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FRITZ MAUTHNER
Die richtige Sprache
II-10

"Wann ist das Latein zu einer toten Sprache geworden? Sicherlich nicht mit dem Untergang des römischen Reichs."

Die Grammatik wurde in Griechenland erfunden oder eingeführt, als die Sprache anfing alt zu werden; die großen Dichter der Griechen hatten noch keine Grammatik gekannt. Wir können uns in diesen Zustand deshalb kaum mehr hineindenken, weil bei uns einerseits die Grammatik von frühester Jugend an geübt wird, anderseits Sprachrichtigkeit mit Schriftgrammatik verwechselt wird. Es klingt paradox, ist aber doch wahr: grammatikalische Fehler konnten vor der Erfindung der Grammatik gar nicht gemacht werden. SOPHOKLES konnte unmöglich gegen die Grammatik verstoßen, so wenig als ein plattdeutscher Dorfjunge gegen die innere Grammatik seiner Sprache sündigt. GOETHE konnte grammatikalische Schnitzer machen, seine Mutter nicht.

Es ist vom Standpunkt unserer Sprachkritik selbstverständlich, ja es ist nur einer ihrer unwesentlichsten Ausgangspunkte, daß die Gemeinsprache eines Volks, die richtige Sprache, oder wie man die Sache nennen will, nur eine leere Abstraktion sei. Die richtige Sprache ist für die Gedanken, die doch selbst wieder nur Sprache sind, nicht wichtiger als etwa die Orthographie. Bevor die Schrift erfunden war, konnte es keine Orthographie geben; und bevor man über die Sprache nicht nachdachte, konnte es keine richtige und keine fehlerhafte Sprache geben. So gibt es auch nur für Schreiber und Pfaffen eine Orthodoxie, eine Rechtgläubigkeit. Der einzelne Mensch hat immer nur seinen individuellen Glauben, seine individuelle Weltanschauung, und es ist pfäffisch, da von richtig und falsch zu sprechen.

Im Tun und Treiben der Menschen gibt es Recht und Unrecht, das dann in moralischen und juristischen Gesetzbüchem kodifiziert wird. Die Kodifizierung schützt aber nicht vor Änderungen. Insbesondere die Gesetzbücher, welche die Rechte an Sachen und Personen regeln wollen, sind ja doch nur grobe Umrisse, an welche sich die Pfaffen des Rechts für kurze Zeit in ihren brutalen Entscheidungen zu halten haben, und die immer wieder durch den Wandel von Recht und Sitte gesprengt werden. Glaube, Sitte und Recht sind aber alles nur Abstraktionen innerhalb kleiner Gebiete der menschlichen Sprache.

Der Hauptunterschied zwischen dem Recht eines Gesetzbuches und der richtigen Sprache besteht darin, daß die Sprache (seltene Fälle bei wilden Völkerschaften und bei den Franzosen ausgenommen, wo der Gebrauch eines Wortes wirklich mitunter von den vierzig Tyrannen der Akademie verboten wurde) gar nicht mit Erfolg kodifiziert werden kann. Unsere Wörterbücher und Grammatiken sind Privatarbeiten. Sie fassen die Regeln der augenblicklich gesprochenen Sprache zusammen, wie zur Zeit des Gewohnheitsrechts diese Regeln bereits von privaten Sammlern zusammengestellt worden sind, in den älteren Coutumes der Franzosen, in unserem Sachsenspiegel usw.

Wir wissen das alles, wir wissen ferner, daß selbst unter den Auerwählten eines Volkes, die sich wie die Schauspieler, Prediger und Abgeordneten besonders ihrer richtigen Sprache rühmen, niemals zwei genau die gleiche Sprache reden, wir wissen, daß die richtige Sprache eine ungefähre Gewohnheit ist, die Resultierende des allgemeinen Gebrauchs, mit der keine einzige Linie des wirklichen individuellen Gebrauchs vollkommen zusammenfällt. Wir wissen, daß die richtige Sprache zu jeder einzelnen, wenn auch noch so peinlichen Sprache sich verhält, wie die ideale, niemals noch geschaute, mathematische Kreislinie zum Bleistiftkreis auf dem Papier. Und selbst dieser Vergleich erweist der richtigen Sprache zu viel Ehre. Den idealen Kreis kann sich der Mathematiker wenigstens begrifflich denken. Die ideal richtige Sprache können wir uns nicht einmal denken, weil sie sich nicht aus Begriffen konstruieren läßt, sondern immer auf ein Ungefähr zwischen den Menschen zurückgeht.

Wir müssen aber doch zugeben, daß wir uns da in einem kleinen Widerspruch bewegen. Wir erkennen keine richtige Sprache an, keinen feststehenden und tyrannischen allgemeinen Sprachgebrauch, sondern nur unzählige Sprachgebräuche, deren es so viele gibt als Menschen eines Volkes. Diese individuellen Sprachgebräuche sind niemals identisch; auffallende, für jedes Ohr unmittelbar wahrnehmbare Verschiedenheiten wird nicht nur der Dialekt, sondern auch die richtige Sprache, selbst die sogenannte Schriftsprache verschiedener Landschaften aufweisen. Die Zeitungssprache z.B. ist nicht genau die gleiche in Wien und in Graz, in München und in Stuttgart. Das aufmerksame Ohr wird aber auch noch feine Unterschiede wahrnehmen in der richtigen Sprache zweier Zwillinge, die nie im Leben lange voneinander getrennt gewesen sind. Jeder von ihnen hat einen leise nuancierten Sprachgebrauch, den er für den richtigen hält. Wir wissen das alles, und wir sagen darum: jeder Sprachgebrauch ist richtig, es gibt keinen falschen Sprachgebrauch.

Dieser selbe Sprachgebrauch aber, der also für uns richtig ist, wendet die Begriffe und die Worte richtiges Sprechen und falsches Sprechen an. Es versteht sich von selbst, daß ich zwischen einem richtigen Sprechen und einem der Wirklichkeit analogen Sprechen unterscheide. Das Wort "Gemeinsprache" oder richtiges Sprechen kann fehlerlos sein und braucht darum dennoch keiner Wirklichkeit zu entsprechen. Was stellen sich aber die unzähligen Individuen dabei vor, wenn sie alle ohne Ausnahme von einer Gemeinsprache reden, an sie glauben und gewisse Abweichungen von ihr als falsches Sprechen tadeln? Wohl gemerkt, nur gewisse Abweichungen. Wir hören vieles anders sagen, als wir es gewöhnt sind, ohne es einen Fehler zu nennen.

Wenn wir von richtiger Sprache reden, so denken wir an zweierlei: an die richtige Aussprache und an die richtige Grammatik.

Wenn wir in Deutschland darüber streiten, welches die richtige Aussprache eines Worts oder eines Lauts sei, so kommen wir gewöhnlich zu einer Instanz, die im Lande der Schulmeister und Professoren recht verwunderlich ist. Wir pflegen diejenige Aussprache als Muster hinzustellen, die auf unseren besseren Bühnen im Drama gebraucht wird. Ich füge gleich hinzu, daß es mit diesem Muster eine eigentümliche Sache ist. Denn wenn einer von uns genau so sprechen wollte, wie der beste Sprecher des Wiener Burgtheaters, so würde sofort an ihm getadelt werden, daß er wie auf dem Theater rede, wenn einer also das Muster genau nachahmt, so wäre es wieder nicht das richtige Sprechen. Dieser Fehler der Bühnensprache und ihre sonstige Musterhaftigkeit fließen aber aus derselben Quelle.

Die neuere Wissenschaft hat sich daran gewöhnt, die Dialekte als das Ursprüngliche anzusehen und die Gemeinsprache als ein bequemes Verständigungsmittel, das sich durch politische und wirtschaftliche Einigungen der kleineren Stämme entwickelt hat. Die Gemeinsprache braucht nicht weiter zu gehen als das Bedürfnis der Verständigung; ob einzelne Silben unverstanden blieben, ob in der einen Gegend über die Lautbehandlung der anderen Gegend gelächelt oder gelacht wurde, war im ganzen und großen gleichgültig. Der Hamburger Senator und der Züricher Patrizier gebrauchen so ziemlich die gleiche Schriftsprache; auch wenn sie (anstatt ihres Dialekts, den sie daneben beherrschen) im Gespräch die deutsche Gemeinsprache reden, verstehen sie einander ganz gut, nur daß die Aussprache des einen den anderen ein wenig stört. In der Rede des Schauspielers aber darf nichts Störendes vorkommen, darf keine Silbe unverstanden bleiben, darf vor allem nicht unabsichtlich Heiterkeit erweckt werden.

So konnte es kommen, daß die Zunft der Schauspieler sich an eine Sprache gewöhnte, die in einem gewissen Sinne so tot ist wie die Schriftsprache; sie duldet nichts Undeutliches, nichts relativ Lächerliches, nicht gern etwas Individuelles. Wo auf der Bühne - heutzutage viel mehr als früher, weil auch die flüchtige Sprache und Dialektanklänge bürgerlicher Kreise nachgeahmt werden - von der Musteraussprache abgewichen wird, da herrscht immer charakterisierende oder komische Absicht. Wir stehen also vor dem verblüffenden Ergebnis daß die Gemeinsprache, soweit es sich um die Aussprache handelt, sich nach einem Muster richtet oder wenigstens kein höheres Muster kennt als eines, das außer halb der lebendigen Sprache steht und notwendig Fehler einer toten Sprache an sich haben muß. Am deutlichsten wird das, wenn der Wunsch nach Deutlichkeit dazu führt, gewissermaßen orthographisch zu sprechen. Man denke nur an das stumme E unserer Worte, das Ton den Schauspielern wie, ein E, ausgesprochen wird. Unser Gehirn arbeitet so kompliziert, daß wir in diesen Dingen nicht leicht etwas experimentell nachweisen können. Ich glaube aber nicht fehl zu gehen, wenn ich vermute, das mitunter das auf der Bühne allzu deutlich gesprochene Wort zuerst die Schriftzeichen in unserem Gedächtnis auslöst und auf diesem Umwege erst das Lautbild.

Beim Anhören von Theatervorstellungen in fremden Sprachen, die ich besser lese als rede, habe ich diese Erscheinung öfter an mir beobachtet. Habe ich recht beobachtet, so ist die Musterhaftigkeit unserer Bühnensprache gewiß nicht einwandfrei. Außerdem erinnere ich daran, daß es auch hier wieder keine zwei Schauspieler gibt, deren Aussprache vollkommen gleich wäre. Und daß es außerhalb der Bühnensprache keine Autorität für eine richtige Gemeinsprache gibt, dürfte namentlich in Deutschland ohne weiteres zugestanden werden. Die führenden Männer der verschiedenen Stände sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist; und er ist ihnen sehr verschieden gewachsen. Unsere Offiziere haben - und nicht nur in der Aussprache - ihre besonderen kleinen Gewohnheiten, die die Herrscherhäuser vielfach mit ihnen teilen, wo die Zufallssprache von Herrschern nicht das Muster war. Unsere Beamten sprechen, wie gebildete Leute anderer Stände, jeder eine Individualsprache, die je nach der Heimat, der Eitelkeit und der Mode irgendwo zwischen der richtigen Gemeinsprache und der Volkssprache liegt. In unseren Parlamenten hört man jedem Redner seine Heimat an; erst wenn die Dialektfärbung eine gewisse Grenze überschreitet, empfinden die Zuhörer das als komisch oder als eine Störung.

Soweit also die Aussprache in Betracht kommt, streben alle sogenannten Gebildeten eines Volkes dahin, sich einer Gemeinsprache zu nähern, deren Muster nie und nirgends lebendig gewesen ist. Die affektierten Gesellschaftskreise, die dieser Gemeinsprache am nächsten kommen, wissen gar nicht, daß sie komisch wirken auf die Träger der lebendigen Sprache, auf das Volk; und doch lacht dieses Volk wieder, sobald die Mustersprecher auf der Bühne von der künstlichen Gemeinsprache absichtlich oder unabsichtlich abweichen. So ist zunächst immer in bezug auf die Aussprache - das "richtige Sprechen" ungefähr so unwirklich wie der Artbegriff für das Individuum, oder wie der griechische Kanon für die einzelnen Statuen. Es gibt in der Natur nichts, was der Art entspräche, und doch befremdet uns jedes Individuum, das anders ist. Der regelrechte Kanon wäre kein Kunstwerk, aber wir würden jede Statue fehlerhaft finden, die sich vom Kanon wesentlich unterschiede. Die richtige Aussprache ist eine tote Abstraktion, die dennoch auf uns alle eine Macht ausübt. Dieser toten Abstraktion sich zu unterwerfen ist das Bestreben des kunstbeflissenen Mädels, das in der Theaterschule für die Prostitution der Sprache abgerichtet wird; das ist auch das Bestreben des Pfarrers auf der Kanzel, des Redners auf der Tribüne; bis herunter züm dümmsten Dorfjungen geht das, dem der Dorfschulmeister durch endlose Prügel beizubringen sucht, er habe anstatt der Laute seines Dialekts neue Laute zu sprechen, gewöhnlich Phantasielaute, die irgendwo zwischen dem Dialekt und der toten Abstraktion stehen. "Man sagt nicht: nie sogt; nie sogt: man sagt." Wäre die Natur nicht stärker als die schulmeisterliche Absicht, die tote Abstraktion einer musterhaften Aussprache könnte am Ende zur Wirklichkeit werden; wer weiß aber, ob dann die ideale Sprache nicht die unerfreulichste Ähnlichkeit mit einer toten Sprache hätte. Wenigstens würde sie sich von der Schriftsprache kaum mehr unterscheiden.

Das richtige Sprechen fällt so ziemlich mit der Schriftsprache zusammen, wenn man nicht die Aussprache beachtet, sondern die Worte und die Satzbildung. Und da besitzen wir ein historisches Beispiel dafür, wie wirklich gerade durch die Richtigkeit oder Musterhaftigkeit eine lebendige Sprache zu einer toten Sprache werden kann.

Wann ist das Latein zu einer toten Sprache geworden? Sicherlich nicht mit dem Untergang des römischen Reichs. Es blieb noch beinahe 1000 Jahre lang die Umgangssprache und die Schriftsprache der Gebildeten in den Kulturländern Europas. Daß es dabei seine klassische Form verlor, daß es sich einerseits durch die widerlichsten Abstraktionen den scholastischen Spitzfindigkeiten anpaßte, daß es anderseits für den Alltagsgebrauch des Klosters barbarisch neue Worte schuf, daß es mit einem Worte in ein Mönchslatein und Küchenlatein verwandelt wurde, das ist gerade ein Beweis dafür, daß es im Mittelalter noch eine lebendige Sprache war. Es war nicht weniger lebendig, als die griechische Sprache im Neugriechischen lebendig geblieben oder wieder lebendig geworden ist. Wann also starb die lateinische Sprache? Doch oflenbar in jener vielgerühmten Zeit, als die Humanisten auf den Einfall kamen, klassisches Latein zu schreiben. Dieser Einfall selbst war natürlich nur der Gnadenstoß für die alte Sprache. Er konnte nur kommen, weil das Mönchslatein schon zu sterben angefangen hatte, weil auch die Gelehrten der Zeit in den modernen Nationalsprachen zu reden und zu schreiben angefangen hatten; das Seltsame ist nur, daß diese Männer das Latein wieder zu beleben glaubten, als sie ihm den Todesstoß gaben.

Die letzte Betätigung des Latein als einer lebendigen Sprache war eine Parodie. Als die Humanisten in den Briefen  obsurorum virorum  das Mönchslatein ihrer Zeit verspotteten und ihm, dem einzigen Erben des alten Latein, den Garaus machten, war die lateinische Sprache tot. Die Humanisten konnten dann noch so bewunderungswürdig in der Manier CICEROs weiter schreiben, sie schrieben in einer toten Sprache. Zwischen den Stilübungen des ERASMUS von ROTTERDAM und denen eines heutigen Primaners besteht ein großer Unterschied an Feinheit; der geistige Vorgang ist derselbe. Nur Gedanken oder Sätze, die sich im Gesichtskreise der Zeitgenossen des CICERO bewegen, lassen sich mit den Worten und der Satzbildung des CICERO ausdrücken; nicht der einfachste Wunsch eines deutschen Arbeiters deckt sich mit diesen alten Formen, und die Gedankenwelt unserer studierten Herren muß unter die Gedankenwelt des Arbeiters herabsinken, wenn sie sich ciceronianisch aussprechen lassen soll. Der verhängnisvolle Irrtum der Humanisten, auf eine veraltete starre Form zurückzugreifen, quält heute noch die Söhne unserer wohlhabenden Kreise, die mit Latein gepeinigt werden, anstatt in ihrer Muttersprache die Wirklichkeit kennen lernen zu dürfen, die sie umgibt.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906