zurücknehmen oder mildern. Sprechen oder Denken ist Widerspruch; wie erst ein Philosophieren über die Sprache.

Ein Widerspruch ist in der Wirklichkeitswelt undenkbar. Denkbar und wirklich ist er nur im Denken oder im Sprechen der Menschen. Die deutsche Sprache ist so ehrlich, das ausdrücklich anzuerkennen, da sie für den Begriff des Gegensatzes das Wort "widersprechen" gebildet hat. In Wahrheit ist der Widerspruch nur im Menschengehirn vorhanden, er ist ein Dagegensprechen, ein Dagegenreden, nicht ein Dagegensein. Diese Passivität der Wirklichkeitswelt bei der Behauptung eines Widerspruchs liegt auch in dem Worte "Gegensatz" verborgen, das eine Übersetzung des lateinischen  oppositio  ist. Die Wirklichkeiten  sind  nicht wider einander,  sind  einander nicht feind, nicht entgegen, sie sind einander nur entgegengesetzt, widersprechen einander nur.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906