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FRITZ MAUTHNER
Sprachgesetze
II-12

"Es können die Gesetze des Lautwandels nur höchst uneigentlich Gesetze genannt werden."

Die Sachlage, daß der Bedeutungswandel in "der" Sprache oder in irgend einer Sprache nicht nach "Gesetzen" vor sich geht, sondern historisch, also zufällig entsteht, das heißt jedesmal seine zureichende Ursache hat, nicht aber Gesetzen gehorcht, wird eigentümlich beleuchtet durch die Erscheinung des Hlonipa, die bei so vielen abergläubischen Völkern von Australien, der Südseeinseln, Südafrikas und Südamerikas beobachtet worden ist, daß man sie wohl als eine allgemeine Einrichtung unkultivierter Völker betrachten kann; um so mehr als der Hlonipa auch unter uns besteht, und um so mehr als wir wirklich glauben müssen, daß der Aberglaube in Urzeiten doch noch sinnloser war als heute. Der Hlonipa, wie er besonders bei den Zulukaffern zu Hause ist, von wo auch, wenn ich nicht irre, das Wort stammt, besteht darin, daß nach dem Tode eines Stammesgenossen der Name dieses Toten und alle zufällig ähnlich klingenden Worte aus dem Sprachgebrauch verschwinden müssen. Ist z.B. der König oder die Königin Pomare auf der Insel Tahiti gestorben, so wird mit dem Worte Pomare auch das Wort Po (Nacht) für den Umkreis der Insel verpönt. Wir wollen dahingestellt sein lassen, ob in der Tat diese Laute vermieden wurden, damit der Tote nicht gerufen werde und sich nicht als Geist bei den Mahlzeiten einstelle; wir wollen nicht fragen, ob wirklich, wie es von da und dort berichtet wird, die Frauen des Stammes herkömmlich die Aufgabe gehabt hätten, neue Worte zu erfinden. Wir wollen nur festhalten, daß in alten Zeiten ganz gewiß jede Sprache auf kleine Stämme oder gar auf Familien beschränkt war und daß nun dort, wo der Hlonipa herrschte, nach einigen Generationen das geringe Sprachgut allmählich einem neuen Platz machen mußte.

Es liegt auf der Hand, daß im Verfolge der Zivilisation, als eine Sprache weitere Stämme und größere Völkerschaften umfaßte, der Hlonipa seine Wirksamkeit verlieren mußte; gerade aber in uralten Zeiten konnte er in kurzer Zeit den Wortbestand einer Familiensprache teilweise ausrotten.

Von den Bewohnern der Insel Tahiti wird ferner (hoffentlich glaubhaft) berichtet, daß sie aus ihrer Sprache jedesmal diejenigen Worte oder Silben weglassen, welche an den Namen ihres regierenden Königs oder an die Namen seiner nächsten Anverwandten erinnern. Dieser Gebrauch wird dort Tepi genannt. Er wird uns weniger befremdlich erscheinen, wenn wir uns dabei erinnern, daß z.B. die orthodoxen Juden den Namen ihres Gottes ("Jahve"; Jehova, von Juden nicht gebraucht, ist schon durch die Vokale des Ersatzwortes Adonai unkenntlich gemacht) nicht aussprechen dürfen, daß in unseren Flüchen sehr häufig der Name Gottes und der des Teufels durch sinnlose Silben ersetzt wird (Potztausend, sacrebleu, Hol dich der Geier), daß sogar das Aussprechen des königlichen Namens vermieden wird, indem man das Abstraktum "Majestät" dafür setzt. Wer den Kaiser mit "Wilhelm" oder gar "Willem" anredete, würde sich wohl einer Beleidigung schuldig machen. Wir haben also ebenfalls unser Tepi.

Wir können uns trotzdem in diese tahitische Sprachveränderung kaum hineindenken. Von dem Tage an, da ein König Namens Tu den Thron bestiegen hatte, war die Silbe  tu  aus der Sprache verbannt, und das Wort  Fetu  (Stern) z.B. hieß von da ab  Fetia. 

Ein ähnlicher Sprachgebrauch soll bei den Kafirweibern herrschen, die mit keinem ihrer Worte an den Klang des Namens ihrer nächsten männlichen Anverwandten erinnern dürfen. Stirbt nachher der König oder der männliche Verwandte, so stünde der Wiederaufnahme der Laute in die Sprache des Volks oder der Weiber nichts mehr im Wege. Hat aber der König oder der Mann lange genug gelebt, so ist die Sprachveränderung wohl bleibend geworden. Stärker kann sich die Macht des Zufalls über die Sprache sicherlich nicht mehr äußern.

Wir sollten uns hüten, solche Sprachgewohnheiten als Eigentümlichkeiten von Wilden zu verachten. Auch wir haben unseren Namensaberglauben, haben unsere Euphemismen. Was war es denn anders als Hlonipa oder Tepi, wenn nach dem Attentate auf den alten Kaiser WILHELM mehrere Familien NOBILING ihren Namen änderten? Hlonipa ist es, wenn unsere Kinder oft klassenweise irgend ein Lieblingswort plötzlich aufgeben, weil sich durch irgend einen Zufall der Begriff der Schande daran geknüpft hat. Hlonipa endlich scheint mir mitzuwirken, wenn in den europäischen Hauptstädten die Umgangssprache den Namen für die Prostituierten von Zeit zu Zeit ändert, weil ihr das bisherige Wort zu gemein geworden ist.

Ein echt menschlicher Instinkt aber, der Drang zu forschen und sich dennoch bei der ersten Generalisation oder Personifikation zu beruhigen, hat zu der Einteilung unserer Welterkenntnis in Wissenschaften und zu der Ausrufung sogenannter Gesetze geführt. Auch in der Sprachwissenschaft soll es Gesetze geben, nicht nur die Gesetze des Lautwandels, sondern auch Gesetze der Begriffsentwicklung. Selbst LAZARUS GEIGER, dessen Hauptwerk eine vortreffliche kritische Tat ist, verrät an vielen Stellen, daß er Gesetze gefunden zu haben glaubt. Man traut seinen Augen nicht, wenn man bei ihm zum Beweise dafür, daß trotz aller Zufälligkeiten der Sprachgeschichte und trotz der Masse der Entlehnungen dennoch die Ursprünglichkeit der Wurzeln nachgewiesen werden könne, den ungeheuerlichen Satz liest: "Hinter der Sanskritsprache liegt keine zertrümmerte alte." Woher weiß er das so genau? Woher weiß er denn, daß (um in dem sinnlosen Bilde von Mutter- und Tochtersprache zu bleiben) nicht irgend eine unbekannte alte Sprache die zertrümmerte Mutter des Sanskrit gewesen sei? Woher weiß er denn, ob nicht irgend eine andere Sprache, deren Ähnlichkeit durch Zertrümmerung vernichtet worden ist, als Muttersprache hinter dem Sanskrit liege? Woher weiß er denn etwas aus einer Zeit, aus der es keine Überlieferung gibt?

In diesem ungeheuerlichen Satze: "es liege hinter der Sanskritsprache keine zertrümmerte alte", in dieser sinnlosen Behauptung, die eines MAX MÜLLER würdiger gewesen wäre als eines LAZARUS GEIGER, verbirgt sich etwas, was man nur herauszuholen braucht, damit es auf dem Pranger stehe. Es verbirgt sich nämlich dahinter immer noch die erzphilologische Vorstellung, daß die Sanskritsprache eine Ursprache sei, so wie Erztheologen einmal annahmen, es sei das Hebräische die Ursprache. Und in dieser Vorstellung steckt wieder ohne Gnade die andere, daß das älteste Sanskrit, das der ältesten Vedenstücke nämlich, dessen Wurzeln den Erzphilologen so bequem zur Ruhe kommen lassen, identisch sei mit jener Sprache, welche die Menschheit oder wenigstens der legendäre indoeuropäische Menschenstamm schuf und sprach, als er sich aus dem Zustand der Tierheit befreite, um in den Stand der sprechenden Menschen aufgenommen zu werden. Aus dieser ungeheuerlichen Vorstellung entwickelt sich dann der Widerspruch, den wir bei GEIGER finden, daß nämlich einerseits die Bedeutung der Sanskritwurzeln gern bis zur primitivsten Vorstellung von tierischen Bewegungen zurückgeführt wird, daß anderseits alle unsere sittlichen, religiösen und ästhetischen Begriffe in den vedischen Schriften schon nachgewiesen werden. Es mußten also die Inder der Vedenzeit eine seltsame Sprache geredet haben, eine Sprache, hinter welcher keine zertrümmerte alte lag und welche zu gleich an die Ausdrucksmittel der Tiere grenzte und an die Ausdrucksmittel einer reifen Kultur. Die Ursprache der indoeuropäischen Menschheit wäre zugleich die Sprache des Affen und HEGELs gewesen.

Der heimliche Grund, der die Linguisten zu einer so verzweifelten Annahme führte, war nur der, daß man sich bei Gesetzen beruhigen wollte, wo die Wirklichkeit nur das Walten des Zufalls darbot. Ich habe an zahlreichen Stellen versucht, den Begriff  Gesetz  zu analysieren und ihn als einen rein menschlichen, der Wirklichkeit fremden, auf die Welterkenntnis nicht anwendbaren Begriff nachzuweisen. Insbesondere in der Geschichte gibt es keine Gesetze, auch nicht in der Sprachgeschichte. Ich möchte hier - auf die Gefahr der breitesten Wiederholung - durch einen Hinweis auf die astronomischen Gesetze noch einmal die Armut der Sprachgesetze zeichnen.

Nach jahrtausendelangem Beobachten und Vergleichen ist es erst dem Genie NEWTONs gelungen, die Bewegungen der Sterne oder vielmehr die Stellungen der Sonne zu den Planeten und den Monden auf eine einzige Formel zurückzuführen, und wir sind es gewohnt, diese Formel das Gesetz der Gravitation zu nennen. Es ist eine schöne und die menschliche Wissenssehnsucht beruhigende Hypothese, wenn wir dieses sogenannte Gesetz der Gravitation nun auf die gesamte Sternenwelt anwenden. Es ist eine weitere schöne Hypothese, wenn KANT und LAPLACE angenommen haben, dieses Gesetz habe seit jeher geherrscht, und wenn sie mit Hilfe dieses Gesetzes die gegenwärtigen Bewegungen des Sonnensystems formulierten, das heißt mit den einfachsten Worten beschrieben, zugleich aber auch die Entstehung dieser Bewegungen zu erklären suchten. Bekanntlich ist in dieser Geschichte des Sonnensystems noch alles unsicher und die Losreißung der einzelnen Planetenmassen von der Zentralmasse bleibt nach wie vor eine Sache des Zufalls. Nun denke man sich, es wolle ein kühner Geist die Entstehung des Himmels schreiben und zwar so, daß er aus der durchaus unerklärten und durch nichts als den Zufall zu erklärenden Entstehung der Sonnenplaneten historische Gesetze, Gesetze einer Geschichte des Himmels erschlösse. Es wäre ein luftiges Phantasiegebäude. Aber diese Gesetze wären wenigstens unkontrollierbar. Solche historische Gesetze für die Weltgeschichte, die politische oder die Kulturgeschichte aufzustellen, ist noch weniger gelungen, weil sie sich an den harten kontrollierbaren Tatsachen stoßen.

Nun betrachte man gar diejenigen Erscheinungen der Analogie, welche man Gesetze der Sprachgeschichte zu nennen großmütig oder eitel genug war. Die astronomischen Gesetze, die schon vor NEWTON entdeckt waren, haben ihre Probe so weit bestanden, daß man den Kalender nach ihnen einrichten, das heißt die Jahreseinteilung voraussagen konnte. Das konnte man aber schon nach dem Ptolemäischen System, dessen Fiktioncharakter doch selbst den Arabern bekannt war. Das höhere Gesetz der Gravitation hat nicht einmal zu einer einstimmigen Ansicht von der Zukunft des Sonnensystems geführt. Die paar Sprachgesetze gar haben nur rückwirkende Kraft, was schon darauf schließen lassen sollte, daß sie nicht einmal nach dem bescheidenen Sprachgebrauche wirkliche Gesetze sind. Wenn wir erfahren, daß im Französischen das lateinische  t  zwischen zwei Vokalen und unter gewissen anderen Umständen unausgesprochen bleibt, daß "darum"  père, mère, frère, larron, pierre, chaine  aus  pater, mater, frater, latro, petra, catena  entstehen, so sind wir in der Erkenntnis der Ursache nicht um einen Schritt weiter gekommen. Wir haben doch nur die Analogie aus einer Anzahl von Fällen herausgehoben, aber wahrhaftig diese Analogie nicht unter eine allgemeinere Formel gebracht, die auch nur menschlich für ihren Grund gelten könnte, so wie etwa die allgemeinere Formel Gravitation für den Grund der fallähnlichen Bewegungen gilt. Es können die Gesetze des Lautwandels nur höchst uneigentlich Gesetze genannt werden, aber selbst wenn die Lautgesetze den chemischen oder physikalischen Gesetzen ebenbürtig wären, so besäßen wir in ihnen immer noch keine Sprachgesetze, weil die Sprache doch nur um der Wortbedeutungen willen Sprache ist, und der Lautwandel in gar keinem erkennbaren Zusammenhange steht mit dem Bedeutungswandel der Worte.

Von Gesetzen des Bedeutungswandels ist zwar viel gefabelt worden, aber mehr als den Zufall hat man in der Geschichte des Bedeutungswandels bis zur Stunde nicht finden können. Man halte doch nur eine Tatsache fest: auf die Bildung der modernen Kultursprachen, der einzigen, deren Geschichte wir ein wenig kennen, ist die politische Geschichte von entscheidendem Einfluß gewesen. Die englische Sprache wäre nicht zustande gekommen ohne die Ereignisse, welche nacheinander Sachsen, Dänen und Normannen zu den früheren Bewohnern Englands führten; die romanischen Sprachen wären nicht entstanden ohne die politischen Ereignisse, welche die römische Macht und ihre lateinische Sprache hin und her führten. Selbst im alten Italien wäre etwas anderes als das klassische Latein zur Kultursprache geworden, wenn nicht gerade Rom und dort gerade der Adel die Macht erlangt hätte. In jedem Falle lagen die Verhältnisse anders. Die politische Geschichte erst kann uns lehren, bei welchem der aufeinander stoßenden Völker die einzelnen Kulturerscheinungen (Sitte, Recht, Armee, Religion, Handel) siegreich waren. Das besiegte Volk konnte den Siegern einen Teil seines geistigen Besitzes aufdrängen.

So ist die Sprache jedesmal von der politischen Geschichte abhängig und doch wieder im einzelnen unabhängig. Und da die politische Geschichte schon ein Werk des Zufalls ist, so wirkt auf die Sprache den Zufall in zweiter Potenz, wenn man den negativen Begriff des Zufälligen überhaupt noch steigern kann. Jedes Wörterbuch jeder Sprache bietet lustige Beispiele für das Wirken des Zufalls. In unseren Worten stecken bald veraltete wissenschaftliche oder religiöse Anschauungen, bald Erinnerungen an vergessene Eigennamen. Neben der großen Masse der Entlehnungen, die aus dem Zufall der Geschichte zu erklären sind, laufen glückliche und unglückliche Übersetzungen und Mißverständnisse her. Launenhaft wie die Stile der Kleidertrachten sind die Übereinstimmungen, welche man Gesetze nennt. Die einzelnen Worte gar sind unberechenbar.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906