cr-3Nominalismus 
 
FRITZ MAUTHNER
Eigennamen
II-31

"Wirklich sind doch nur die tönenden Worte, wie sie ein einzelner Mensch in einem bestimmten Augenblicke, unter bestimmten Umständen ausspricht."

Das Kind bezieht jedes neu gelernte Wort zunächst auf das Individuum in seiner Umgebung; der Wauwau ist sein Wauwau, das Töpfchen ist sein Töpfchen. Es gibt aber eine sehr häufige entgegengesetzte Beobachtung, daß das Kind nämlich außerordentlich lebhaft generalisiert. Hat es das Wort Papa gelernt, so ruft es jeden Mann Papa an; TAINE erzählt von einem einjährigen Mädchen, es habe eine Zeitlang jedes Bild im Rahmen  bébé  (Schoßkind) genannt, weil es das Wort zuerst auf das Bild eines nackten Jesuskindleins angewandt hörte.

Doch der Schluß von der Kindersprache auf die Entstehung der menschlichen Sprache ist umso gefährlicher, als wir die Vorstellungen des Kindes nicht kennen, ganz abgesehen davon, daß das Kind die Wortschälle vorgesagt erhält und sich ihre Definition aus eigenem Wissen bilden muß. Es wird also schwer zu unterscheiden sein, ob das Kind das neue Wort Papa zunächst als Eigennamen seines Vaters auffaßt und nachher, von seinem geringen Unterscheidungsvermögen unterstützt, generalisiert, oder ob es das Wort sofort als Gattungsnamen für Geschöpfe mit Bart, kurzen Haaren, Hosen usw. aufgefaßt hat.

Es war darum nur in einer fast vorpsychologischen Zeit ein Fortschritt, als LOCKE und nach ihm ROUSSEAU die Entstehung der Sprache so konstruierten, als ob jeder Gattungsname vorher ein Eigenname gewesen sein müßte. Der außerordentliche Fortschritt scheint mir darin zu bestehen, daß diese Vorstellungsweise zum ersten Male dem gefährlichen mittelalterlichen Wortrealismus ein Schnippchen schlug, daß der einst ketzerische Nominalismus dadurch seine verständlichste Begründung erhielt. Für uns ist der Wortrealismus kein schreckhaftes Gespenst mehr, und so fühlen wir uns nicht mehr getrieben, die Sprache empirisch mit unzähligen Worten für unzählige Individuen beginnen zu lassen. Psychologie und Sprachwissenschaft lehren uns vielmehr, in den Eigennamen spätere Bildungen zu sehen.

In der Sprachwissenschaft leiten uns dahin sowohl historische als vorhistorische Annahmen. Die historischen Tatsachen der Etymologie lassen uns keinen einzigen Eigennamen entdecken, der sich nicht auf Tiernamen, Eigenschaften usw. oder auf Zusammensetzungen zurückführen ließe oder zu einer solchen Zurückführung nicht herausforderte. Es ist ja richtig, daß nachher wieder die Eigennamen metaphorisch zu Gattungsnamen wurden, daß CÄSAR zum Titel der Kaiser und Zaren, daß die Eigennamen von Köchen zu Gattungsnamen von Saucen wurden; das gehört aber in das Gebiet des Bedeutungswandels überhaupt. Und was wir nun gar sprachwissenschaftlich über den Ursprung der Sprache als wahrscheinlich ausgemacht betrachten, das verbannt die Eigennamen vollends aus der Urzeit. Wenn sich aus den Urschreien zunächst nur Zeichen für Empfindungserinnerungen, also etwa Eigenschaftswörter entwickeln konnten, so waren das von unserem Standpunkt noch weitere Generalbegriffe, als unsere Gattungsnamen es sind.

Zu dem gleichen Ergebnisse kommt zunächst auch die psychologische Betrachtung. LOCKE dachte sich die Sache noch so, daß der menschliche Verstand die Namen ähnlicher Dinge durch bewußte Vergleichung der Ähnlichkeit abstrahiert habe. Mit dieser Tätigkeit der Abstraktion wissen wir nichts mehr anzufangen. Wir glauben vielmehr, daß wir beim jedesmaligen Anwenden eines Wortes auf einen neuen Gegenstand mehr oder weniger unbewußt handeln, daß wir das gleiche Wort eigentlich auf die gleiche Sache auszudehnen vermeinen. So lange eine Metapher (wie bei dem Dichter) bewußt als eine bloße Vergleichung gebraucht wird, so lange gehört sie noch nicht der Sprache an; der Bedeutungswandel, die Bereicherung des Sprachschatzes beginnt mit dem Unbewußtwerden der Metapher. Es ist begreiflich, daß die unendlich weiteren Worte uralter Sprachzeiten diese unbewußte Aufnahme ähnlicher Objekte noch leichter vornehmen konnten, wie denn auch die Kinder gleichsetzen, was wir nur ähnlich finden.

Wenden wir diese Erkenntnis auf eine Zeit des Sprachursprungs an, so wird uns die Frage nach der historischen Stellung der Eigennamen wieder einmal zu einem bloßen Wortstreit. Stellen wir uns die sprachschöpfenden Menschen einer Urzeit, wie es sich gehört, in der umgebenden Natur wie in einer Kinderstube vor. Bricht nun der hundertjährige Großvater, nach jahrzehntelangem Sinnen über die Erscheinung, eines Abends beim Aufgehen des Mondes in den genialen Ruf aus: "da", so hat er vielleicht mit diesem Genus generalissimum einen Eigennamen gemeint, den als lebende Person vorgestellten Lichtträger am Himmel. Vielleicht. Vielleicht hat er bereits eine Ähnlichkeit mit der Sonne und mit anderen Sternen wahrgenommen und nur sagen wollen, daß "da" etwas Leuchtendes sei. Hat nun sein begabter, wenn auch nicht so genialer Sohn in dieser urweltlichen Kinderstube den Ruf gelernt und aufgefaßt, nennt er am nächsten Abend das brennende Feuer vor der Höhle "da", so hat der Sohn doch nicht einen Eigennamen generalisiert, sondern in der gleichstellenden Vergleichung zwischen Mond und Feuer bloß einen Irrtum begangen. Einen der unzähligen Irrtümer der Vergleichung, durch welche die Sprachen gewachsen sind. Hat nun aber umgekehrt der sprachschöpferische Geist zuerst das Feuer "da" genannt und hat der Sohn dieses Wort am nächsten Abend auf den Mond angewandt, so könnte doch nur ein Pedant darin die entgegengesetzte Entwicklung sehen: den Übergang vom Gattungsnamen zum Eigennamen. In beiden Fällen war es doch nur die Eigenschaft des Leuchtens, die mit dem Rufe "da" gemeint war.

Noch am Tage vor der Sprachschöpfung hat der Greis vielleicht nur mit dem Finger auf das Licht gewiesen, und dieses Weisen war doch weder ein Eigenname noch ein Gattungsname. Wir können den Vorgang am besten so begreifen, wenn wir es der psychologischen Situation bei Sprecher und Hörer überlassen, ob ein Individualbegriff oder ein Gattungsbegriff vorgestellt war. Klarheit darüber gab es in dieser urweltlichen Kinderstube nicht. Hätte der Greis nach langem Sinnen ungefähr sagen wollen, daß da eine und dieselbe individuelle leuchtende Scheibe aufsteige, so wäre es nach unserer Sprache mehr ein Eigenname gewesen; hätte er mehr andeuten wollen, daß da schon wieder etwas leuchte, so wäre es nach unserem Sprachgebrauch mehr ein Gattungsname gewesen. Ebenso wäre bei dem hörenden und lernenden Sohn die Frage entscheidend, welcher Gruppe von bereits vorhandenen Vorstellungen er die neue Beobachtung des leuchtenden Mondes oder Feuers assimilierte. Für die Zeiten des Sprachursprungs muß es von der psychologischen Stimmung abgehangen haben, ob so ein Hinweis oder so ein Ruf mehr oder weniger individuelle Bedeutung hatte; nicht als Lösung der Frage, sondern nur als ein sehr allgemeines Beispiel aller psychologischen Möglichkeiten möchte ich den Satz aufstellen: die zusammenhanglose Beobachtung hat mehr den Charakter des Eigennamens, die Apperzeption derselben Beobachtung, ihre Assimilierung macht sie mehr zum Gattungsnamen. Man könnte da sehr scharfsinnig tun und sagen: Eigennamen seien außersprachlich, weil sie vor der Apperzeption liegen und Apperzeption erst Erweiterung des Denkens oder der Sprache ist. Aber im Grunde können wir mit unserer Psychologie an die Psychologie der urweltlichen Kinderstube nicht heran, wie wir eben auch nicht wissen, ob das Kind das Wort Papa individuell oder generell verstehe.

Wir brauchen uns nur darauf zu besinnen, daß für uns die menschliche Sprache, ja selbst die einzelne Volkssprache und jede ihrer Mundarten ein unwirkliches Abstraktum ist, daß wir es in unserer Kritik nur mit Individualsprachen, das heißt mit den Sprachgewohnheiten einzelner Menschen zu tun haben, um einen freieren Standpunkt gegenüber der sogenannten Sprachschöpfung zu gewinnen. Die Entstehung der Sprache ist um nichts schwerer, aber auch um nichts leichter zu erklären als die Entstehung irgend eines lebendigen Wesens auf der Erde. Um aber diese Gleichung ernsthaft überlegen zu können, müssen wir in unserem Verzicht auf Abstraktionen noch einen Schritt weiter gehen und uns erinnern, daß die Individualsprachen nur verhältnismäßig konkrete Einheiten sind, wenn man sie nämlich dem wüsten Begriff "menschliche Sprache" gegenüberstellt; daß aber die Individualsprachen, nimmt man es mit der Wirklichkeit genau, doch nur wieder Abstraktionen sind. Wirklich sind doch nur die tönenden Worte, wie sie ein einzelner Mensch in einem bestimmten Augenblicke, unter bestimmten Umständen ausspricht. Nur diese tönenden Worte können mit wirklichen lebendigen Wesen verglichen werden; die Individualsprachen entsprechen doch nur dem engsten Artbegriff der lebendigen Wesen.

Die Entstehung eines solchen lebenden Einzelwesens, eines Organismus, beschreibt man gegenwärtig als eine Wirkung von zwei Ursachen, die einander in einem gewissen Sinne widersprechen: man beschreibt oder erklärt sie durch Erblichkeit und Anpassung. Als die treibenden Ursachen in der Sprachentwicklung werden wir jetzt schon die Metapher und die Analogie vermuten; und wir können jetzt sagen, daß beide sich unter dem Begriff der Ähnlichkeit zusammenfassen lassen. Die metaphorische Veränderung der Worte beruht darauf, daß wir mit bewußter Phantasietätigkeit ein Wort gebrauchen für ein Ding, das der bisherigen Bedeutung des Wortes nur ähnlich war. Die analogische Bereicherung der Sprache beruht darauf, daß wir mit unbewußter Phantasietätigkeit eine Gruppe von Dingen unter einem Worte begreifen, die uns gleich zu sein scheinen, in Wahrheit aber nur ähnlich sind. Eine Metapher ist anfangs immer eine Analogiebildung ohne Selbsttäuschung. Auf der Hervorhebung von Ähnlichkeiten und auf dem Übersehen von Unähnlichkeiten hat sich die menschliche Sprache aufgebaut.

Auf den ersten Blick scheint das in der Vererbung der lebendigen Natur ganz anders zu sein. Unter Erblichkeit sind wir geneigt einen schablonenhaften Vorgang zu verstehen, bei welchem der Tochterorganismus dem Mutterorganismus nicht etwa bloß sehr ähnlich, sondern völlig gleich ist. Wer mir diese Selbsttäuschung bestreiten wollte, der achte nur einmal auf sein stilles Denken. Es ist ja gerade der Begriff der Anpassung zur Hilfe genommen worden, um aus Zeit und Umständen die Änderungen im Tochterorganismus zu erklären. Diese Änderungen erst verwandeln die Gleichheit zu einer bloßen Ähnlichkeit. Suchen wir die Auffassung recht scharf zu fassen, so muß auch die allerminimalste Abweichung vom Mutterorganismus durch Anpassung erklärt werden. Es bleibt also auch bei dieser Betrachtung für die Vererbung nur die völlige Gleichheit übrig. Da es nun in der Natur eine mathematische Gleichheit zwischen Tochterorganismus und Mutterorganismus nicht gibt, so werden wohl Vererbung und Anpassung auch nur zwei Abstraktionen sein, in welchen wir unbehilflich genug den wirklichen Vorgang auseinanderspalten. Und der Begriff "Vererbung", wie er denn auch eben der Sprache angehört, wird uns nur zu einem neuen Beispiele dafür, daß wir Ähnlichkeiten unter dem Schein der Gleichheit zusammenzufassen pflegen.

Aus dem Gesagten wird es verständlich sein, warum wir keinen Gegensatz mehr sehen zwischen Vererbung und Anpassung als den Ursachen eines lebendigen, wirklichen Einzelorganismus und zwischen Metapher und Analogie als den Ursachen jedes wirklich ausgesprochenen Wortes einer Individualsprache. Wir können recht gut die geheimnisvolle Vererbung in beiden Fällen vorläufig ausscheiden und werden sogar bei der künstlichen Zuchtwahl der Gärtner und Viehzüchter einen Vorgang beobachten können, der mit der bewußten Analogiebildung, der Metapher, einige Ähnlichkeit aufweist.

Die Einwirkung der beiden Formen der Ähnlichkeit auf den Bedeutungswandel der Worte läßt sich in den lebenden Sprachen und in den paar Jahren, die wir ihre historische Zeit nennen, Schritt für Schritt nachweisen. Aber die Sprachwissenschaft schreckt immer wieder davor zurück, die gleichen Mächte als wirksam zu erkennen auch bei der Entstehung der Sprache, auch in irgend einer willkürlich angenommenen Urzeit. Es scheint fast, daß im Gehirn auch der aufgeklärtesten Männer die biblische Schöpfungsgeschichte irgendwie als Hemmung nachwirkt. In der Sprachwissenschaft stärker als in der Biologie, wo doch wenigstens heute (mehr durch Ahnungen als durch Beweise) die Entstehung der gegenwärtigen Lebewelt aus einem noch undifferenzierten Organismus gelehrt wird. Auch die Biologie freilich stellt sich die scholastische Frage: wie denn das erste Protoplasma-Atom entstanden sein möge; aber die Biologie scheut wenigstens nicht davor zurück, von dieser willkürlich angenommenen Urzeit ab ein natürliches Schema der Entwicklung aufzustellen oder zu suchen. Noch nennt sie diese Lehre nicht "die Enstehung der Individuen", noch nennt sie sie "die Entstehung der Arten"; aber sie sieht es für selbstverständlich an, daß die heute wirkenden Ursachen auch in jener Urzeit gewirkt haben.

Nichts von dieser Freiheit nehmen wir in der Sprachwissenschaft wahr. Sie hält ihr bißchen Etymologie für Sprachweisheit; das ist, als ob die Naturwissenschaft unsere Rinder bis auf die Rinder der ägyptischen Hieroglyphenbilder zurück verfolgen wollte, die ägyptischen Rinder aber nach der biblischen Legende geschaffen sein ließe. Es ist wahr, daß die Sprache imstande ist, künstlich neue Worte zu bilden, was sie scheinbar von der lebendigen Natur unterscheidet. Aber diese künstlichen Neubildungen sind doch immer aus dem alten Sprachstoff hervorgegangen, sind schließlich ohne Ausnahme Metaphern, Analogien, Entlehnungen oder doch wenigstens Zusammenstellungen vorhandener Laute; sie sind also keine Gegeninstanz gegen die Ähnlichkeit zwischen Sprachentwicklung und der Entwicklung des Lebens auf der Erde.

Nun haben solche Wirkungen der Metapher und der Analogie die Sprache immer weiter entwickelt, so weit wir auch das bißchen Geschichte irgend zurückverfolgen können. Warum soll das in der vorhistorischen Zeit anders gewesen sein? Ich gestehe, daß ich es mir mit aller Mühe gar nicht anders vorstellen kann. Viel eher kann ich mir denken, daß die Aufstellung von sogenannten Sprachwurzeln, wie im Sanskrit und in den semitischen Sprachen, selbst wieder eine Modelaune der Analogietätigkeit war. Meine Phantasie sieht nicht die kleinste Schwierigkeit darin, in irgend einer, über alle Begriffe zurückliegenden Zeit den Warnungschrei einer Menschenhorde anzunehmen, der noch gar nicht in unserem Sinne artikuliert war, und der dennoch durch Höhe, Stärke, Wiederholung und andere Differenzen das Ausdrucksmittel für Warnungen vor verschiedenen Gefahren werden konnte.

Der "unartikulierte" Warnungschrei einer bestimmten Horde konnte also durch Neuschöpfung schon zum sprachlichen Ausdrucksmittel z.B. für einen Löwen, eine Schlange, einen Regen oder einen Feind werden. Dieser Feind, die benachbarte Horde, hatte sicherlich einen anders klingenden Warnungschrei, der seinerseits wieder auch noch nicht in unserem Sinne artikuliert war. Wollte nun der Führer der ersten Horde das Herannahen der zweiten Horde melden, so wiederholte er gewiß deren Warnungschrei; dieser wurde also zum Namen der anderen Horde. Wir haben demnach hier in einem sehr wahrscheinlichen, an der Grenze der Sprachentstehung gedachten Falle bereits die wirkenden Ursachen der heutigen Sprachentwicklung beisammen: Metapher, Analogiebildung und Entlehnung von Fremdwörtern.
rückerLITERATUR - Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache II,
Zur Sprachwissenschaft, Stuttgart/Berlin 1906