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FRITZ MAUTHNER
Onomatopöien
II-38

"Aus der Zeit der Sprachentstehung ist auch nicht die leiseste Spur mehr vorhanden, nicht mehr als von der Bewegung eines Regentropfens, der vor hunderttausend Jahren einem grasenden Mammut auf den Rücken fiel."

Ich habe die Erkenntnis, daß die vielgerühmte Klangnachahmung selbst in den wenigen ganz deutlichen Fällen ihrer Existenz (wie bei dem Wauwau oder Muh der Kinder) doch nur eine metaphorische Klangnachahmung sei, weil die Natur und auch die Tiere niemals mit menschlichen Tonwerkzeugen artikulieren, ich habe diese Erkenntnis bei keinem einzigen Schriftsteller gefunden. Trotzdem wird häufig auf etwas hingewiesen, was einen viel komplizierteren Fall der metaphorischen Klangnachahmung darbietet. Wir drücken sehr häufig Gesichtswahrnehmungen durch Laute aus, die in unserem Gehör unwillkürlich wie ihre Nachahmung erscheinen. Daß ein solches Verhältnis zwischen Gesichts- und Gehörwahrnehmungen bestehe und allgemein verständlich sei, das wird durch die Umkehrung bewiesen, wenn wir nämlich Gehörwahrnehmungen durch Handbewegungen und andere sichtbare Zeichen mitteilen. Und das geschieht sehr häufig, sowohl in alltäglichen Bildern der Sprache, wie wenn wir von sanften, von scharfen, von wiegenden Tönen reden, besonders aber, wenn ein Kapellmeister beim Dirigieren den gewünschten Klang der Instrumente impulsiv und doch wieder konventionell durch die Handbewegungen andeutet.

Unsere Erkenntnis aber, daß es eine echte Klangnachahmung gar nicht geben kann, daß alle Klangnachahmungen genau ebenso wie die Klangnachahmungen von Gesichtseindrücken, nur metaphorisch verstanden werden können, diese Erkenntnis scheint mir von einschneidender Bedeutung für die pensionsberechtigte Frage nach dem Ursprung der Sprache. Schon der Sanskritist FICK (Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen, 3. Auflage, Seite 7) hat erstaunt darauf hingewiesen, daß die Onomatopöien, auf welche doch so oft der Ursprung der Sprache gegründet worden ist, nur in den lebenden Sprachen so häufig vorkommen, für die älteste Zeit aber gar so selten nachzuweisen sind. FICKs Bemerkung mag allerdings eine Folge seiner und der allgemeinen wissenschaftlichen Methode sein. Erstens finden sich unsere meisten Onomatopöien in volkstümlichen Ausdrücken, wie sie in den klassischen Literaturen der Griechen und Inder nur selten aufbewahrt sind. Zweitens wollte ja gerade die nüchterne Analysierkunst der Sanskritgrammatiker, auf welcher unsere Sprachwissenschaft seit hundert Jahren beruht, jedes Wort auf eine verständliche, begriffliche Wurzel zurückführen. So mußte es kommen, daß sehr zahlreiche Worte, welche unserem Sprachgefühl als Onomatopöien erschienen, etymologisch bis auf eine Stufe zurückverfolgt wurden, auf welcher der Klang diesem Gefühle nicht mehr entsprach. So hören wir bei dem Worte "rollen" eine Klangnachahmung (einerlei ob die eines Schalls oder die einer sichtbaren Bewegung). Aber diese Onomatopöie erweist sich als eine sehr späte Gedankenassoziation, sobald wir erfahren, daß  rollen  (französisch rôle) ein lateinisches Lehnwort ist, früher  rottel  hieß, von  rotula  herkommt, Papierrolle, Liste, Urkunde bedeutet. Dieses  rotula  kommt von  rota,  dem deutschen "Rad". Wir haben also anstatt des Klanges "rl" jetzt den Klang "rd". So schiebt alle Etymologie die Klangnachahmung in eine Zeit zurück, von welcher wir nichts wissen. Wir wissen nicht, ob das entsprechende Sanskritwort  ratha  zur Zeit, als Sanskrit noch eine lebende Sprache war, als Klangnachahmung empfunden wurde. Es ist also historisch, wie wir von der Etymologie überhaupt wissen, mit der Onomatopöie für den Ursprung der Sprache nichts anzufangen.

Gibt es aber überhaupt keine echte, gibt es nur eine metaphorische Onomatopöie, so liegt die Sache noch einfacher. Angenommen es hätte ein Mensch in irgend einer Urzeit die rollende Bewegung eines runden Kiesels am Meeresstrande wirklich mit einer Klangnachahmung bezeichnet, angenommen, er hätte dabei (was mir sehr zweifelhaft ist) gerade die zitternde Bewegung der Zunge bei der Aussprache des  r  benutzt. Auch dann wäre doch die Nachahmung des Rollgeräusches durch das  r  keine wirkliche Schallkopie gewesen, sondern nur ein Bild. Der rollende Kiesel macht in Wirklichkeit weder r noch  d  noch  l.  Jener angenommene Urmensch assoziierte aus irgend einem Grunde, den wir einen zufälligen nennen müssen, den gewählten oder unwillkürlichen Laut mit der rollenden Bewegung. Es würde also selbst dann, wenn wir irgend ein einziges Wort der Welt oder meinetwegen alle Sprache auf solche Klangnachahmungen zurückführen könnten, für den Ursprung der Sprache auch nicht das Geringste erklärt sein. Wieder wird die Frage nur zurückgeschoben. Sie lautet in bezug auf den Ursprung: Wie war es möglich, die Vorstellung oder die Erinnerung von Sinneseindrücken, sichtbaren oder hörbaren, an artikulierte Laute zu knüpfen? Besäßen wir nun eine nachweisbare Onomatopöie oder besäßen wir tausende, so hätten wir dieselbe Frage aufs neue zu stellen: Wie war es möglich, den Schall in der Natur mit diesem oder jenem artikulierten Laute zu assoziieren? Zu diesem Bekenntnis des Nichtwissens müßten wir gelangen, auch wenn wir noch Lautgruppen erhalten hätten aus der Zeit der Sprachentstehung. In Wahrheit aber ist von solchen Lauten doch ganz gewiß heute oder im Sanskrit auch nicht die leiseste Spur mehr vorhanden, nicht mehr als von der Bewegung eines Regentropfens, der vor hunderttausend Jahren einem grasenden Mammu auf den Rücken fiel.

Wenn nun eine wirkliche Klangnachahmung gar nicht vorkommt, wenn die seltenen, sich dem Bewußtsein als solche aufdrängenden Onomatopöien wirklich nur metaphorische Klangnachahmungen sind, wenn hinter allen ähnlichen Worten schließlich etwas steckt, was wir unter den Begriff der Volksetymologie bringen können, so sollte man glauben, daß das für den Gebrauch der Sprache dieselbe Wirkung hätte, als ob diese Worte durch echte Klangnachahmung entstanden wären. Das ist auch ganz richtig, insofern durch diese Klanggewohnheit, die wir eben in den erweiterten Begriff Volksetymologie aufnehmen, jedes Wort einen Gefühlston erhält, der durch den seit der Kindheit geübten Klang ausgelöst wird. Man irrt nur, wenn man diesen Gefühlston auf die Worte einschränkt, die den Eindruck von Klangnachahmungen machen. In dem Satze "Die Schwalbe zwitschert" malt das Wort "Schwalbe" uns das bezeichnete Tier nicht anders als das Wort "zwitschert" das bezeichnete Geräusch. Jedes geläufige Wort hat diesen Gefühlston und muß ihn haben, wenn wir sollen sprechen können. Dieser Gefühlston ist nichts anderes als der psychologische Ausdruck für die enge Verknüpfung von Vorstellung und Wort, für die physiologische Tatsache, daß irgendwo die Nervenbahnen der Sinneseindrücke und die Nervenbahnen der Sprachbewegungen miteinander in Verbindung stehen - für die "innere Sprachform".

Dieser Gefühlston entsteht also durch die gemeinschaftliche Einübung der beiden Nervenbahnen oder - wie man bequem sagen kann - durch den Gebrauch des erlernten Wortes. Dieser Gefühlston erzeugt aber auch den Gebrauch in dem andern Sinne, in welchem wir von Sprachgebrauch reden. Ich glaube nicht, daß es eine Wortspielerei sei, wenn man diese Tatsache in dem scheinbar logisch unmöglichen Satze zusammenfaßt: der Gebrauch erzeugt den Gebrauch. Man könnte dafür sagen: die Einübung oder die häufige Wiederholung erzeuge den Sprachgebrauch; dabei würde aber gerade das interessante Moment verdunkelt werden, daß wirklich die Einübung etwas wie eine  causa sui,  eine Ursache ihrer selbst ist, das scholastische Monstrum, das dennoch in irgend welcher Gestalt bei SPINOZA, ja noch bei SCHOPENHAUER wieder auftaucht. Die Lösung des Widerspruchs scheint mir darin zu liegen, daß die Einübung des einzelnen Wortes in jedem einzelnen Menschen den Gefühlston erzeugt, den wir als eine natürliche Übereinstimmung zwischen dem bezeichnenden Laute und dem bezeichneten Gegenstande empfinden. Die Gemeinsamkeit der Einübungen bei allen Volks- und Dialektgenossen erzeugt dann wieder den Schein des Zwanges, den wir Sprachgebrauch nennen. Es liegt in diesem Gefühlstone immer ein volksetymologischer Zug, der sich bald bloß als Natürlichkeit der Muttersprache oder als Liebe zur Muttersprache, bald als eine Neigung kundgibt, die Entstehung der Muttersprache scheinbar zu verstehen. Wo dann das Wort entweder durch metaphorische Klangnachahmung entstanden ist oder wo ein anders gewordenes Wort sich bis zum Scheine der metaphorischen Klangnachahmung abgeschliffen hat, da; zwingt uns unbewußte Volksetymologie, an eine echte Klangnachahmung zu glauben.

HUMBOLDTs viel umstrittener und doch brauchbarer Begriff "innere Sprachform" machte auf den Leser vielleicht zunächst einen kläglichen Eindruck, als ich ihn mit dem ganz banalen Begriffe des Sprachgebrauchs identifiizierte. Sehen wir aber hier, daß der Sprachgebrauch aufs engste mit der unbewußten Volksetymologie und mit dem Gefühlstone der Wörter zusammenhängt, so wird diese Gleichsetzung weniger Anstoß erregen. Wenn wir "Schlange" sagen, wo der Römer "serpens" sagte, wenn wir also den Namen von dem Sinneseindruck des Ringelns, die Römer ihn von dem Sinneseindruck der kriechenden Bewegung nehmen, so hat der Römer wie der Deutsche dabei das ganz naive Gefühl, das Tier richtig bezeichnet zu haben. Die innere Sprachform HUMBOLDTs ist die Hervorhebung eines einzigen Merkmals an einem Gegenstande, der doch der Sprache mehrere Merkmale zur Verfügung gestellt hätte. Dieses naive Gefühl der Richtigkeit des Ausdrucks ist die innere Sprachform, ist aber auch nichts als der Sprachgebrauch mit dem Werte, den die Volksetymologie ihm gibt. Wenn STEINTHAL die innere Sprachform sehr gezwungen als "Anschauung der Anschauung" erklärt, so ist das nichts als eine scholastische Bezeichnung für den Gefühlston, den wir den Worten unserer Muttersprache beilegen, für die kindliche Überzeugung, unsere subjektive Anschauung sei die richtige.

Lesen wir ästhetische Schriften des 18. Jahrhunderts, so kehrt die Grundanschauung immer wieder, daß die Poesie oder die Wortkunst in Nachahmung der Wirklichkeit bestehe; LESSINGs Laokoon ist nur die tiefsinnigste Untersuchung, welche auf diesem alten Irrtum beruht. Gerade aus LESSINGs Laokoon erkennen wir aber deutlich, wie sehr der Glaube, es sei die Sprache eine Schallnachahmung der Wirklichkeit, mit diesen aristotelisch-französischen Lehren von der nachahmenden Dichtkunst verquickt war.

Unsere Annahme, daß die ursprünglichen Worte nur aus einer Situation heraus verständlich waren, nur auf einen besonderen Punkt des Bildes hinwiesen, mit Hilfe dieses Punktes an das ganze Bild zu erinnern suchten, unsere Behauptung ferner, daß auch die ausgebildete Sprache nicht mehr leiste als die Wachrufung von besonders belichteten Erinnerungsbildern, führt uns wieder auf einem anderen Wege zu der Erkenntnis, eine wie große Überschätzung der Sprache auch in der Nachahmungstheorie der Ästhetiker enthalten war. Nur müssen wir dazu noch tiefer graben, als es WEGENER getan hat.

Wir müssen uns nämlich ins Gedächtnis zurückrufen, daß es doch nur relativer Zufall war, wenn die menschliche Sprache als Lautsprache sich entwickelte, wenn die Erinnerung an die Eindrücke aller unserer Sinne an hörbare Zeichen geknüpft blieb. Die letzte Tatsache unserer Psychologiekritik, daß schließlich sogar unsere Sinne selbst Zufallssinne sind, würde hier in das graue Elend der Sprachverzweiflung führen.

Die Hörbarkeit der Menschensprache, daß wir also hörbare und nicht sichtbare Zeichen verwenden, ist ebenso nützlich für die Beziehung der redenden Menschen untereinander, als sie schädlich ist für die Beziehung des Menschen zu der beredeten Wirklichkeitswelt. Die in einer Lautsprache redenden Menschen können sich auf weitere Entfernung miteinander unterhalten, als sie es (bei der notwendigen Feinheit der AusdrucksmitteI) durch eine sichtbare Sprache, durch Mienenspiel oder Fingerbewegung tun könnten. Aber anderseits dringt das Auge viel weiter als die menschliche Stimme. Der Mensch sieht die Bewegungen der Sterne, aber hört die Sphärenharmonie nicht; er sieht auch auf der Erde noch Bäume, Menschen und Tiere, deren Rauschen, deren Sprechen, deren Laute er nicht vernehmen kann. Wenn nun schon die Schall nachahmung ohnehin auf den geringen Teil der Natur sich beschränkt haben müßte, der von selber tönt, so wäre sie innerhalb dieses Teils auch noch auf nahe Naturgegenstände beschränkt gewesen.

Nun wissen wir, daß alle unsere zahlreichen Onomatopöien metaphorisch zu erklären sind. Eine scheinbare Ausnahme bilden nur die Fälle, in denen ein Mensch nach seinem Lieblingsworte benannt worden ist, wie wenn BLÜCHER der MARSCHALL "Vorwärts" heißt. Es ist aber ein Unterschied zwischen dem Eigennamen "Vorwärts" und etwa einem angeblich schallnachahmenden Gattungsnamen wie die Worte Wauwau, Kikeriki usw. in der Kindersprache. Eigennamen nach Lieblingsworten gehen aus einer Neckerei hervor; zwischen der Nachahmung aus Neckerei und dem Worte Kikeriki als Gattungsnamen besteht aber eine gewaltige Kluft, die sprachloses Spiel von der Sprache trennt.

Man achte auf die Kinder. Wenn ein Knabe keine andere Absicht hat, als einen Hahn zu necken und etwa mit ihm um die Wette zu krähen, so ahmt er den Hahnenschrei wirklich und möglichst natürlich nach; wenn er den Begriff Hahn bezeichnen will, so kräht er nicht, sondern gebraucht das artikulierte Wort Kikeriki. Wir wissen, daß diese Lautform erst in jüngster Zeit entstanden ist; im 18. Jahrhundert sagte man Kikri und glaubte den Hahnenschrei so zu hören; im 16. Jahrhundert hieß die Schallnachahmung gar Tutterhui.

Ein Spiel zwischen dem Kinde und dem Hahn können wir uns als auf Schallnachahmung beruhend denken; denn der Hahn soll durch das natürliche Kikeriki nicht an etwas erinnert werden, er soll unmittelbar getäuscht werden. Sprache aber ist etwas zwischen den Menschen, und sprechende Menschen wollen einander zunächst nicht täuschen, wollen einander an gemeinsame Wahrnehmung erinnern. Wollte ein Mensch den anderen an das Gesamtbild eines Hahnes erinnern, so wäre z.B. ein natürliches und musikalisches Krähen nicht nur unbequem; eine Durchführung dieses Sprachprinzips wäre trotz der Begabung des Menschen für Nachäfferei undurchführbar. Und eine Artikulation des Hahnenschreis würde wieder nicht zum Ziele führen, wenn der eine Mensch den Schrei als Kikri, der andere als Tutterhui artikulieren würde. Es ist also die wahre Nachahmung nicht eine Nachahmung der Wirklichkeitswelt, sondern eine Nachahmung zwischen den Menschen, welche allerdings sofort zur Sprache fährt.

Wenn ein Kind weint, so wird sein etwas boshafter Genosse durch naturalistische Nachahmung dieses Weinens es zu verhöhnen scheinen und ganz sicher den Schmerz des weinenden Kindes dadurch steigern. Tritt aber die Mutter hinzu und legt in ihre Stimme den konventionell weinerlichen Ton, den wir "mitleidig" zu nennen pflegen, so wird das weinende Kind dies als eine Antwort auf seine Schmerzäußerung empfinden und sich beruhigen. Die naturalistische bewußte Nachahmung wird niemand Sprache nennen; sie führt zum Gegenteil einer Verständigung. Die konventionelle Nachahmung zwischen den Menschen ist Sprache.

Die Psychologie der Nachahmung ist noch nicht erforscht. Da alle Wahrnehmung irgendwie psychische Tätigkeit ist, wäre es Aufgabe der Physiologie, die Analogie aufzufinden, welche irgendwo zwischen der Tätigkeit bei Gesichtswahrnehmungen und der Tätigkeit bei Gehörwahrnehmungen besteht. Diese wahrscheinliche Ähnlichkeit ist uns verborgen. Der Unterschied springt in die Augen. Nichts drängt uns, die mikroskopischen Atombewegungen nachzuahmen, welche wir als Farben empfinden. Wohl aber existiert ein unwiderstehlicher Drang, die gröberen Bewegungen nachzuahmen, welche wir als Töne empfinden. Das Vorhandensein von Bewegungsgefühlen beim Hören und beim artikulierten Denken, wie man ein gewisses scharfes inneres Sprechen nennen könnte, ist bekannt. Erzeugt die Sprachbewegung des einen Menschen eine noch so leise identische Sprachbewegung beim anderen Menschen, so ist damit die ferne Möglichkeit gegeben, die soziale Macht der hörbaren Sprache aus natürlichen Bedingungen zu erklären.

So sehr ich in diesen Untersuchungen mich bemühe, ethischen Problemen aus dem Wege zu gehen, so kann ich an dieser Stelle doch nicht unterlassen, auf die mögliche Rolle hinzuweisen, welche die Sprache und der Gehörsinn überhaupt bei dem Übergang egoistischer oder selbstischer Gefühle zu altruistischen oder nächstischen Gefühlen spielen mag. Und die Macht der nächstischen Gefühle bei der scheinbaren Alleinherrschaft der selbstischen Gefühle zu erklären, dürfte doch wohl. die ernsthafteste Pflicht der Ethik sein. Nur ganz flüchtig möchte ich darauf hinweisen, daß z.B. beim Anhören von Schmerzenslauten wir uns nicht damit begnügen, zu hören, daß der Ton vielmehr in uns die Bewegungsgefühle der Schmerzenslaute auslöst, wenn es auch selten zu hörbaren Nachahmungen kommen mag, und daß bloß durch diese innere Nachahmung der Bewegungsgefühle das große Mysterium des Mitleids einigermaßen aufgehellt wird, ohne daß wir mit SCHOPENHAUER das neue Mysterium der Identität aller Wesen zu Hilfe zu nehmen brauchen.

Der innere Vorgang mag in feinerer Weise der Nachahmung ähnlich sein, mit welcher wir uns unwillkürlich einen heftigen Ruck geben, sobald wir einen anderen Menschen plötzlich stürzen sehen. Der nachahmende Ruck kann so stark sein, daß wir darüber selbst ins Straucheln geraten oder fallen. Mitleid ist ein bequemer Schmerz; so kann der Spaziergänger, wenn ein Vorübergehender plötzlich stolpert und fällt, zunächst den sympathetischen Ruck empfinden und nachher dennoch über den Gestürzten lachen. Noch schwerer zu entwirren ist die Mischung von Lust- und Unlustgefühlen bei dem künstlichen und vielleicht künstlerischen Mitleid, das eine Tragödie in uns erregt. Vielleicht darf ich dafür an die merkwürdige und kaum schon psychologisch beschriebene Spannung erinnern, mit welcher wir die lebensgefährlichen Spiele eines Seiltänzers betrachten; die Spannung wächst um so höher, behagliche Bewunderung und bequemes Gruseln mischt sich um so mehr, je waghalsiger der Seiltänzer ist. Jeder temperamentvolle Zuschauer fühlt die Bewegungsgefühle, mit welchen er sich bei jedem gefährlichen Schritte des Seiltänzers den entsprechenden rettenden Ruck geben möchte; er ahmt innerlich die Bewegungen nach, die dem Spieler da oben nützlich sind.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906